Archiv der Kategorie: Sprache

Verbrechen an der Sprache des Verbrechens

Die Verben im Wortfeld „Erpressung“ scheinen einige professionell Schreibende durchaus vor Herausforderungen zu stellen. So las ich vor einiger Zeit in einem Artikel über Hackerangriffe:

The idea of someone hacking your laptop camera, spying on you and then blackmailing you into releasing the footage publicly might sound like a cliche Hollywood plot, but it’s not as impossible as you may think.

Da möchte ich widersprechen: Dieses Szenario klingt überhaupt nicht klischeehaft, sondern im Gegenteil höchst avantgardistisch. Die Hackenden zwingen mich, das Videomaterial selbst zu veröffentlichen? Das ist ein Plot voller Rätsel: Wie wollen sie mich dazu zwingen? Und warum machen sie sich die Mühe, mich heimlich zu filmen, wenn sie mich doch eh zu ihrem Handlanger machen?

Aber solche Filme scheint es tatsächlich zu geben, zumindest laut Moviepilot. Da heißt es über den Film Apostle:

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reist Thomas (Dan Stevens) auf die abgelegene Insel eines geheimnisvollen Kults, um seine Schwester Jennifer (Elen Rhys) zu befreien: Die wurde von Mitgliedern des Kults entführt und soll gegen Lösegeld freigepresst werden.

Der Kult möchte also sich selbst dazu zwingen, Jennifer freizulassen – das hätte sich weder Kafka noch Beckett schöner ausdenken können. Wiederum bleibt im Dunkeln, worin die Drohung besteht, die die Verbrechenden in diesem Fall ja gegen sich selbst aussprechen müssten. Auch erfahren wir nicht, wer wem ein Lösegeld zahlen soll.

Schöne Bigramme (3)

Was bisher geschah: Schöne Bigramme, Schöne Bigramme (2)

Sie ist gerade nicht da, aber ich nehme schöne Grüße zurück vorweg.

Ich hatte schon noch eine Wählscheibe, bevor das cool war.
https://twitter.com/texttheater/status/405732360030666752

Doch nie hatte ich so versagt wie bei „Feier des Lebens“, das zum Glück leider nicht erhalten ist.
http://texttheater.net/feier-des-lebens

Da wurde das Fleisch jäh zäh.

Wie naar Parkpop wil op zondag: let me know, dan kunnen we meteen meeten, kijk ernaar uit jullie allemaal weer te zien!!
http://nadineinfrankrijk.waarbenjij.nu/reisverslag/2544583/het-zit-erop

Therefore, henceforth, we discuss the task of mapping a sentence x ∈ X to a logical form z ∈ Z, where Z is the set of all logical forms.
http://www.aclweb.org/anthology/D15-1198

Eine Antwort zur Semantik

Lieber @Frachtschaden,

du schreibst von zwei Sätzen, die anscheinend verschiedene Bedeutungen haben, obwohl sie genau die gleichen Satzglieder haben (Prädikat wohnen, Subjekt Könige, Präpositionalobjekt in Palästen):

(A) Könige wohnen in Palästen
(B) In Palästen wohnen Könige

Es gibt für beide Sätze einige mögliche Lesarten. In den Lesarten, auf die du dich beziehst, sind die Sätze generische Sätze, die die Funktion von partiellen Definitionen haben (Krifka), also für eine Klasse von Dingen eine allgemeine Aussage trifft. Die beiden Lesarten, formal aufgeschrieben, sind damit:

(1) ∀x.(könig(x) → wohnt_in_palast(x))
(2) ∀x.(palast(x) → könig_wohnt_in(x))

Nun gilt laut Krifka (und ich meine, er hat Recht) für generische Sätze im Deutschen die Beschränkung, dass das Definiendum durch das Topik des Satzes ausgedrückt werden muss und das Definiens durch den Fokus.

