Hirnforschung und Willensfreiheit

Der Mensch bleibt sich ein Rätsel

Da war letzte Woche mal wieder ein Interview zum Thema Hirnforschung und Willensfreiheit in der Zeit. Wie man sieht, bringt mich das Thema in Wallung. Es könnte daher passieren, dass hierzublog eine Artikelserie folgt. Beginnen wir so:

Bisher habe ich zwei „Probleme“ ausmachen können, zwei wissenschaftliche Positionen, die von vielen als störend oder beunruhigend empfunden werden, und dieses Empfindens wegen gibt es die Debatte. Leider werden die beiden Probleme nur selten sauber voneinander unterschieden.

1) Der freie Wille ist eine Illusion. Das geht auf Experimente des Hirnforschers Benjamin Libet aus den siebziger Jahren zurück. Er fand anscheinend heraus, dass Entscheidungen (z.B. einen Knopf zu drücken) neurophysiologisch unumkehrbar werden, bevor sie der Person, die entscheidet, bewusst werden. Das Gehirn setzt eine Ereigniskette in Gang, die zum Senden von Impulsen durch Nerven, zum Bewegen von Muskeln, kurz: zum Ausführen von Handlungen führen, und das Bewusstsein weiß erst Sekundenbruchteile später davon. Legt man die gängigen Vorstellungen von Raum und Zeit zugrunde, kann das Bewusstsein also keine Macht über Entscheidungen haben. Kommt es uns also so vor, als würden wir Entscheidungen bewusst treffen, muss das eine Illusion sein. Kann man trotzdem noch sagen, dass man selbst sein Handeln bestimmt? Wer oder was ist man selbst?

2) Der freie Wille ist nicht frei. Diese These basiert nicht auf irgendwelchen konkreten Erkenntnissen der Hirnforschung, sondern man muss das eigentlich als Annahme voraussetzen, wenn man Hirnforschung überhaupt betreibt. Denn Naturwissenschaft bewegt sich grundsätzlich innerhalb eines naturalistischen Weltbildes. Welche Ursachen man also auch immer für menschliches Verhalten und Empfinden findet, ob das Bewusstsein eine entscheidende Rolle spielt oder nur machtloser Zuschauer ist – letzten Endes wird man alles auf die Positionen und Bewegungen von Elementarteilchen zurückführen, der Mensch wird also physikalisch determiniert sein. Die Menschen neigen dazu, Erkenntnisse wie diese nicht schmeichelhaft zu finden. Manche wehren sich dagegen, von Teilchenbewegungen bestimmt zu sein, wie andere sich dagegen wehren, vom Affen abzustammen. Die Quantenmechanik liefert einen Ausweg: Ihr zufolge ist, so weit ich weiß, bei allen Teilchenbewegungen eine Menge objektiver Zufall im Spiel, der sich wissenschaftlichen Vorhersagen entzieht. Statt nun aufzubegehren, zufallsgesteuert wolle man schon gar nicht sein, sollte das gekränkte Individuum m.E. berücksichtigen, dass nicht alles, was Zufall heißt, auch profan sein muss – hinter dem Unvorhersagbaren kann man ein metaphysisches Selbst oder einen Gott vermuten, wenn man möchte.

Noch habe ich nicht herausgefunden, um welches dieser beiden Probleme sich die Debatte in den letzten Jahren hauptsächlich gedreht hat. Vielleicht ging es immer nur munter durcheinander. Gemeinsam ist beiden Problemen, dass sie gängigen Vorstellungen vom „freien Willen“, von Schuld und Verantwortlichkeit die Grundlage zu entziehen scheinen. Damit lassen sich trefflich Schlagzeilen machen. Ich finde aber, bevor wir uns aufregen, müssen wir uns erst mal darüber klar werden, was das überhaupt für Grundlagen gewesen sein sollen. Worauf haben unsere Vorstellungen von Schuld, Verantwortlichkeit, gerechter Strafe usw. denn vorher basiert? Wie haben wir uns den freien Willen vorgestellt, bis er als Illusion entlarvt wurde? Frei wovon wollen wir unseren Willen haben?

