Archiv der Kategorie: Menschen

Jedes Mal, wenn X, dann Y

Oh, ein Stürmchen der Empörung über einen Tweet von Mario Sixtus:

Für jeden Hamburger, der heute nicht wählen geht, stirbt ein Libyer.

Kann man die Empörung verstehen? Zuerst einmal: Was meint Sixtus überhaupt? Das Baumuster seines Tweets ist mir in letzter Zeit auf Twitter häufiger begegnet, es geht so: „Für jede/n/s X passiert Y.“ Oder so: „Jedes Mal, wenn X, dann Y.“ Oder so: „Immer, wenn X, dann Y.“

In solchen Witzen geht es immer um einen Konflikt. Zwischen zwei Gruppen von Menschen A und B mit unterschiedlichen Weltanschauungen, Meinungen oder ästhetischen Präferenzen. Bei Sixtus sind A die Leute, die dafür sind, dass es Demokratie gibt und die es wichtig finden, dass man zur Wahl geht. B sind die Leute, die gegen Demokratie sind und die libysche Demonstranten erschossen sehen wollen. Aus der Sicht von A sind X und Y zu verurteilen, aus der Sicht von B zu begrüßen. Allerdings ist Y ein wesentlich drastischeres Ereignis als X, und so kann man vermuten, dass es zwischen A und B eine ganze Reihe Leute gibt, die sich an X nicht stoßen, Y aber ganz schrecklich finden. Die Jedes-Mal-Witze haben die Funktion zu polarisieren, indem sie diesen Meinungen in der Mitte die Existenz oder die Legitimation in Abrede stellen. Und ich denke, daher kommt ein großer Teil der Empörung über Sixtus: Hamburger Nichtwähler und Nichtwählersympathisanten sehen sich mit einem mörderischen Unrechtsregime in eine Ecke gestellt.

Eine andere Form des Jedes-Mal-Witzes scheint mir weniger anklagend als schadenfroh zu sein, hier @mplusk_:

Jedesmal, wenn jemand „Klickibunti“ sagt, stirbt irgendwo das kleine Kätzchen eines Programmierers.

Und dann gibt es noch die Variante, wo X und Y von unterschiedlichen Gruppen als schlecht empfunden werden und Y somit weniger als eine extrem verstärkte Form von X, sondern als eine Art göttliche Strafe für X erscheint, hier @manu_aw:

Jedesmal wenn irgendwo ein lustiger Babystimmenhandyklingelton ertönt, fällt woanders ein Mobilfunksendeturm um.

Generationenkonflikt

So mancher, der in eine Ära materiellen Wohlstands hineingeboren wurde, hat sich über die Alten gewundert, die im Krieg jung gewesen waren und nun Zeit ihres Lebens fettem und reichlichem Essen zusprachen, als gölte es Kalorien für die nächste Hungersnot zu horten. Meine Generation hierzulande heutzutage wächst in einer Ära auf, in der nicht nur Essen, sondern auch Information im Überfluss vorhanden ist. Ich bemerke vereinzelt, wie mir das Horten von Büchern und Dokumenten, wie ich es in der Generation meiner Eltern sehen kann, fremd ist. „Sohn, handle klug und vorausschauend! Wenn du in einem halben Jahr jederzeit in der Lage sein möchtest, etwas mit F nachzuschlagen, dann sieh zu, dass du jetzt eine Enzyklopädie abonnierst, die bis dahin zu dem Buchstaben vorgedrungen ist!“ – „Ach, Papa, wenn ich dann was nachschlagen muss, gucke ich einfach im Internet.“ Wenn man eine ganz steile These draus drechseln möchte, kann man sagen, dass das Internet beim Übergang von einer Haben-Gesellschaft zu einer Seins-Gesellschaft helfen kann. Der Kampfbegriff Internet-Ausdrucker wird hauptsächlich gegen Leute gerichtet, die das Internet nicht verstehen, aber trotzdem darüber bestimmen wollen. Er drückt aber meiner Empfindung nach auch die Verachtung über eine obsolete Geisteshaltung aus, nach der sich Information besitzen lässt und gierig gehortet werden sollte. Anstatt dass man ihr einfach freien Fluss ermöglicht und sich darauf verlässt, dass man online finden wird, was man braucht, wenn man es braucht, wie die Luft zum Atmen.

