In der Festung

Traum von 2009

Ich betrete mein Düsseldorfer Jugendzimmer. Hinter der Tür hat sich Post angesammelt, als wäre ich im Urlaub gewesen. Zumindest einige Magzine schiebe ich beim Öffnen vor mir her. Eins der Magazine antwortet auf die Leserfrage, ob im MGM-Hotel in Las Vegas echte Löwen leben, mit „vermutlich“ und verspricht die definitive Antwort für die nächste Ausgabe.

In einem Text spottet Max Goldt über eine Stadt – nehmen wir mal an, es sei Regensburg –, die traditionell behördlich festgesetzte „Regenmonate“ hat. „Die Regensburger“, heißt es sinngemäß, „machen sich wohl ihr Wetter selbst, von Amts wegen.“ Wie ich in einem der Magazine lese, ist der Regen jedoch keineswegs die Folge, sondern die Ursache der Regenmonate. Während dieser Monate befindet sich die „Regenwehr“ im Einsatz, die die Stadt vor Verheerungen durch Regen schützt. Teil der Regenabwehrstrategie ist eine dicke steinerne Stadtmauer. In der Stadtmauer befinden sich hohe, würfelförmige, graue, leere Betonräume, die jeweils nur durch eine Holztür in der Außenseite zugänglich sind. Bei Belagerung der Stadt durch extreme Wetterlagen sind die Stadttore geschlossen und die Räume nicht benutzbar, ähnlich den Lagerräumen, die in manchen Städten direkt an die Kanäle gebaut sind, bei Hochwasser.

In so einer Festung befinde ich mich gerade auch. Ein Schneesturm herrscht. Das ist fatal für Wanderer, die in der Festung Schutz suchen: sie können sich nur in einen der Außenräume „retten“ und erfrieren dort meist. Das ist dem Vernehmen nach soeben dem Postmann passiert. Ich bin in der Festung. Mein Zimmer hat sich in eine orange runde Hotellobby gewandelt, in der ich gerade, Magazine lesend mit Laptop auf dem dunkelbraunen Bettsofa, wohl für ältere Gäste gedacht, die während Familienfeiern mal eine Pause brauchen, gerade nicht mehr so recht wohlgelitten bin, weil eine Party beginnen soll. Die Rezeptionistin führt gerade drei junge, internationale, mir unbekannte Rucksackreisende hinein und bedeutet mir, diskret das Lager zu räumen. Ich hinterlasse es zusammengeklappt und ordentlich.

Die Party wird aber nett, denn es kommen auch Freunde von mir. Während ihr hört der Schneesturm auf und ein knurriger mittelalter Mann geht nach draußen, um in den an der Stadtmauer angebrachten Briefkasten zu gucken. Er hat Post. Ich will auch einen Briefkasten öffnen, öffne aber eine Holztür und erblicke in dem dahinter liegenden Außenraum den erfrorenen Briefträger, in einer Ecke zusammengerollt. In der Mitte des Raumes liegt eine weitere mit Eiskristallen überzogene Leiche. Nein – sie bewegt sich! Was soll ich tun? Erste Hilfe für Erfrierungsopfer – davon habe ich keine Ahnung. Aufwärmen – ist das gut oder macht es alles noch schlimmer? Ein Profi muss her.

Ich laufe nach drinnen. „Ein Überlebender!“ Ein langer, ernster, hellblonder Jüngling springt auf und rennt zum Überlebenden. Ein kleiner feister Jüngling bedeutet mir, der Aufgesprungene sei Medizinstudent und man solle am besten zu zweit zum Überlebenden gehen. Ich renne zurück und sage dem Mediziner, er möge mir einfach Anweisungen geben, wenn er Assistenz gebrauchen könne. Er wickelt die verfrorene Gestalt aus ihrer Decke und beginnt, zum Aufwärmen alle möglichen Abfälle mit Luftpolster unter ihre Kleidung zu stopfen (z.B. Joghurtbecher, Starbucks-Bechermanschetten). Es handelt sich um ein schlankes blondes Mädchen.

Bei einer ähnlichen Rettungsaktion in einem anderen Außenraum ist M. heldenhaft so lange durch den Schnee gelaufen, dass sein Fuß erfroren ist. Er hält sich jetzt an mir fest, während er sich mit meinem Gürtel den Fuß amputiert. Das klappt fast auf Anhieb und ohne Blut. Bevor wir zum Abbinden mit irgendwelchen ollen Küchentüchern schreiten, kommt mir zum Glück noch die Idee mit dem Desinfizieren. Ich frage den Mediziner nach seinem nicht mitbekommenen Namen, der erstaunlicherweise nicht Christian ist, und: „Nach Amputieren – richtiges Vorgehen – desinfizieren und mit Stoff abbinden?“, was er bejaht.