Neben mir liegt das Buch mit demselben Titel wie dieser Blogeintrag. Es enthält ein gelesenes Vorwort und 31 ungelesene Aufsätze. Ich hoffe für die nächste Zeit auf Erkenntnisgewinne, die die Wände wackeln lassen. Wenn ich das Gefühl habe, dass es sich lohnt, werde ich Sie, liebe Leser, an meinem Erkenntisprozess teilhaben lassen.

17 Gedanken zu „Hirnforschung und Willensfreiheit

  1. Ingo-Wolf Kittel, Augsburg

    Die Deutung der Daten, die in Experimenten vom Typ Benjamin Libet’s gewonnen werden, weist m.E. eine fundamentale Lücke auf. M.W. hat schon Libet selbst dabei genauso wenig wie irgendeiner derjenigen, die seine Experimente weitergeführt oder abgewandelt haben, jemals die „automatische“, d.h. reflektorische Regelung des physiologischen Muskeltonus bei Willkürbewegungen mit in Betracht gezogen, die dabei ausgeführt werden müssen. Dieses Reflexgeschehen ist sowohl mit der Wahrnehmung gekoppelt wie mit unserem Vorstellen. Dieser letzte Fall ist als Carpenter-Effekt bekannt. Mit ihm wird z.B. das Pendeln erklärt.

    Das von Libet und allen bisherigen Nachahmern in Experimenten zur Willkürmotorik beobachtete – und immer auch „motorisch“ genannte – Bereitschaftspotential ist bisher deswegen nie mit der Muskelphysiologie in Beziehung gesetzt, sondern ohne weitere Begründung stattdessen als ein Entscheidungs- oder Willensäquivalent angesehen worden. (s. hier und hier ab „Untersuchungen zur Willkürmotorik…“)

    Ein weiterer Schwachpunkt der gesamten jahrelangen Diskussion über unsere Willensfreiheit bisher ist die vieldeutige Rede vom „Willen“! Das ist allerdings nur ein Detail einer weit umfangreicheren Problematik: der unter Hirnforschern üblichen Begrifflichkeit und ihrer Verwendung, wie der Wissenschaftsphilosoph Peter Janich in „Kein neues Menschenbild – Zur Sprache der Hirnforschung“ jüngst erst wieder gezeigt hat (wie 2003 schon der australische Hirnforscher Max Bennett und der Oxforder Philosoph Peter M.S. Hacker in „Philosophical Foundations of Neuroscience„).

    Noch weniger ist bekannt, was von der Willens- oder Volitionspsychologie her dazu zu sagen ist. (Das Wesentliche dazu habe ich in dem z.Zt. 1., 5. und 9. Text v.o. hier in seinen prinzipiellen Einzelheiten zu skizzieren versucht.)

    Stattdessen werden z.T. obskure „philosophische“ Theorien von einer „starken Auffassung“ von Willensfreiheit bemüht (z.B. von Gerhard Roth in diesem Beitrag zu dem Mitteilungsblatt „Information Philosophie“) und zwar allein zu dem Zweck, diese von vornherein abwegige Auffassung als unhaltbar hinzustellen und zu suggerieren, „das Problem der Willensfreiheit“ bestehe in dem illusionären „das Gefühl“, in seinen Entscheidungen frei zu sein. (Stellungnahme dazu hier)

  2. Grinsekater

    Hauptsächlich scheint mir die Willensfreiheitsdebatte der letzten Jahre darin zu bestehen, daß sich die Streitparteien gegenseitig Unkenntnis und Unverständnis vorwerfen, und zwar fast immer zu Recht. Oft wünsche ich mir nur noch, daß einfach mal alle die Klappe hielten. Den ersten Schritt tue ich hiermit selbst und enthalte mich jedes weiteren Kommentars zum Thema. Jedenfalls nehme ich mir das hiermit in aller Öffentlichkeit fest vor und soll verdammt sein, wenn ich es am Ende doch nicht lassen kann.

