Archiv der Kategorie: Menschen

2000 ff.

Von ca. 2000 bis ca. 2002 bin ich auf einer Website aktiv, die von einem deutschen Buchverlag als Werbemaßnahme erstellt wurde. Sie ist meiner Erinnerung nach ursrpünglich in ASP geschrieben (zumindest legen das die URLs nahe, später PHP) und besteht u.a. aus einem Chat, einem Bulletin Board und einem Bereich, in dem man in Form von Texten Aufgaben bearbeitet und dafür insgesamt vier Achievements unlocken kann, wie man wohl heute sagen würde. Ich bin von der ersten Stunde an begeistert dabei und gehöre dadurch zu den ersten vier, die das höchste Level erreichen. Wir sind auch bis heute die einzigen geblieben, denn der Verlag stellt die Pflege der Website allmählich ein (später wird sie von einem Verein übernommen). Etwa zur gleichen Zeit kommt es bei einer Diskussion über besagten Chat, seine geheimen Funktionen und den verantwortungsvollen Umgang mit ihnen zu einer Reihe von Missverständnissen, Unterstellungen und Beleidigungen, in deren Folge ich von einigen tonangebenden Mitgliedern der Website geschnitten werde. Ich engagiere mich danach noch ein wenig in dem erwähnten Verein, aber rückblickend ist die Luft schon zu dem Zeitpunkt raus. Ab 2005 lasse ich mich nicht mehr blicken.

Der wiederauferstandene Antitheist

Bis 2010 bloggte ein gewisser sapere aude über Gott, Religion und die Welt, mit einer seltenen Entschiedenheit aus atheistischer, ja antitheistischer Perspektive. Das fand ich sympathisch.

Meine Sympathie ließ nach, als ich einmal mit sapere aude über Beweise der Nichtexistenz Gottes diskutierte und er aber jeden Gottesbegriff, über den er bereit war zu diskutieren, auf etwas offensichtlich Absurdes einengte (Stichwort: Allmachtsparadoxon). Von da an kam mir sapere aude eher wie ein verrannter Fanatiker vor.

Am 28. Oktober 2010 wurde auf sapere audes Blog in der dritten Person die Nachricht von seinem überraschenden Tod gepostet, zusammen mit der Bitte, von Nachfragen nach den Umständen abzusehen. Seitdem war es still, bis zum 14. April 2015, als wieder ein Post in der ersten Person erschien, bestehend nur aus dem Titel: „Ich bin wieder da.“ Ein weiterer Post folgte am selben Tag. Er legt dar, der erwähnte Tod sei gar kein Tod im Wortsinne gewesen, sondern nur der eines „Geist[es]“, des „Religionsverächter[s] und Antitheist[en]“ sapere aude. Der Mensch dahinter habe ein „tiefe[s] und plötzliche[s] Bedürfnis“ verspürt, das Werk dieser Online-Persona nicht fortzusetzen. Es wird sich für die Täuschung entschuldigt und weitere Erklärungen angekündigt.

Was der atheistische Leser jetzt schon befürchtet, wird am 16. April Gewissheit: Der neue sapere aude postet, Theismus mache „Sinn“. Und dass er das verstanden habe, „indem ich mit religiösen Menschen gesprochen, gegessen, gesungen, gebetet, gelacht und gelebt habe.“ Details werden dazu noch nicht genannt, aber es klingt begeisterungstrunkenes Vokabular an („unschätzbarem Reichtum“, „überwältigt“), wie man es u.a. von evangelikalen Christen kennt. Die inszenierte Wiederauferstehung würde geradezu ins Bild passen.

Hat sapere aude seinen Fanatismus bewahrt und sich nur von einem ins andere Vorzeichen bekehrt? Oder ist der ursprüngliche Blogautor so tot wie zuvor und eine Entität mit anderer Agenda hat sich seines Accounts bemächtigt? Man darf auf weitere Posts gespannt sein.