Ferner gilt, wenn ich nicht irre, dass Satzglieder, die zum Fokus eines Satzes gehören, nur dann im Vorfeld stehen können, wenn sie einen Kontrastakzent tragen. Von einem Kontrastakzent würde man beim Lesen der Sätze, wie sie in (A) und (B) aufgeschrieben sind, nicht ausgehen, da nichts mit Sternchen, Unterstreichungen, Kursivschrift o.Ä. markiert ist und man auch keinen Kontext sieht (wie eine Frage oder eine dem Satz widersprechende Aussage), der einen Kontrastakzent rechtfertigen würde.

In (A) steht aber Könige im Vorfeld und kommt damit nicht als Teil des Fokus und Definiens in Frage, womit Lesart (2) ausscheidet. In (B) steht Paläste im Vorfeld und kommt damit nicht als Teil des Fokus und Definiens in Frage, womit Lesart (1) ausscheidet.

Insofern: Ja, die Satzstellung kann die Bedeutung verändern!

Tsait füür dii näächste rächtshraibreeform

Vän äs naach miir ginge, vürde dii rächtshraibung däs doitshen vii folgt reeformiirt: Ainz-tsuu-ainz-tsuuordnung tsvishen foneemen und grafeemen. Konzoonantenbuuchshtaaben nii dopelt. Ainfache vookaalbuuchshtaaben füür kurtse vookaale, dopelte füür lange. Tranzpaaräntere shraibung fon diftongen: <ai> shtat <ei>, <oi> shtat <eu>. Apshafung üüberflüsiger zonderveege bai deer shraibung fon konzoonanten: <ts> shtat <z>, <v> shtat <w> (diizes vird apgeshaft), <f> shtat <v>, voo fooneemish shtimloos (t.b. <foogel>), <v> shtat <f>, voo fooneemish shtimhaft (t.b. <fünv>, <fünver>), <z> shtat <s>, voo fooneemish shtimhaft (t.b. <hauz>, <hoizer>, aaber <has>, <hases>), <sh> shtat <sch>, <sht>/<shp> shtat <st>/<sp>, <kv> shtat <qu>, <ts> btv. <k> shtat <c>, <ks> shtat <x>; <i>, <j>, <ü> ooder <üü> shtat <y>. Apshafung deer groosshraibung fon noomiinaa. Diis ales hauptsächlich, um dii ortoografii laichter tsuu ärlärnen unt tsu ärkläären tsuu machen.

Things I learned about the Netherlands

In the Netherlands, people often introduce themselves with just their first names. Yet they seem to be unusually reluctant to write first names in full – the most commonly seen form in professional settings is the initial(s) of the first name(s) together with the full last name, such as H. Vossen or C.J.B. Jansen. When filling in your personal details on a form, you are not usually asked for your voornamen, but only for your voorletters. A measure against gender discrimination? In any case, as N. once observed, it leads to situations where you meet someone at an event, later get a list of participants but have no chance of finding him or her back because the only thing you know – the first name – does not appear on the list. And don’t think any of the initials will be the actual initial of the first name you heard: that is often a short form, e.g. Lex or Sander corresponds to the initial A – for Alexander.

The ability of the Dutch population to communicate in English is among the highest in Europe. Of course, Dutch English has its own characteristics. For example, the Dutch language has some terms that seem like internationalisms to many Dutch speakers, so they assume they will be understood in English as well. For example, they divide university subjects into the alfa branch (humanities), the beta branch (STEM) and the gamma branch (social sciences). Another example is the word horeca which is an abbreviation of hotel, restaurant, café and commonly used in Dutch when speaking about the catering industry. Another pet observation of mine: Dutch speakers tend to overuse the static passive in English (where it’s uncommon), e.g. the game is chosen instead of the game has been chosen or the game was chosen. This seems to be due to the fact that a form of zijn (“to be”) plus past participle is in Dutch the most common form to express the passive in the past: het spel is gekozen, even in situations where e.g. German would avoid the corresponding form, which would be classified as static passive. May we thus say that Dutch has a static passive and uses it a lot? Or should we say that the passive auxiliary geworden is usually dropped in the perfect tense?