Zwei Papiertüten

Als ich um fünf vor zwölf in den REWE rausche, stellt sich mir die schwarz gekleidete Sekuritärin in den Weg, eine Schrankwand von einer Frau. „Eingang ist da!“ Aus der üblichen Geistesabwesenheit gerissen und jäh in eine soziale Situation geschubst reagiert mein Stammhirn autark und hält auch diesmal wieder eine Überraschung für mich bereit, nämlich ein Welpengesicht und einen leicht bettelnden Tonfall: „Ich muss nur zwei Papiertüten kaufen, wär das okay, wenn ich eben hier rein gehe?“ Slightly off, wenn man bedenkt, dass es nicht an sich darum geht, einen Umweg zur Kasse zu vermeiden, sondern darum, mein Gesicht zu wahren. Wahrscheinlich wirke ich wie auf Drogen, aber mein Argument zieht. Die Pointe entfällt.

Geißel Gottes

Vorgestern habe ich das kurz gezwitschert, heute fasziniert es mich immer noch: Der verrückte Bischof Richard Williamson hat den Islam in seiner E-Mail-Kolumne eine „Geißel Gottes“ genannt, also eine von Gott in die Welt gesetzte Strafe oder Prüfung für seine Schäfchen, die Christen. Nach muslimischem Glauben wurde der Islam ja tatsächlich von Gott in die Welt gesetzt, durch Mohammed. Glaubt Williamson also, dass Gott eine neue heilige Schrift herausgegeben, eine neue Anhängerschaft um sich geschart, kurz: eine neue Religion begründet hat, um die Anhänger der alten Religion zu zwiebeln? Dann müsste er zugeben, dass Muslime rechtgläubig sind, da der Islam ja tatsächlich eine göttliche Religion ist. Wahrscheinlich würde er aber nicht zugeben, dass der christliche und der muslimische Gott derselbe sind. Hat der christliche Gott also einen Pappgott zurechtgemacht und die Muslime voller Absicht mit einer Bogusreligion in die Falschgläubigkeit geführt – als Werkzeug, als Geißel? Dann wäre Gott noch infamer und sadistischer, als man es ihm aufgrund mancher gut katholischer Glaubenssätze eh schon unterstellen muss. Was also ist von Williamsons Aussage zu halten? Vielleicht sollte man sie einfach nur amüsant finden.

Vom Abschmettern

Seit vielen Jahren bin ich Hausmeister des der Nachtschule angeschlossenen Wohnstollenheims. Ich bearbeite die Bitten von Nachtschülern, die sich einen Wohnstollen (Website) gebastelt haben. Die Qualitätsanforderungen für neue Wohnstollen sind nicht hoch, aber doch vorhanden. Wo jeder Raum (Webseite) nur eine Variante des Satzes „Dieser Raum wird erst noch eingerichtet“ enthält, habe ich mir eine Standardantwort zurechtgelegt: „Bitte melde dich noch einmal, wenn du deinen Stollen etwas vollständiger eingerichtet hast.“ Inzwischen benutze ich sie jedes Mal in der Gewissheit, dass ich von der betreffenden Daseinsform nie wieder etwas hören werde.

Modellbahnraum

Ich habe einen Nachbarn, der zwei Hausnummern vor die Tür seiner Gewerbefläche gehängt hat: seine und meine. Hilfsbriefträger und esoterische Paketdienste werden davon manchmal verwirrt. Dann geht meine Post an den Absender zurück. Ich stellte meinen Nachbarn zur Rede. Er behauptete, die Deutsche Post habe ihm befohlen, beide Nummern zu führen – erster Beweis dafür, dass er bizarr ist. Zweiter Beweis: seine Gewerbefläche. Das Klingelschild bezeichnet sie als „Modellbahnraum“, und es sieht so aus, als sei tatsächlich in den nächsten Tagen die Einrichtung einer großen Modellbahnanlage geplant. Seit mehreren Monaten sieht es so aus. Die Tische stehen leer und auf dem Kopf. Immer, wenn ich am Schaufenster des Modellbahnraums vorbeigehe, sitzt mein Nachbar in einem Drehsessel und liest Zeitung.

Forschungsprojekt

Hat man mir auf einer Party erzählt:

Letztes Semester hatten wir zum Beispiel ein Seminar zu Gender Studies. Das war toll. Die Dozentin war voll locker, die war Amerikanerin. Das fand ich voll gut, die war voll offen, gar nicht so wie die Deutschen, verstehst du? Die hat uns auch von ihren Affären erzählt, die sie während der Zeit hatte. Andere Dozenten sind da immer voll streng und achten voll darauf, wie man sich im Seminar beteiligt und machen voll strenge Vorgaben für die Hausarbeiten. Aber sie wollte das gar nicht so machen, sie wollte uns da Freiheit lassen, und das find ich auch gut, weil, wenn ich jetzt zum Beispiel im Seminar nicht so viel sage, kann das ja trotzdem sein, dass ich voll gute Gedanken und Ideen habe, weißt du? Und die Ideen wollte sie halt sehen, und deswegen haben wir eigene Forschungsprojekte machen dürfen. Völlig frei, also sie hat gar keine Vorgaben machen wollen, sie wollte, dass wir selber kreativ werden. Ich bin mit zwei Freundinnen aus dem Seminar ins Top Ten gegangen und wir haben die Leute beobachtet. Unser Thema war, wie sich Männer und Frauen in der Disco verhalten, ob’s da Unterschiede gibt. Und es gibt voll die Unterschiede. Männer bleiben in eher ihrer Clique, während Frauen den Kontakt suchen, auch zu anderen Leuten. Und dass die eine Gogo-Tänzerin schon Megacellulite hatte. Hab ich zwar auch, aber ich tanz auch nicht Gogo.

Sozialpädagogisches Mission Statement

Es waren einmal zwei Jugendleiter in Schwerin…

Kinder brauchen Grenzen. Wir rücken die Grenzen in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Die emanzipatorischen Wurzeln unseres Metiers verführen dazu, mit Kindern auf Augenhöhe zu sprechen. Traumata der Vergangenheit haben uns jedoch klug werden lassen: Heute arbeiten wir an uns, bis wir in jedem Kind einen kleinen Kriminellen sehen. Einmal in die Falle des Regelverstoßes getappt – und uns sollte der Teufel holen, wenn wir mit den Kindern Regeln „vereinbaren“ würden, an die man sich auch halten kann – hat das Kind Unrecht, komme, was da wolle, da wird nur noch draufgehauen und kleingemacht. Schließlich haben wir Werte zu vermitteln: „AUF DIESE WEISE IST ES KLAR, DAS SOLVEIG UND KEVIN VOLL IN DEN KONFLIKT KOMMEN! WIR SIND EINE GEMEINSCHAFT UND WIR STELLEN UNS UNSEREM PROBLEM, VERSTANDEN?!“ Unsere Macht ist die Definitionsmacht darüber, worin das Problem besteht (man hat das ja schließlich studiert). Von dieser Definitionsmacht kein Jota an ein Kind abzugeben, so vernünftig es auch argumentieren mag, ist das Wichtigste überhaupt. Sachargumenten mit dem Wechsel der Gesprächsebene zu begegnen („Darum geht es nicht, es geht darum, dass du…“) ist das A und O unserer Kommunikationskunst. Nur so gelingt es, während einer Jugendfreizeit permanent zu gut für diese Welt und entsprechend übellaunig zu sein. Die volle pädagogische Kunst ist erst entfaltet, wenn es beim Anblick unserer galligen Mienen, hinter denen wir die nächsten Attacken auf unsere Schützlinge vorbereiten, schon beim Frühstück auch den anderen Gästen der Jugendherberge die Kehlen zuschnürt.

Adel

Ich weiß nicht, wie S. damals in der zehnten Klasse darauf kam, die Stufendumpfbacke, die als besonderes Kennzeichen einen Grafentitel, fünf Vornamen und die einschlägigen Präpositionen im Nachnamen trug, ausgerechnet als „Bauer“ zu beschimpfen. Deren Reaktion jedoch war bezeichnend: Packte seinen Personalausweis aus und präsentierte mit ätzender Gebärde eben Genanntes. Tiefer kann Adel nicht sinken.

Hitler

Amerikaner reden gerne über Hitler. Keine amerikanische Fernsehserie, in der er nicht seinen Auftritt gehabt hätte. „Hitler!“ schallt es von den Wolkenkratzerwänden Manhattans wider. „Hitler!“, muhen die Kühe in Nevada. „Hüüütlååå!“, tutet der Mississippidampfer. „Hitler, Hitler!“, klackern die Kugeln des texanischen Revolverhelden. Das war jetzt ein bisschen übertrieben. Die lautere Wahrheit ist hingegen folgender Dialog aus dem Film Das Netz. Der deutsche Dokumentarfilmer Lutz Dammbeck interviewt einen älteren amerikanischen Gelehrten über Ted Kaczynski, den berüchtigten „Unabomber“, der zwischen 1978 und 1995 Briefbomben verschickte und schließlich ein Manifest wider den technischen Fortschritt veröffentlichte:

  • What do you think about Ted Kaczynski?
  • He’s a madman.
  • But he’s a scientist. He studied maths in Harvard.
  • So what? Hitler was an artist. He studied in Vienna.
  • Did you read his manifesto?
  • You mean Mein Kampf?
  • No, I mean the Unabomber manifesto.