Beim Schreiben meines Auslandssemestererfahrungsberichts für meinen Sponsor, die Landesstiftung Baden-Württemberg, stolperte ich heute, als ich versuchte, in einem Verbletztsatz einen Ersatzinfinitv (müssen) und ein normales Partizip II (gelinst) zu koordinieren. Letzteres sehen wir in (1) in natürlicher Umgebung, einem normalen Verbletztsatz. Das Perfekt des Modalverbs müssen wird nicht mit normalem Partizip II, sondern mit Ersatzinfinitv gebildet, wie wir in (2) sehen. Allerdings will zumindest mein Sprachgefühl, dass das Hilfsverb hätte sich dann an den Anfang des Verbalkomplexes bewegt (3). Dasselbe mit (1) zu machen ergibt allerdings Murx, jedenfalls im Hochdeutschen (4). Im einen Fall muss hätte sich also bewegen, im anderen darf es nicht. Wenn man jetzt die beiden Phrasen mit den Master-1-Kursen vorlieb nehmen müssen und möglicherweise neidisch über den Rhein gelinst mit und koordiniert, führt das zum Konflikt. Bewegt man hätte nicht, klingt es für mich komisch (5). Bewegt man es, klingt es sehr komisch (6). Ein unauflösbares Dilemma? Ich bin ihm ausgewichen, indem ich den Satz zu einem Verbzweitsatz umbaute (7).
(1) dass ich möglicherweise neidisch über den Rhein gelinst hätte (2) ?? dass ich mit den Master-1-Kursen vorlieb nehmen müssen hätte (3) dass ich mit den Master-1-Kursen hätte vorlieb nehmen müssen (4) * dass ich möglicherweise neidisch hätte über den Rhein gelinst (5) ? dass ich mit den Master-1-Kursen vorlieb nehmen müssen und möglicherweise neidisch über den Rhein gelinst hätte (6) ?? dass ich mit den Master-1-Kursen hätte vorlieb nehmen müssen und möglicherweise neidisch über den Rhein gelinst (7) ich hätte mit den Master-1-Kursen vorlieb nehmen müssen und möglicherweise neidisch über den Rhein gelinst
Meine kurzen Gedanken dazu: Geht man davon aus, daß der Ersatzinfinitiv ein Infinitiv ist, nicht bloß eine Maske des PII, so sind EI und PII ja aller Erwartung nach schon kategorial verschieden und ihre Projektionen sollten dann nicht koordinierbar sein. Schon
„vorlieb nehmen müssen und möglicherweise neidisch über den Rhein gelinst“
müßte demnach als abgeschlossene Koordinationsstruktur ungrammatisch sein. Daß es das aberoffenbar gar nicht ist, finde ich gerade einigermaßen erschütternd.
Ich persönlich betrachte das ganze rekursiv-kaskadisch.
vorlieb nehmen
vorlieb nehmen müssen
vorlieb nehmen gemusst haben
Der Duden schreibt zwar vor, dass das PII von Modalverben dem Infinitiv gleiche, doch hat obige Variante den Vorteil, dass man das „haben“ nicht nach vorne schieben muss – was meiner Meinung nach nur aus Übersichtlichkeitsgründen und nicht aus grammatischem Zwanz heraus geschieht.
„dass ich mit den Master-1-Kursen vorlieb nehmen gemusst und möglicherweise neidisch über den Rhein gelinst hätte.“
Es gibt übrigens kaum größere Gehirnakrobatik, als sich einen Satz mit einem vier- oder mehrteiligen Prädikat (müsste gelesen worden sein) auszudenken, und den dann in einen „Verbletztsatz“ zu schmeißen ohne das Vollverb nach vorn zu schieben. ^^
Ich weiß, dass das Buch gelesen worden sein müsste.
Hast Recht, (2) und (5) scheinen mir mittlerweile gar nicht mehr so verkehrt. Das mit der Gehirnakrobatik kann ich allerdings nicht nachvollziehen, das flutscht bei mir. Man muss doch nur den einzigen konjugierten Verbbestandteil ans Satzende befördern und alles andere so lassen.