„Die Menschen sind heute so angepasst, ,pragmatisch‘, blutleer, ausdruckslos. Wie eine Epidemie greift die Standpunktlosigkeit um sich. Um es allen Recht zu machen, ziehen sie sich in die Neutralität zurück, wo sie völlig konturlos werden.“ Kennen Sie diese Behauptungen? Berufene Köpfe haben sich darüber kluge Gedanken gemacht, und als Trittbrettfahrer haben auch Phrasendrescher das Thema für sich entdeckt, die damit gegen Bezahlung Magazin- und Zeitungsseiten füllen. Man vertraut anscheinend darauf, dass der Leserschaft die Klage über die Leute von heute so gut gefällt, dass man nur den üblichen Tonfall anzuschlagen braucht, und schon nicken die Leser rhythmisch mit den Köpfen und werden vom Drive des Zeitgeistbashings auf einer Wolke der Zustimmung davongetragen, auf der sie unsaubere Gedankengänge oder glattwegger (oder heißt es glattwecker?) Stuss nicht mehr stören. Wäre Adam Soboczynskis Artikel Heller Wahnsinn aus dem dieswöchigen Zeit-Magazin noch etwas krasser, könnte er als gelungene Genreparodie durchgehen. Es handelt sich um eine Polemik gegen die Farbe Weiß. Ja, Sie haben richtig gehört. Für Sie, werte Leser, habe ich die lustigsten Stellen herausgepickt und kommentiert.
Zunächst einmal die Belegstellen für „Zeitgeistbashing“, also schlecht verkleidetes „Zu meiner Zeit“ und „Die Jugend von heute“, Hervorhebungen von mir: „Ist die Welt noch schön? Sie ist es nicht. Sie ist ein einziges großes Krankenhaus geworden.“ Geworden. Welcher Zeitabschnitt da mit der Gegenwart verglichen wird, lässt Soboczynksi im ganzen Artikel nicht auch nur ungefähr durchblicken. Ein typisches Kennzeichen für heiße Luft, siehe auch meinen Ausfall gegen das Wort inzwischen. Genau so bei „ist (…) zum Massenphänomen avanciert“, „Wie die Dinge uns heute überfordern“, „Haben wir keinen Mut mehr für eindeutige Botschaften?“ und „Die Farbe Weiß kam zunächst als ästhetisches Distinktionsmerkmal von Töchtern und Söhnen aus der Provinz auf, die sich nach Berlin oder Köln verirrt hatten“ – diese Entstehungsgeschichte liest sich so schön wie der geniale Beitrag von vor vielen Jahren im Eulenspiegel:
Die Erschaffung des Schafs, dieses etwa schafshohen, wolligen Pflanzenfressers, wurde lange Zeit irrtümlich Gott zugeschrieben. (…) Ende der 20er Jahre (…) fiel dem Münchner Teilzeitschlawiner Manfred Wolf(!) plötzlich auf, dass ihm etwas fehlte: Schafe. Also machte er sich ans Werk – und nach 30 Minuten eifrigen Sägens, Hämmerns und Kicherns hatte er aus einem ausgedienten Hund, einer Autobatterie, einem alten Reißverschluss und 10 Pfund Schafswolle das Welterstschaf fabriziert. Keine drei Wochen später ging das Ding in Serienproduktion. Der Erfolg war überwältigend, nicht zuletzt die Schäfer waren begeistert.
Die verirrten Landeier werden also als provinzielle Möchtegern-Trendsetter hingestellt –Soboczynski legt noch eins drauf und dichtet ihnen „biomöhrenbreigesättigten Nachwuchs“ an – und in eine Umgebung von wahllos herausgegriffenen, zur polemischen Ausschlachtung hinreichend vorgehypten Merkmalen der Nullziger gesetzt, nämlich „weißen Apple-Notebooks“ und „flach hierarchisierten Unternehmen“. Ob die behauptete Allgegenwärtigkeit der Farbe Weiß wirklich irgendwie mit Provinzflüchtlingen zu tun hat, bezweifelt man schon jetzt und sieht das Problem immer weniger, je mehr der Autor seine Geschichte fast ausschließlich mit Extrembeispielen aus Berliner Extravaganzien (weißes Hotel, weiße Bar, weißes Café) zu untermauern versucht.
Ein plausibles Argument ist im Artikel immerhin untergebracht: „Jeder menschliche Makel ist ausgeleuchtet, jede unreine Pore noch unreiner, jeder Schmutzfleck auf unserem Hemd noch schmutziger, jedes unausgeschlafene Gesicht noch unausgeschlafener im Schein des Lichts, das die Farbe Weiß reflektiert.“ Mehr Sinnvolles scheint aber zu dem Thema nicht zu sagen zu sein, denn es wird jetzt nur noch variiert, mal ins Konfuse, wo „weiß“ mit „ausgeleuchtet“ verwechselt wird, mal ins Abstruse, wo die weiße Umgebung plötzlich etwas Göttliches ist, vor dessen Antlitz das unreine Menschengeschlecht nicht bestehen kann. Damit wäre denn auch noch ein existenzielles Problem im Artikel untergebracht, wow! Nur: War die weiße Umgebung nicht eben noch etwas von ästhetisch verirrten Menschen selbst Geschaffenes? Wie passt das zusammen?
Der Unsinn erreicht im vorletzten Absatz seinen Höhepunkt, wo ein Argumentationsstummel nach dem anderen einem kreuz und quer aus den verschiedensten Richtungen um die Ohren gehauen wird, reich gespickt mit schlichtweg falschen Annahmen: „Warum nur begehren alle diese Farbe? Die doch (wie man aus dem Physikunterricht weiß) gar keine ist.“ Schon wieder so eine Phrase: „Wie man aus dem X-Unterricht weiß.“ Das muss jedenfalls ein schlechter Physikunterricht gewesen sein, ist Weiß doch sehr wohl eine Farbe, wenn auch eine unbunte. Und dann: „Haben wir keinen Mut mehr für eindeutige Botschaften? Für Rot wie Liebe! Oder für Grün, die Hoffnung!“ Wenn ich mir jetzt also ein grünes T-Shirt anziehe, überwinde ich damit den Neutralismus meiner Generation. Mhm. Aha. Im Folgesatz biegt Soboczynski ohne erkennbaren Zusammenhang in die Religion ab, ah ja, das ist schon ein rechtes Spektakel zu lesen, vielleicht gönnen Sie sich die Lektüre ja mal und pflichten mir dann bei, dass er zu den boulevardmäßigeren Absonderungen des ohnehin nicht immer völlig unboulevardmäßigen Zeit-Magazins zählt, wenn man ihn nicht als ironisch liest. Was mir nicht gelungen ist.
Weiß und schwarz sind tatsächlich keine Farben. Weiß gehört laut Physikunterricht Stichwort Lichtbrechung zu der Summer aller Farben.
Weiß ist kein Farbton, wohl aber eine Farbe (im Sinne von Sinneseindruck).