As a final interesting piece of information, note that precipitation is so unpredictable here that people have little use for your traditional weather forecast. Rather, you use a live satellite cloud map in order to wedge your bicycle ride home from work into the gap between two showers.

Von Leuten, die sich entblöden bzw. nicht entblöden, der Sprache Vorschriften machen zu wollen

Immer mal wieder stolpert jemand darüber, dass die Wendungen sich entblöden und sich nicht entblöden dasselbe bedeuten. Zum Glück erklärt bereits Johann August Eberhards Synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache (hier: 17. Auflage, 1910) dieses Kuriosum ausführlich. Am tollsten ist aber, dass der entsprechende Artikel einen erregten, nichtendenwollenden Rant gegen sprachlichen Präskriptivismus enthält:

Selbst wenn aber auch die Annahme Grimms, daß in entblöden das ent- ursprünglich privativ sei, richtig wäre, so würde das doch nicht imstande sein, den gegenwärtigen Gebrauch von sich entblöden in der Bedeutung sich scheuen als falsch und unberechtigt erscheinen zu lassen. Wir haben häufig in unserer Sprache einen Bedeutungswandel, der oft so weit geht, daß die Bedeutung eines Wortes im Laufe der Zeit geradezu ins Gegenteil umgeschlagen ist; es sei hier nur an das Wort schlecht erinnert, das früher schlicht, glatt, gerade bedeutete, gegenwärtig aber nur noch als Gegensatz von gut verwendet wird (mit Ausnahme der formelhaften Wendung schlecht und recht). Wir können die alte Bedeutung von schlecht nicht auf künstlichem Wege wieder herstellen, und niemand wird diesen Versuch machen; wir beugen uns vielmehr dem allgemeinen Sprachgebrauch, der hier zugleich maßgebend für unser Sprachgefühl geworden ist, und genau in demselben Falle befinden wir uns der Wendung sich nicht entblöden (d. i. sich nicht scheuen) gegenüber. Überall, in ganz Deutschland, im Norden und Süden, im Westen und Osten gebraucht man diese Wendung in der genannten Bedeutung, unsere besten Dichter und Schriftsteller schreiben so, diese Wendung ist vollständig in unser Sprachgefühl übergegangen; da ist es ganz einfach die Pflicht der Wissenschaft, diese Wendung anzuerkennen, selbst wenn hier ein Bedeutungswandel vorläge. Es gibt in sprachlichen Dingen keine andere Autorität als die Sprache selbst; die lebendige Sprache schreitet in ihrer Entwicklung ruhig über das Ansehen auch des berühmtesten Sprachforschers hinweg und läßt sich nicht künstlich wieder in eine alte überwundene Form zurückdrängen. Es ist unerklärlich, wie man die Wendung sich nicht entblöden auf das Ansehen Grimms hin immer und immer wieder angreifen und tadeln kann, obwohl doch die lebendige Sprache uns täglich eines bessern belehrt und überhaupt kein wirklicher Grund vorliegt, der diese Wendung als tadelnswert erscheinen ließe. Gerade Jakob Grimm hat selbst am entschiedensten gegen eine solche Auffassung der Sprache, wie sie Adelung predigte, Verwahrung eingelegt. Sollen wir uns nun an den Buchstaben der Aufstellungen Grimms oder an den Geist seiner unsterblichen Werke halten? Ich glaube doch, daß allein das letztere Grimms würdig ist und daß sich die Sprache nicht nach der Sprachwissenschaft, sondern umgekehrt die Sprachwissenschaft nach der Sprache zu richten hat.