Die Amputation nimmt mich mit, ich fühle mich selber physisch entfußt und gerate für einen kurzen Moment in Panik, wir hätten aus Versehen meinen gesunden rechten Fuß erwischt. Dann stellt sich aber heraus, dass ich ihn nur unwillkürlich eingezogen hatte. Wieder ausgeklappt kann ich die Treppe hinuntergehen, neben M., der jetzt J. ist und bereits eine sehr effiziente Hoppeltechnik einsetzt.

Ein Stockwerk tiefer – alles ist schwarz, modern und elegant eingerichtet – geht die Party weiter. Auch die vor dem Erfrierungstod Gerettete ist schon putzmunter dabei. Sie heißt Anna, spricht sehr gut Englisch, fast akzentfrei, ist keck, schlank und Brillenträgerin, also genau mein Typ. „Where are you from?“, frage ich, und sie zögert. „Should I really tell you?“ Sie scheint das Ansehen ihres Herkunftslandes in der Welt gering einzuschätzen. „I’ll show you a short film“, entscheidet sie, und auf einem großen Flachbildschirm erscheint eine Kamerafahrt über die Regale des größten Elektro-Fachmarkts, den ich je gesehen habe. Das Erstaunliche: Überall stehen nur Handys. Handys, so weit das Auge reicht. Handys hier, Handys da, Handys, Handys, Handys, Handys, Blackberrys, Handyzubehör und Handys. Die Frage nach der Nationalität kann als geklärt gelten. Die Beschriftungen der Ware scheinen auch finnisch zu sein, obwohl mir die Buchstaben ein paar Diakritika zu viel haben, weshalb ich kurz wahnhaft erwäge, Anna könnte aus Ungarn kommen. Finnisch stimmt aber. „It’s only cellphones“, beschwere ich mich scherzhaft, „you Finns should invent something new.“

Anna jedenfalls scheint innovativ zu sein: vor einer Stunde noch fast erfroren hat sie jetzt bereits einen Job in diesem Hotel, dieser Firma oder diesem Theater, was immer es auch ist, und hat sich an technischer Ausrüstung von der Firma das absolute Maximum zur Verfügung stellen lassen. Sie trägt plötzlich am ganzen Körper Gestelle, die Monitore und Tastaturen halten, und scheint sehr vergnügt darüber. Nun ist es so, dass mein bester Freund gerade einen Fuß verloren hat, und ich heftigst (für meine Verhältnisse) flirte, was mir frivol und wenig zweckdienlich scheint, man will ja nicht so verantwortungslos rüberkommen. Relativ abrupt wende ich mich daher wieder M. zu und wir gehen ein Stockwerk tiefer, während Anna mit all der Computerausrüstung die Treppe nach oben nimmt. Der Chef im grauen Anzug kommt vorbei und weist sie darauf hin, dass sie den Aufzug nehmen kann, was sie mit „you are a remarkable man“ quittiert, was ja wohl hoffentlich spöttisch gemeint ist. Egal. M. – der schon wieder J. ist – humpelt neben mir her und spricht sehr leise. Ich bitte ihn mehrfach, lauter zu reden, bis er schließlich mich leicht gereizt bittet, langsamer zu reden. Stützen lassen will er sich von mir entschieden nicht.

Eine letzte Metamorphose macht er durch, als wir in den schwarzgepolsterten Zuschauerreihen einer schwarzbevorhangten Studiobühne Platz nehmen, die sich in diesem untersten Stockwerk befindet. Er wird zu einem grauhaarigen, elegant gekleideten Mann, gezeichnet von einem erschreckenden Erlebnis, auf das eine – nun leere – weiße Bahre hinweist. Hier, erzählt der Mann – jetzt wohl das höchste Tier am Theater – lag bei Proben oft der Intendant, der trotz schwersten Parkinsons darauf bestand, seine Arbeit zu machen, und sich für seine „Kriegsrhetorik“ entschuldigte. Damit meinte er seine von der Krankheit entstellte Aussprache. Das Schockierendste aber war, dass der Intendant „nicht einmal 22“ war – ja, sogar, wie der Grauhaarige nach kurzem Nachdenken präzisiert, erst 14.

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