  3. Herr Rau

    Ich bin ja ziemlicher Laie, mein Wissen basiert auf einem fünfzehn Jahre alten Sonderheft des Scientific American, das ich aber gründlich durchgeackert habe.
    Die Frage nach dem freien Willen ist inzwischen für mich gar nicht mehr so interessant wie die grundlegendere Frage, wie es überhaupt zum Phänomen Bewusstsein kommt. Zumindest damals gab es darauf erklärtermaßen keine befriedigende Antwort.

  4. Ingo-Wolf Kittel, Augsburg

    Sehr geehrter Herr Rau,

    zum „Ursprung des Bewußtseins“ hat der vor zwölf Jahren verstorbene Princeton-Psychologe Julian Jaynes erste psychologisch plausible Thesen vorgelegt. Das war in den USA vor bereits 33 Jahren! In Deutschland wurde sein Buch „The Origin of Consciousness…“ vor 21 Jahren veröffentlicht und in TB-Form vor 16 Jahren. (Einen Abriss seiner Überlegungen finden Sie hier.)

    MfG

  5. Ingo-Wolf Kittel, Augsburg

    PS Vielleicht ist noch hilfreich zu erwähnen, dass unser spezifisch menschliches „Bewusstsein„, wie dies interessanterweise schon in den alten lateinischen und griechischen Ausdrücken con-scientia für Mit-Wissen, syn-eidesis für Mit-Bild und syn-aistesis für Mit-Wahrnehmung anklingt, wesentlich auf unserer Vorstellungsfähigkeit beruht.

    Normalerweise meinen wir mit unserem vieldeutigen Begriff „Bewusstsein“ ja nicht nur, „bei Bewusstsein“, also wach zu sein. Der bloße Zustand der Wachheit wäre besser als „Bewusstheit“ zu bezeichnen, eine Bewusstseinseinstellung, die absichtlich einzunehmen oder zu erreichen allerdings gar nicht so leicht ist, wie etwa ZEN-Schüler wissen, die versuchen, Nicht-Denken zu verwirklichen oder Buddhisten, die sogar „Achtsamkeit“ verwirklichen wollen.

    Die Eigenheiten unseres Vorstellungsvermögens haben m.W. erst in jüngster Zeit von dem analytischen Philosophen Colin McGinn eine gründliche Analyse und systematische Beschreibung erfahren: in seinem jüngsten Buch „Mindsight“, dessen Titel im Deutschen wortmächtig mit „Das geistige Auge – Von der Macht der Vorstellungskraft“ wiedergegeben wurde.

  6. Ingo-Wolf Kittel, Augsburg

    @ Griesekater:

    I. „Daß einfach mal alle die Klappe halten“ ist in der hirnigen Hirndebatte hierzulande in Bezug auf unsere Willensfreiheit eigentlich schon im Januar 2004 angeregt worden und zwar von einem der Hauptbeteiligten selbst! Wolf Singer hat damals ja gefordert, „wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen„.

    Begründet hat er das in der FAZ interessanterweise fachfremd mit der psychologischen Behauptung „Keiner kann anders, als er ist“ – und zwar verschaltet „ist“, wie sinngemäß zu ergänzen wäre; denn seine sonderbare Persönlichkeitspsychologie gründete Singer auf die schon neurologisch zweifelhafte Behauptung im Untertitel der gedruckten Fassung seines Artikels „Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden„. Interessanterweise ist genau diese Wendung mit einer kleinen sprachlichen Abwandlung zum Haupttitel seines Beitrags zu dem schon erwähnten und von dem FAZ-Redakteur Christian Geyer herausgegebenen Reader „Hirnforschung und Willensfreiheit“ gemacht worden.