Kolokynomanie

Es war einmal ein kleiner Junge, der bekam einen Flaschenkürbis geschenkt und wurde von diesem besessen. Die Kindergärtnerinnen und Kindergärtner machten sich Sorgen. „Er hat sich neben mich gesetzt“, berichtete eine, „und mich ganz ernsthaft gefragt: Wo wurdest du geerntet?“ Ein anderer wusste: „Andere Jungs in dem Alter identifizieren sich mit Säbelzahntigern, er mit einem Kürbis. Er ist auch so unsportlich und verkopft und auf Erwachsene fixiert. Ich glaube, er will tatsächlich am liebsten wie ein Flaschenkürbis sein, wo man oben einen Schlauch dranmacht und ihn mit Wissen füllt, und er sitzt einfach da und lässt sich das so gefallen und wird mit der Zeit immer praller.“ Die überforderten Eltern sahen das Problem nicht: „Die Mutter sagt, seine Lieblingsfarbe ist halt Orange.“

Fröhliches Laminieren

Mittwoch, 2. Mai, 14:37 Uhr
Die in Teilzeit arbeitende Lehrerin Barbara G. ersteht im Schreibwarengeschäft des örtlichen Einkaufszentrums ein handbetriebenes Laminiergerät, um selbst erstellte Lehrmaterialien langlebiger zu machen.  Als sie den Einkauf, zu Hause angekommen, um 15:11 Uhr zunächst in die Ecke stellt, trübt kein Vorzeichen von Unheil die milde Frühsommerluft.

Samstag, 5. Mai, 15:09 Uhr
Feierliche Inbetriebnahme des Neuerwerbs anhand von Barbara G.s Stundenplan für das laufende Schulhalbjahr. Der anwesende Ehemann Friedrich G. ist beeindruckt vom Nutzen des Geräts und lässt sich gleich auch einen häufig gebrauchten Übersichtszettel laminieren.

Montag, 7. Mai, 17:57 Uhr
Nach einer längeren Schreibtischsitzung sind ein Klassensatz Übersichten über französische Verbkonjugationen sowie eine Reihe von Arbeitsblättern für Gruppenübungen im Fach Deutsch durch robuste Klarsichtfolie vor Knicken, Schmutz und Feuchtigkeit geschützt.  Sicherheitshalber fertigt Barbara G. einen zweiten Klassensatz und noch einige laminierte Exemplare der Schulhausordnung an, bevor sie zufrieden ihren Feierabend genießt.

Dienstag, 8. Mai, 16:02 Uhr
Nachdem sie gestern beinahe alle Folien verbraucht hat, hat Barbara G. heute eine neue Vorratspackung angeschafft. Sie ist allerdings noch unangetastet, da es derzeit keine neuen Unterrichtsmaterialien zu laminieren gibt. Erste Spuren von Nervosität liegen in der Luft.

Mittwoch, 9. Mai, 20:02 Uhr
Friedrich G. zeigt Anzeichen beginnender Gereiztheit. Zuvor hatte Barbara G. im Laufe des Nachmittags und Abends trotz seinem freundlichen Ablehnen insgesamt zwölfmal ihre Hilfe mit seinen ihr zufolge dringend zu versiegelnden Dokumenten angeboten.

Donnerstag, 10. Mai, 2:32 Uhr
Der in einer anderen Stadt studierende, aber derzeit zu Besuch weilende Sohn Matthias G. wundert sich sehr, als seine Mutter zu nachtschlafender Zeit an seine Zimmertür klopft, ob er zufällig noch etwas zu laminieren habe, sie sei gerade „so schön drin“. Es stellt sich heraus, dass in den vergangenen Stunden nicht nur die in einem Ordner in der Küche lagernden ausgedruckten Kochrezepte, sondern auch sämtliche Rechnungen der letzten zwei Jahre in Folie konserviert wurden, was ihren Platzbedarf mehr als verdreifacht.

Freitag, 11. Mai, 4:20 Uhr
Friedrich G. wird von einem Urschrei mit dem Wortlaut „LAMINIIIIIIIIIEREN!“ abrupt aus dem Schlaf gerissen.  Er beginnt sich ernsthafte Sorgen zu machen, zumal am Vortag mehrere Versuche, etwas auf Schmierpapier zu notieren, an einer auf unerklärliche Weise hinzugekommenen Folienschicht gescheitert waren.

Freitag, 11. Mai, 6:59 Uhr
Der Renter Horst F., Nachbar der G.s, tritt gutgelaunt vor die Pforten seines Bungalows – und schlägt der Länge nach hin. Im Krankenhaus wird er später zu Protokoll geben,  irgendetwas sei mit dem Bürgersteig anders gewesen als sonst.