Lieblingswörter (10)

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Satan ist ein wunderbares Wort fürs Gemüt, denn es wirkt direkt aufs Zwerchfell. Das hat vermutlich etwas mit Tabus zu tun. Sein Effekt kommt zum Beispiel zum Tragen, wenn Max Goldt sich Begründungen für Benjamin von Stuckrad-Barres Marburger Rotweinwurf ausdenkt: «Satan hat mir befohlen, den ‹Kollegen Goldt› zu töten.» Oder wenn Gernot Hassknecht sich über Stromkonzerne aufregt: «Statt ihrem Gott, also Satan, auf Knien zu danken, dass sie noch nicht enteignet wurden, erfinden die Typen jetzt kackdreist drohende Blackouts.»

Kann eins also mit gekonnter Benutzung dieses Wortes angenehme Gemütszustände hervorrufen, so kann eins dies auch tun, indem es Gemütszuständen mit den richtigen Wörtern Ausdruck verleiht. Wenn eins etwa anmeldet, auf etwas erpicht zu sein, zugibt, angesichts einer Nachricht frohlockt zu haben, oder etwas grässlich zu finden, wenn eins ankündigt, Dinge, die einen stören, unnachsichtig wegjäten zu wollen, oder wenn eins, etwa im Studienstress und übernächtigt, gefragt, was es da mache, schlicht antwortet: „Übersprungshandlung.“ Ist doch eine anarchische Draufseiweise noch viel schöner, wenn eins sie mit einem schön bildhaften Fachterminus selbstanalysierend garnieren kann.

Sehr gern verwende ich auch das Wort Mußestunde, das seine Vokale so schön wiederholt und dadurch Ruhe ausdrückt (zu Muße siehe Lieblingswörter (2)).

Lieblingswörter (9)

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Gepriesen seien die Wörter, die in ihrer Formelhaftigkeit und leichten Altmodizität die sie Verwendenden schrullig und arglos erscheinen lassen, so wie den jungen Chorleiter, der im 21. Jahrhundert allen Ernstes fragte, ob nach der Chorprobe noch jemand ins „Wirtshaus“ gehen wolle. Wenn zum Beispiel einer sagt, er habe in einer gewissen Behörde eine Bezugsperson, mit der sich über dies oder jenes reden lasse, dann wirkt er gleich nicht mehr so wie einer, der mit seinen Kontakten angibt, sondern wie ein Kind, das sich selbst unter eine pädagogische Lupe nimmt. Trotz dieser Konnotation ist das Wort in seiner Denotation sehr non-commitant und lässt sich daher in einer Vielzahl von Situationen verwenden. Als liebenswert aus der Zeit gefallen und durch die Gegenwart stolpernd empfindet man auch die, die verkündet, sie wolle sich in einer gewissen Angelegenheit mal umtun, dabei können sich hinter dieser Formulierung die durchtriebensten erkennungsdienstlichen Pläne verstecken. Weniger durchtrieben ist eine Erkundigung, und ebenso schüchtern und umständlich wie dieses Wort, das irgendwie zu viele Affixe zu haben scheint, kommt der daher, der eine Erkundigung vornimmt, etwa die nach Beziehungsstatus und/oder Telefonnummer einer gemeinsamen Bekannten. Schließlich mag ich auch das Wort in Aussicht stellen sehr, weil es sich so schön unauffällig windet. Etwas in Aussicht zu stellen klingt nicht nach großer Unsicherheit, ist aber doch weit davon entfernt, es zu versprechen. Ein guter Satz, der das Wort verwendet, stammt wie viele gute Sätze von dem Tourismusexperten Max Goldt: „Kinder wünschen aber bunte Brausen und fettiges Eis in Aussicht gestellt zu bekommen, wenn man ihnen bei bereits Anfang Mai herrschenden Tagestemperaturen von 40 Grad im Schatten das Abschreiten dermaßen langer Promenaden schmackhaft machen möchte.“ Amen dazu.

Warum „Tugendfuror“ Unwort des Jahres werden sollte

Es ist wichtig und moralisch richtig, sich darum zu bemühen, dass wir mit unseren Mitmenschen respektvoll umgehen, dass die Menschenrechte gewährleistet werden und dass der Planet bewohnbar bleibt. Sich darum zu bemühen oder sich dem wenigstens nicht entgegenzustellen ist nichts weiter als Ausdruck von Primärtugenden, will heißen, dass man ein guter Mensch ist.