  7. Ingo-Wolf Kittel, Augsburg

    2) Dieses TB enthält real mehr als nur die Texte der Diskussion, die daraufhin wider Singers Aufruf in der FAZ losgebrochen ist und monatelang angedauert hat – beispielsweise den erstaunlich sachkundigen wie erfreulich kritisch informierenden Beitrag von Helmut MayerAch, das Gehirn„, dessen Untertitel original „Über einige neue Beiträge zu neurowissenschaftlichen Merkwürdigkeiten“ hieß. Bei den „Nachweisen“ in dem Buch von Geyer fällt außerdem auf, dass Singer seinen Artikel Wissenschaftlern gegenüber ursprünglich mit ganz anderem Titel präsentiert hat. Selbst für Wissenschaftsjournalisten war dies keiner Erwähnung wert und schon gar nicht einer aufmerksamen Reflexion. So wurde m.W. auch nie davon berichtet, dass derselbe Text von Singer unter seinem Originaltitel 2006 auch in die (von H.-R. Duncker hrsg.) Festschrift „zum 100jährigen Jubiläum der Gründung der wissenschaftlichen Gesellschaft zu Frankfurt „Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie aufgenommen wurde. Das ist umso bemerkenswerter, als er hier von dem schon erwähnten Wissenschaftsphilosophen Peter Janich in einer „Fallstudie“ mit dem Titel „Zwischen Selbsterfahrung und Neurobiologie – ein Kampf zweier Mythen?“ einer eingehenden Analyse unterzogen wurde.

  8. Ingo-Wolf Kittel, Augsburg

    3) Leider wird die Öffentlichkeit nicht einmal von Wissenschaftsjournalisten über die doppelbödige Haltung gerade der hierzulande „am meisten gefragten“ Hirnforscher informiert! Denn auch Gerhard Roth vertritt als „Konstrukt seines Gehirns andere Thesen als persönlich vor wissenschaftlichen Kollegen, wie hier geschildert wird. (Zur heute im Wesentlichen unveränderten Gesamtsituation s. hier.)

    Das zumindest sollte nicht verschwiegen werden: die zwielichtige Haltung hoch angesehener Wissenschaftler, die ihren Nimbus im Zusammenspiel mit sensationssensiblen Journalisten nutzen, in der von diesen geschaffenen und bis in die Universitäten widerhallenden „Öffentlichkeit“ im wesentlichen unhaltbare Behauptungen zu verbreiten, und zwar nicht nur deswegen, um ins Gespräch zu kommen oder zu bleiben, sondern auch sehr private Interessen zu verfolgen wie beispielsweise zu ihrem Staatsgehalt und anderen Pfründen auch noch einen ausgesprochen ansehlichen Nebenverdienst dafür einzustreichen, wie Roth einmal in einem – wen ich mich recht erinnere – Focus-Interview offen erwähnt hat.

    Es könnte die umgangssprachliche Redewendung sein, nach der einem angesichts derartiger Machenschaften „das Messer in der Tasche aufgehen könnte“, die einen sachverständigen Krimiautor zu seiner fulminanten Abhandlung „Kritik der mörderischen Vernunft“ inspiriert hat…

  9. Herr Rau

    Vielen Dank für die Hinweise. Bin jetzt erst mal weg, dann werde ich ihnen nachgehen. (Den Krimi habe ich im Regal, aber noch nicht gelesen.)

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  11. ke

    Vielen Dank für diese vielen informativen Zeiger! Insbesondere dieses letzte Buch macht einen sehr vielversprechenden Eindruck und kommt auf meinen Zu-lesen-Stapel.

  12. Ingo-Wolf Kittel

    HINWEIS: Bennett & Hacker’s etwas weiter oben angeführte fundamentale Werk „Philosophical Foundations of Neuroscience“ ist im April 2010 bei der WBG (Darmstadt) in deutscher Übersetzung herausgebracht worden – mit dem etwas verfälschenden Titel Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften (statt genauer „Neurowissenschaft“ wie im Original).
    .
    Und wie abgesprochen ist bei Suhrkamp jetzt im Juni 2010 auch noch die deutsche Übersetzung der vorstehend genannten Dokumentation der Diskussion des Lehrbuches von Bennet & Hacker in einer Spezialveranstaltung der APA – American Philosophical Association von Ende 2005 unter dem Titel Neurowissenschaft und Philosophie – Gehirn, Geist und Sprache erschienen!

  13. Ingo-Wolf Kittel

    Die bisher einzige von mir ausgemachte Rezension der ersten Neuerscheinung stammt von dem kenntnisreichen FAZ-Redakteur Helmut Mayer und ist online hier zu finden – …mit einer Leserzuschrift von mir mit den schon oben gegebenen Hinweisen auf seine Rezensionen der englischen Originale in früheren Ausgaben der FAZ hier.

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