Zwischen Kontextfreiheit und Kontextsensitivität, Teil 3: Nicht kontextfreie Grammatiken für Fragmente natürlicher Sprachen

Kontextfreie Grammatiken sind sehr beliebt für die Beschreibung natürlicher Sprachen. Zumindest in der Theorie und solange es nicht zu kompliziert wird, eignen sie sich gut dafür, Syntax in den Griff zu kriegen. Warum interessieren sich manche Computerlinguistien dann so für nicht kontextfreie Grammatikformalismen wie SRCG, das ich in Teil 1 vorgestellt und in Teil 2 in die Chomsky-Hierarchie eingeordnet habe?

Schauen wir uns ein Fragment der deutschen Sprache an, das aus Nebensätzen wie diesen besteht:

(1.1) dass wir das Haus anstreichen
(1.2) dass wir dem Hans das Haus anstreichen helfen
(1.3) dass wir die Kinder dem Hans das Haus anstreichen helfen lassen

Es wird z.B. durch die folgende kleine kontextfreie Grammatik mit Startsymbol S‘ beschrieben. Von Finitheit, Numerus und Genus sehen wir mal großzügig ab und beachten nur Kasus (n für Nominativ, d für Dativ, a für Akkusativ):

(2.1) S‘ → C S
(2.2) S → NPn VP
(2.3) VP → NPa Va
(2.4) VP → NPd VP Vdv
(2.5) VP → NPa VP Vav
(2.6) NPn → PRPn
(2.7) NPa → Da N
(2.8) NPd → Dd N
(2.9) C → dass
(2.10) PRPn → wir
(2.11) Da → das
(2.12) Dd → dem
(2.13) N → Haus
(2.14) N → Hans
(2.15) N → Kinder
(2.16) Va → anstreichen
(2.17) Vdv → helfen
(2.18) Vav → lassen

Die Grammatik beschreibt Sätze wie in (1.1-3) nicht nur, sie liefert auch linguistisch plausible Strukturen dafür. Erstens trägt sie der Beobachtung Rechnung, dass Sprache wie Lego ist: Sätze sind aus Teilen (Phrasen oder Konstituenten) zusammengesetzt, die ihrerseits wiederum aus Phrasen bestehen, bis man bei den kleinsten Bausteinen anlangt, den Wörtern. Phrasen gleicher Kategorie sind untereinander austauschbar. Z.B. sind sowohl das Haus anstreichen als auch dem Hans das Haus anstreichen helfen Verbalphrasen (VP) und können daher beide auf dass wir folgen und einen Satz bilden (1.1, 1.2), auch wenn sie in sich unterschiedlich aufgebaut sind, einmal nach Regel (2.3) und einmal nach Regel (2.4). Umgekehrt kann dieselbe Konstituente, z.B. das Haus anstreichen in verschiedenartigen Kontexten auftauchen (1.1, 1.2., 1.3), weil sowohl (2.2) als auch (2.4) als auch (2.5) das VP-Symbol auf der rechten Seite haben.

Zweitens modellieren die Regeln die lokalen Abhängigkeiten zwischen Verben und ihren Argumenten: helfen ist zum Beispiel ein Verb, das eine Nominalphrase im Dativ als Argument nehmen kann (wem man hilft) sowie eine Verbalphrase (wobei man hilft). Ich habe das in der Grammatik mal so kodiert, dass helfen die Kategorie Vdv hat (Verb mit Dativ-Nominalphrase und Verbalphrase). Analog ist lassen Vav (Akkusativ-Nominalphrase, wen oder was man lässt; Verbalphrase, was man ihn, sie oder es tun lässt) und streichen nur Va (Akkusativ-Nominalphrase, was man streicht). Regeln 2.3-5 sorgen dafür, dass jede Verbalphrase mit einem Verb (dem Kopf der Phrase) und dazu passenden Argumenten aufgebaut wird.

Ein Ableitungsbaum veranschaulicht die syntaktische Struktur eines Satzes, hier die von (1.3):

Kontextfreier Ableitungsbaum für den Satz „dass wir die Kinder dem Hans das Haus anstreichen helfen lassen“

Übersetzen wir nun unsere drei Beispielsätze ins Zürichdeutsche nach Shieber (1985):

(3.1) das mer es huus aastriche
(3.3) das mer em Hans es huus hälfe aastriche
(3.3) das mer d’chind em Hans es huus lönd hälfe aastriche