Samstag, 12. Mai, 11:37 Uhr
Es ist nicht klar, wie sie es gemacht hat, aber Barbara G. hat mehrere vollständige Bücher, sämtliche Lebensmittelpackungen und eine Ananas laminiert. Auch der Kühlschrank lässt sich aufgrund einer ihn umgebenden Klarsichtfolienschicht nicht mehr öffnen. Die Familie beschließt einen Nervenarzt zu rufen, doch die Patientin ist verschwunden und lässt sich nicht mehr auffinden. Auch von Barbara G.s Laminiergerät fehlt jede Spur.

Sonntag, 13. Mai. Morgengrauen.
Eine gespenstische Stille liegt über der Wohnsiedlung Fichtenweg. Eine auf den ersten Blick unerkennbare Schicht aus Polyethylenterephthalat überzieht Bäume, Sträucher, Autos, Häuser, Katzen und Hunde. Konserviert für die Ewigkeit ist selbst der Ausdruck des Entsetzens, der sich der Gesichter der Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung in ihren letzten Augenblicken bemächtigt hat. Menschen wie du und ich, die es nicht für möglich gehalten hätten, dass Laminieren so viel Spaß macht.

Wülste

Wissen Sie noch, die Bauchfrei-Mode? Jaja, einerseits fand ich es natürlich auch schlecht, wenn Mädchen sich diesem Mode-Diktat beugten. Andererseits fand ich es immer gut, dass dick zu sein für viele anscheinend kein Grund war, es nicht zu tun. Ich musste mir immer an den Kopf fassen, wenn es ausgerechnet das war, was die Leute aufregte. Ist es dieselbe Toleranz für Wülste, die mich den Fiat Multipla für ein ganz schönes Auto halten lässt?

Die Schrecken der Facebook-Timeline

Wenn Walter Jens Boris Jelzin lila Lutschmobil genannt hätte, dann hätten die Menschen gesagt: »Welch meisterliche Rhetorik!«, wenn ich Jelzin so bezeichnen würde, würde es heißen: »Was für eine skurrile Alltagsbeobachtung!«, und wenn Reinhold Messner über Boris Jelzin gesagt hätte, er wäre ein lila Lutschmobil, hätten alle gerufen: »Was für ein schönes Gebirgsvideo!« Aber wenn Helmut Kohl so etwas sagt, hinterläßt er angeblich einen Scherbenhaufen.

Max Goldt, Warum Dagmar Berghoff so stinkt, Die Kugeln in unseren Köpfen, Haffmans 1995

Und wenn Facebook Boris Jelzin ein lila Lutschmobil nennt (oder die Timeline einführt, oder die Schriftart ändert, oder den Blauton…), sagen alle: „Was für ein dreister Angriff auf meine Privatsphäre!“

Vom Heißen

Ein Rant aus dem Jahr 2004

Wenn man Elter wird, sollte man nicht geizig sein und dem Kind schon auch einen zweiten Vornamen geben. Einen zweiten Vornamen kann man im Leben immer gut brauchen: Als Gesprächsthema und Anlass zum Amüsieren in geselliger Runde; als Ausweichmöglichkeit, wenn man das Pech hat, Horst zu heißen; um sich nach dem middle-name-first-street-Prinzip schnell und einfach einen Bühnennamen stricken zu können oder um Briefköpfe, Absenderfelder und Visitenkarten mit einem groovigen, dekorativen Mittel-Initial zu schmücken.

Zweite Vornamen gehören aber nicht auf Geburtsanzeigen, Taufeinladungen und dergleichen! Die freudige Nachricht vom Elternglück im Bekanntenkreis sollte als Erstinformation den Vornamen (und damit meine ich den ersten), den Nachnamen und ein Foto enthalten. Wenn Wert darauf gelegt wird, dürfen auch Audioaufnahmen erster Lebensäußerungen (per E-Mail als MP3-Datei) und die Maße des Bündels dabei sein. Ich will aber nicht mit der ganzen Batterie der Namen konfrontiert werden, die auf dem Standesamt eingetragen werden, später im Ausweis stehen und dem Wohl des Kindes dienen sollen, nicht der Verwirrung der Umwelt. Bei den ganzen Jona Benedicts, Nora Fabiennes und Robert Simeons, die auf einen niederprasseln, wird man ja ganz wirr im Kopf, was soll das?