Es gibt aber einen Trend, vor allem bei einer bestimmten Sorte älterer weißer Männer, solche Bemühungen pauschal als überspannte Bemühungen um die Einhaltung von Sekundärtugenden hinzustellen, als reaktionäres Beharren auf arbiträren Verhaltensmaßregeln. So zum Beispiel, wenn Hanno Rauterberg Häuserdämmung als „calvinistisch“ geißelt, wenn Harald Martenstein den „Terror der Tugend“ beklagt, dank dem ein anständiger Nazi nicht mal mehr ein Anrecht auf ein Hotelzimmer hat, oder wenn Henryk Broder sich über die „Gutmenschen“ beschwert, die die Frontaufstellung „wir gegen die Moslems“ nicht mitmachen wollen. Manche Kolumnisten, wie der genannte Martenstein, oder Jan Fleischhauer, scheinen es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, sich und die Gesellschaft zum Opfer von „Tugendterror“ zu stilisieren.

So etwas regt mich regelmäßig auf. Es sei den Leuten unbenommen, den Tonfall oder die moralische Überheblichkeit manch eines ökologischen, menschenrechtlerischen oder antisexistischen Sendungsbewusstseins schlecht zu finden. Aber die Einseitigkeit, mit der sie sich angesichts echter und gravierender Probleme lieber an einer angeblichen Tugenddiktatur abarbeiten, finde ich schon erbärmlich.

Joachim Gauck hat sich jetzt mit seiner (?) Wortschöpfung Tugendfuror anlässlich der #Aufschrei-Debatte zu einem neuen Idol dieser unerfreulichen Bewegung gemacht. Das Wort übernimmt den Tugend-Bestandteil und damit das Mem, das das Bemühen um moralisch richtiges Handeln als Pochen auf verstaubten Tugenden ((Diese Formulierung stammt aus dem Offenen Brief an Joachim Gauck von alltagssexismus.de und fängt knapp genau das ein, was mich an Tugendterror schon lange gestört hat. Ansonsten hebt der Offene Brief (den ich auch mitgezeichnet habe) eher auf den –furor-Bestandteil ab, mit einem Argument, das ich nur eingeschränkt überzeugend finde. Daher wollte ich die meiner Meinung nach entscheidendere „Tugend“-Kritik hier etwas weiter ausführen.)) abtut. Schmerzlich, dass so ein dummes Wort begeistert aufgegriffen wird, zum Beispiel von Tübingens grünem OB Boris Palmer, der es in der vergangenen Woche auf Facebook immer und immer wieder verwendet hat.

Seine Neuheit, seine Dummheit und seine schnelle Verbreitung machen Tugendfuror zu einem Kandidaten für das Unwort des Jahres 2013, dem vermutlich kein besserer mehr folgen wird. Bitte nominiert es alle, gerne mit Hinweis auf diesen Blogeintrag!

sharen [Anglizismus 2012]

Die Wahl zum Anglizismus des Jahres 2012 steht kurz bevor. Nachdem im Sprachlog zuletzt die Kandidatinnen posten, Crowdfunding und Tablet besprochen wurden, will ich noch ein paar Worte zu sharen verlieren.

Die Verben posten und sharen wurden von Nachtwerker gemeinsam in den Ring geworfen. Thematisch sind sie eng verwandt, doch in der Verbreitung scheinen sie weit auseinander: Mit ein paar tausend deutschsprachigen Google-Treffern liegen die Partizip-Perfekt-Schreibvarianten gesharetgeshared und geshart derzeit um Größenordnungen hinter gepostet und geposted. Auch Google Trends verzeichnet ein so geringes Suchvolumen für sie, dass die Zahlen nicht interpretierbar sind. Besonders große Aussichten darauf, als wichtigster Anglizismus des Jahres 2012 in die Geschichte einzugehen, hat sharen also nicht. Schade, meiner Ansicht nach ist sharen ein tolles Wort, das eigentlich viel größere Verbreitung verdient hätte. Und das kommt so:

Ein Wort mit gesellschaftlicher Relevanz

Google+ Ripples visualisieren, wie ein Post immer wieder gesharet wird und sich dadurch verbreitet

Google+ Ripples visualisieren, wie ein Post immer wieder gesharet wird und sich dadurch verbreitet

Wenn ich selbst das Wort sharen benutze, dann denke ich am ehesten an Facebook, das bei mir meistens auf Englisch eingestellt ist. Da gibt es unter so gut wie jedem Post den Link „Share“. Mit dem kann man Beiträge von Leuten, deren Beiträge man angezeigt bekommt, „weiterreichen“ an die Leute, die die eigenen Beiträge angezeigt bekommen. Viele soziale Netzwerke haben ähnliche Funktionen, etwa Google+, Twitter und auch dezentrale Netzwerke wie die Blogosphäre, wo ebenfalls „gesharet“ wird: Es bedeutet, dass man einen Inhalt (oder einen Anriss davon) republiziert und dabei auf die Ursprungsquelle und/oder die Quelle, über die man selbst auf den Inhalt gestoßen ist, zurückverlinkt. Eine postet’s und viele sharen’s, so könnte man die Aufgabenverteilung dieser beiden 2012er-Kandidatinnen zusammenfassen (allerdings wird sharen auch als Synonym für posten gebraucht und umgekehrt).

Das Sharen ist ein zentraler Bestandteil der neuartigen Mediennutzung, bei der von jeder Nutzerin persönlich zusammengestellte Netzwerke aus Menschen bestimmen, was sie rezipiert, statt eine Handvoll Zeitungs- und Fernsehredaktionen, und jede Nutzerin selbst mitbestimmt, was die Menschen um sie herum rezipieren. Michael Schmidt beschreibt es in einem Handbuchartikel ausführlicher.

Ein Wort, das eine Lücke füllt

Warum sage ich eher sharen als teilen, wie es in Facebooks deutscher Oberfläche heißt und wie auch sonst oft zu hören ist? Habe ich, weil ich meist englische Benutzeroberflächen vor mir sehe, meine Muttersprache vergessen? Im Gegenteil. Mein deutsches Sprachgefühl sagt mir, dass teilen für to share in diesem Zusammenhang keine sehr glückliche Übersetzung ist. Beide Wörter haben mehrere Bedeutungen, manche entsprechen einander, manche nicht. Um es in einer Tabelle zu zeigen (beschränkt auf transitive, nicht reflexive Gebräuche):

share (Merriam-Webster) teilen (Duden)
1. ein Ganzes/eine Zahl in Teile zerlegen
3. ein Ganzes in zwei Teile zerteilen: der Vorhang teilt das Zimmer
1. to divide and distribute in shares : apportion —usually used with out <shared out the land among his heirs> 2a. (unter mehreren Person) aufteilen
2a. to partake of, use, experience, occupy, or enjoy with others 4a. gemeinsam (mit einem anderen) nutzen, benutzen, gebrauchen
2b. to have in common <they share a passion for opera> 4b. gemeinschaftlich mit anderen von etwas betroffen werden; an einer Sache im gleichen Maße wie ein anderer teilhaben
3. to grant or give a share in —often used with with <shared the last of her water with us> 2b. etwas, was man besitzt, zu einem Teil anderen überlassen
4. to tell (as thoughts, feelings, or experiences) to others — often used with with

