Emily the Strange

Im Februar 2003 sah ich sie zum ersten Mal, in einem Geschäft in Notting Hill, London. Dort lag das erste und damals auch noch einzige Emily-Buch Emily the Strange. Es schlug mich so in seinen Bann, dass ich nach kurzem Überlegen ziemlich viel Geld dafür ausgab. Denn es heroldete den individualistischen, introvertierten, düsteren, sympathisch bösen Charakter der Heldin, indem es ihn mit Kreativität, Schönheit und Erfolg paarte: Emily may be odd, but she always gets even.

Ein bildschönes Bilderbuch, ganz in schwarz, weiß, knallrot und einer Prise grau gehalten, grafisch ebenso schlicht wie genial. Meistens reichte ein kurzer Satz wie der eben zitierte für zwei Doppelseiten, typischerweise mit Wortspielen auf englischen Redensarten.

Ob mich die Nachfolgerbände Emily’s Secret Book of Strange und Good Nightmares ebenso vom Fleck weg begeistert hätten, bezweifle ich. Als Emily-Fan habe ich sie natürlich ohne Diskussion erworben, sobald ich von ihrem Erscheinen erfuhr, und auch begeistert verschlungen. Das fast quadratische Format und der grafische Anspruch wurden stets beibehalten, letzterer auch ausgebaut. In Band 2 kam Glanzlack hinzu, mit dem schräg gegen das Licht gehalten erkennbare Botschaften auf vielen Seiten versteckt wurden. Detailiertere Zeichnungen, mehr Grau- und Rottöne und viele Fantasiesymbole prägten das Buch, während sich das erste auf die Grundformen Emily, Katze und einige wenige weitere beschränkt hatte.

Der zweite Band stand unter dem Motto der fünf Sinne, plus Sprechen und Denken: Jeweils wurde Emilys subversive Version davon vorgestellt. Leider habe ich das Buch nicht zur Hand, da ich dies schreibe, sonst könnte ich mich differenzierter äußern. Aus der Erinnerung konstatiere ich: Das Buch ist gut, aber überladen.

Good Nightmares desgleichen. Ideen und Umsetzung muss man natürlich trotzdem loben: Alpträume sind Emilys Element. Da es Träume sind, nehmen sich die Illustratoren mehr künstlerische Freiheit. Es gibt plötzlich rau-krakelige Sequenzen in Bunt- und Bleistiftzeichnungen (?), Anspielungen auf Zeichenstile und Motive von Albrecht Dürer, Hokusai Katsushika oder M.C.Escher. Neben Knallrot treten auch Pink und Weinrot auf, die Katzen sind gelegentlich zerzauster. Gegen Ende hat sogar Emily einen Albtraum, in dem dann Farben wie Blau, Orange, Grün und Gelb (!!!) auftreten. Alles berauschend, vielleicht etwas zu schreiend, spritzend und reizüberflutend für Emily, es fehlt etwas das Motto, das verbindende Element, und der Text bewegt sich teilweise auf niedrigem Niveau: „In a blink, all was pink.“ Gähn.

In gewisser Hinsicht ist jetzt mit dem vierten Band Seeing is Deceiving das beste Emily-Buch seit dem ersten erschienen. In den Bildern stechen wieder mehr Emily und ihre Katzen hervor, weniger grelle Umgebungen. Das Thema ist sehr eng gefasst: Nicht mehr alle fünf Sinne wie im zweiten Band, sondern hier brilliert der Gesichtssinn aus Emilys Sicht alleine. Den Text, so stelle ich es mir vor, schrieb Rob Reger, indem er in einem Redensarten-Lexikon unter see, look und watch nachschlug. Aus der bestimmt fulminanten Ausbeute suchte er sich heraus, was seine Fantasie zu seltsamen Twists befeuerte. Sprachlich und gedanklich sind die Wortspiele wieder außergewöhnlich sauber, man muss ein bisschen mitdenken und das Buch kommt mit sehr schlichtem Bildmaterial aus, man kann sagen: Die Rückkehr zum Erfolgsrezept des ersten Bandes. (Nicht, dass es nur solche Bücher geben dürfte, das wäre ja langweilig, aber sagen wir mal so: Vielleicht hätte das Ausbleiben von Band zwei und drei Emilys kommerziellen Erfolg Abbruch getan, nicht jedoch ihrer Anbetungswürdigkeit, die durch Band vier wieder richtig gefördert wird, ebenso wie die zu ignorierenden Emily-Comics versuchen sie zu zerstören.)

Ein Beispiel: Emily looks close, but keeps her distance. Die Bilder dazu zeigen Emily, ein Fernglas verkehrtherum auf eine Katze gerichtet, und dann, auf der nächsten Seite, den Blick durch das Stereoskop auf „zwei“ winzige Kätzchen. Schlichter und schöner geht’s kaum. Ein nettes, unaufdringliches, aber effektvolles und sehr gut in die Grundaussage des Buches (siehe Titel) passendes Gimmick sind Ausschnitte in manchen Seiten, wie man sie auch aus anderen Bilderbüchern kennt, die die optische Wahrnehmung aufs Korn nehmen. So werden die Unterleiber zweier fetter Spinnen durch Zurückblättern zu Emilys Augen, und in einem unstrukturierten Gewirr grober Kreuzstich-Nähte erkennt man, wenn man die Seite mit dem Loch in Form von Emilys Gesicht darüberlegt, eine mumienhafte Fratze.

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