Es fällt auf, dass die Verben am Ende in der umgekehrten Reihenfolge stehen. Wenn wir weiterhin davon ausgehen, dass z.B. in (3.3) d’chind direkt mit lönd zusammenhängt, em Hans direkt mit hälfe und es huus direkt mit aastriche, was zweifellos sinnvoll ist, dann stellen wir fest, dass unsere Verbalphrasen nicht mehr verschachtelt sind wie im Hochdeutschen, sondern sich „überkreuzen“. Ein Baumdiagramm zu (3.3) sieht dann so aus:

Ableitungsbaum mit kreuzenden Kanten zu dem Satz „das mer d’chind em Hans es huus lönd hälfe aastriche“

Man spricht auch von unterbrochenen Konstituenten, weil zwischen den Wörtern, die zu den niedrigeren beiden VPs gehören, Wörter auftauchen, die nicht dazu gehören.

Es ist einigermaßen offensichtlich, dass das keine kontextfreie Ableitung mehr ist. Eine 2-SRCG dazu indes gibt es:

(4.1) S’(XY) → C(X) S(Y)
(4.2) S(XYZ) → NPn(X) VP(Y,Z)
(4.3) VP(XY,ZU) → NPa(X) VP(Y,U) Vav(Z)
(4.4) VP(XY,ZU) → NPd(X) VP(Y,U) Vdv(Z)
(4.5) VP(X,Y) → NPa(X) Va(Y)
(4.6) NPn(X) → PRPn(X)
(4.7) NPd(XY) → Dd(X) N(Y)
(4.8) NPa(XY) → Da(X) N(Y)
(4.9) C(das) → ε
(4.11) PRPn(mer) → ε
(4.12) Dn(d’) → ε
(4.13) Dd(em) → ε
(4.13) N(huus) → ε
(4.14) N(Hans) → ε
(4.15) N(chind) → ε
(4.16) Va(aastriche) → ε
(4.17) Vdv(hälfe) → ε
(4.18) Vav(lönd) → ε

Die Idee ist, VPs zwei Argumente zu geben, das erste für die Argumente der Verben, das zweite für die Verben selbst. Hängt von einer Verbalphrase VP1 eine zweite Verbalphrase VP2 ab, bilden die Argumente von VP2 die Basis, VP1 hängt ihr NP-Argument und ihr Verb jeweils vorne an, wie in Regeln (4.3-4) zu sehen.

Eine VP in dieser Grammatik ist auch nicht nur einfach eine Aneinanderreihung von Nominalphrasen, gefolgt von einer gleich langen Aneinanderreihung von Verben – das würde man zur Not auch noch mit einer kontextfreien Grammatik hinkriegen, wenn auch mit einer anderen Struktur (vgl. die erste Beispielgrammatik in Teil 1). Nein, die Regeln „checken“ ja, ob eine Nominalphrase zum Verb passt (z.B. Dativ für helfen, aber Akkusativ für lassen). Falsche Sätze wie dieser sind nicht ableitbar (lönd verlangt Akkusativ, nicht Dativ):

(5.1) *das mer em chind em Hans es huus lönd hälfe aastriche

Das ist der Kern des Arguments von Shieber (1985) dafür, dass natürliche Sprachen im Allgemeinen nicht kontextfrei sind.

In Teil 4: Was man dagegen einwenden kann und warum es so oder so nützlich sein kann, unterbrochene Konstituenten (also ein wenig Kontextfreiheit) bei der Analyse natürlicher Sprachen zuzulassen.

Sehr konkrete Pläne habe ich für Teil 4 noch nicht. Erst mal bin ich gespannt, ob meine werten Leser Fragen und Kommentare hierzu haben und wenn ja, welche. Daraus ergibt sich dann vielleicht eine klarere Vision für Teil 4.

Literatur

Marcus Kracht: The Mathematics of Language. Gruyter, 2003.

Stuart M. Shieber: Evidence against the Context-freeness of Natural Language. In: Linguistics and Philosophy 8, 1985.

s.a. Literatur zu Teil 1 und Teil 2.

3 Gedanken zu „Zwischen Kontextfreiheit und Kontextsensitivität, Teil 3: Nicht kontextfreie Grammatiken für Fragmente natürlicher Sprachen

  1. Herr Rau

    Habe die schönen Grafiken eben für einen Exkurs im Informatikkurs übernommen. Chomsky 0-2 sind da optional, wie überhaupt die ganze Hierarchie und die Unterschiede, aber so ganz ohne kommt mir kein Schüler aus dem Informatikunterricht der Oberstufe.

  2. Pingback: Zwischen Kontextfreiheit und Kontextsensitivität, Teil 2: Eine erweiterte Chomsky-Hierarchie | Texttheater

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