Oben sieht man teilen Bedeutungen abdecken, für die im Englischen divide zuständig ist, unten hat dafür share eine Bedeutung, auf die wir im Deutschen mit weitergebenweitersagen oder mitteilen verweisen, aber auch eine Konnotation, die diese deutschen Verben weniger stark einfangen, nämlich eine der Freundschaftlichkeit und Vertrautheit: sharen tut man eine tolle Geschichte, um anderen eine Freude zu machen („I just had to share this with you“) oder Intimes aus dem eigenen Seelenleben („she shared her thoughts with me“). Diese letzte Bedeutung von share ist es meiner Einschätzung nach, aus der die Bezeichnung für das Posten und Weiterreichen in sozialen Netzwerken entstanden ist. Mit teilen kann man das nicht gut übersetzen. ((Als ich vor ein paar Jahren die Website Freut euch des Labenz! mit sozialen Buttons ausstattete, stand ich vor genau diesem Problem und entschied mich schließlich für mitteilen, was die richtige Bedeutung hat und durch den Verbstamm noch auf die üblichere, aber für mich falsch klingende Übersetzung von share verweist. Einige Zeit später führte Google Google+ ein und fügte vielen seiner Seiten einen Share-Button rechts oben hinzu, in der deutschen Oberfläche: Mitteilen. Great minds think alike.)) Es gäbe also meinem Sprachgefühl nach durchaus eine Lücke im Deutschen, die sharen gewinnbringend einnehmen könnte.

Ein vielschichtiges Wort

Im Kontext von Computernetzwerken ist share4 im Sinne des Weiterreichens von Verweisen auf Inhalte in sozialen Netzwerken nur das eine Ende eines Bedeutungsspektrums, an dessen anderem Ende share2a und share3 im Sinne des gemeinschaftlichen Nutzens von und des Zugriffgewährens auf Ressourcen stehen. Beim Carsharing zum Beispiel teilen sich viele Kundinnen einen Pool von Autos, und einen freigegebenen Drucker in einem Netzwerk können sich viele Arbeitsplätze teilen. Etwas weiter zur Mitte des Spektrums hin findet sich so etwas wie das (unerlaubte) Teilen von Benutzerinnenkonten bei Online-Spiele-Plattformen unter mehreren Leuten, die dann dieselben Spiele spielen können, oder das (erlaubte) Teilen von Softwarelizenzen unter einer von der Herstellerin willkürlich festgelegten maximalen Anzahl von Endgeräten. Hier ist die „gemeinsam genutzte Ressource“ schon deutlich abstrakter – im Falle der Softwarelizenz handelt es sich z.B. um ein Konstrukt, mit dem versucht wird, das Konzept des „geistigen Eigentums“ zu realisieren – aber immer noch um etwas, das, ähnlich wie ein Auto oder ein Drucker, in einem gewissen Sinne begrenzt vorhanden ist und daher als Objekt für teilen4a taugt. Was nicht heißt, dass sharen hier nicht beliebt wäre: Besonders im Playstation-Kontext figurieren solche Gebräuche unter den Google-Treffern für Formen wie gesharetgeshared und geshart sehr prominent. Aufs beinahe schon Äußerste gedehnt wird die Metapher des gemeinschaftlichen Nutzens dann, wenn man file sharing mit dem „Teilen von Dateien“ übersetzt, denn nur auf einer sehr abstrakten Ebene ist ein Filesharing-Netzwerk ein gemeinsam genutztes verteiltes Dateisystem – um eine Datei wirklich zu nutzen, muss eine sich erst mal ihre eigene Kopie „saugen“, die sie dann alleine nutzt. Es geht also hierbei schon um das Vervielfältigen und Weitergeben von Daten, genau wie beim Sharen in sozialen Netzwerken.

Ein Wort, das man sich merken sollte

Nachtwerker meinte, sharen sei eigentlich schon viel zu alt. Ich meine, dass es einen Anglizismus-des-Jahres-würdigen Verbreitungsanstieg vielleicht erst noch vor sich hat. Die wachsende Verbreitung und Bedeutung von sozialen Netzwerken würde dafür sprechen. Und dass es zugunsten eines bedeutungsausgeweiteten teilen in absehbarer Zeit ganz verschwindet, kann ich mir irgendwie nicht vorstellen. Mit Blick auf die zukünftige Entwicklung ist sharen für mich das spannendste Wort des diesjährigen Wettbewerbs.