Ein Vorname pro Name ist für jeden Menschen erst mal gut genug, um durchs Leben zu kommen. Erst auf Anfrage oder bei Bedarf, wie in den oben beschriebenen Fällen, ist der zweite Vorname hervorzuzaubern. Wenn nicht einmal die Eltern selbst sich für einen Haupt-Vornamen entscheiden können und über ihr Kind ständig als Tom Noah reden (wie es der geburtsanzeigengeschädigte Bekanntenkreis ohnehin zunächst einmal tut), wirkt das unbeholfen. Halten sie den ausgesuchten Erstnamen allein nicht für gut genug? Meinen sie, mit zwei Vornamen sei man auch gleich etwas Besseres, wenn sie nur immer schön alle genannt werden? Konnten sie sich nicht auf einen Namen einigen? Oder lässt gar der künstlerische Anspruch der Kombination beider Namen ein Auseinanderreißen nicht zu? Wäre es ein Schlag ins Gesicht des elterlichen Genies, nur einen zu verwenden? Dünkelhaft. Unsouverän. Albern.

Wie aber soll das Kind überhaupt heißen? Im evangelischen, bildungsbürgerlichen Umfeld ist meist etwas Biblisches und etwas etwas Ausgefalleneres dabei. Es muss gar nicht gleich Gerlindis oder Ubbo sein; es reicht schön, aufmerksam möglichst aktuelle Vornamenshitlisten zu studieren und die dort auftauchenden Namen zu meiden. Der männliche Teil meines Jahrgangs zum Beispiel besteht ungefähr zur Hälfte aus Alexanders; so zu heißen, ist die sicherste Methode, um von allen nur mit Nachnamen angeredet zu werden. Vielleicht ist es wichtig, seinen Kindern völlig ausgefallene Namen, die kein Schwein kennt, zu ersparen – viel wichtiger ist es allerdings, ihnen generationsinterne Allerweltsnamen zu ersparen. Natürlich wird man sein Kind auch nicht so nennen wollen, wie die Hälfte all derer heißt, die man selber kennt.

Meine Eltern haben Souveränität bewiesen und mich sehr selbstbewusst einfach Kilian genannt. Einen zweiten Vornamen haben sie mir leider vorenthalten. Ansonsten heiße ich gut – ungewöhnlicher Vorname, noch etwas ungewöhnlicherer Nachname, da fällt es auch nicht so ins Gewicht, dass mir das Mittel-Initial versagt bleibt. Länge und Laut-Buchstaben-Zuordnung meines Namens sind geistesgesund und bewahren mich weitgehend vor endlosem Buchstabieren und Korrigieren. Nur mit der Reihenfolge gibt’s manchmal Probleme, da Kilian vielen nur als Nachname vertraut ist. Muss ich hier auch von Zeit zu Zeit gegen Fehler zu Felde ziehen, so nehme ich dies Schicksal demutsvoll an.

Tugendterror

Die Ökospießer, so heißt es, schmücken sich zwar mit ökologischen Attributen wie penibler Mülltrennung, Biokost und Solardächern, wollen aber genau so wenig wie die anderen Spießer auf den luxuriösen Lebensstil verzichten, der das eigentliche Problem für die Umwelt und für die Gerechtigkeit zwischen den Völkern ist. An dem Vorwurf ist sicher viel dran, auch wenn das Bild vom Grünen-Wähler mit Porsche Cayenne nicht annähernd so typisch sein dürfte wie seine Beschwörer, darunter auch @prenzlbergmutti, glauben machen wollen. Aber was soll das Wort vom Tugendterror, das ich in letzter Zeit häufig lese? Kriegt man in grünen Vierteln etwa ausgeweidete Katzen an die Haustüre genagelt oder mit Blut an die Fenster geschrieben, wenn man bei Aldi einkauft oder Atomstrom bezieht? Oder ist das Wort in der Nachfolge von Gutmensch nur ein Schimpfwort für die blöden Nachbarn? Aus Groll daraus, dass die es wenigstens schaffen, ein bisschen ökologisch verträglicher zu leben, während man selbst immer noch fünfmal in der Woche Fleisch isst und viel fliegt?