Seit vielen Jahren bin ich Hausmeister des der Nachtschule angeschlossenen Wohnstollenheims. Ich bearbeite die Bitten von Nachtschülern, die sich einen Wohnstollen (Website) gebastelt haben. Die Qualitätsanforderungen für neue Wohnstollen sind nicht hoch, aber doch vorhanden. Wo jeder Raum (Webseite) nur eine Variante des Satzes „Dieser Raum wird erst noch eingerichtet“ enthält, habe ich mir eine Standardantwort zurechtgelegt: „Bitte melde dich noch einmal, wenn du deinen Stollen etwas vollständiger eingerichtet hast.“ Inzwischen benutze ich sie jedes Mal in der Gewissheit, dass ich von der betreffenden Daseinsform nie wieder etwas hören werde.
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Susi`s Grafik Salon
Logo, Corporate Design, Styling der Chefinnen und der Präsentationsfolien: alles an dieser Firma, die sich da auf einem Gründerworkshop präsentiert, deutet auf „Nagelstudio“ hin. Doch der Eindruck täuscht, tatsächlich stellt die Firma Logos, Corporate Designs, Briefköpfe und Websites her. Schon irgendwie ironisch.
Modellbahnraum
Ich habe einen Nachbarn, der zwei Hausnummern vor die Tür seiner Gewerbefläche gehängt hat: seine und meine. Hilfsbriefträger und esoterische Paketdienste werden davon manchmal verwirrt. Dann geht meine Post an den Absender zurück. Ich stellte meinen Nachbarn zur Rede. Er behauptete, die Deutsche Post habe ihm befohlen, beide Nummern zu führen – erster Beweis dafür, dass er bizarr ist. Zweiter Beweis: seine Gewerbefläche. Das Klingelschild bezeichnet sie als „Modellbahnraum“, und es sieht so aus, als sei tatsächlich in den nächsten Tagen die Einrichtung einer großen Modellbahnanlage geplant. Seit mehreren Monaten sieht es so aus. Die Tische stehen leer und auf dem Kopf. Immer, wenn ich am Schaufenster des Modellbahnraums vorbeigehe, sitzt mein Nachbar in einem Drehsessel und liest Zeitung.
Beliebigkeit
Mein Bullshitdetektor (der zwischen den lokalen Ohren) hat nun auch das Wort Beliebigkeit erlernt. Er springt besonders stark an, wenn davon die Rede ist, dass Toleranz, Freiheit oder Offenheit nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden dürfe.
Freiheit bedeutet für mich, dass man mir nicht ohne guten Grund etwas verbietet oder mich zu etwas zwingt. Toleranz bedeutet für mich dasselbe aus der anderen Perspektive: den Leuten nicht ohne guten Grund etwas verbieten oder sie dazu zu zwingen. Eine gute Sache und leicht zu kapieren: Ich darf alles, solange ich den Menschen und der Gesellschaft damit nicht schade. Leicht ist auch zu kapieren, wann man einem Menschen schadet. Schwer zu definieren ist, wann man der Gesellschaft schadet. Ich glaube, noch keine Gesellschaft ist, um zu funktionieren, ohne ein paar ziemlich willkürliche Gesetze ausgekommen, die den einen mehr nützten als den anderen. Doch ich schweife ab.
Dass mir bei der Ausübung meiner Freiheit gewisse moralische und juristische Grenzen gesetzt sind, ist also sowieso klar. Wozu dient dann der Slogan „Freiheit/Toleranz/Offenheit ist nicht Beliebigkeit“? Populär ist er bei den Experten für Verbieten und Vorschreiben ohne guten Grund: Kirchen und konservativen Parteien. Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, sprach zum Dialog der Religionen:
Die Religionen können Beispiele gelebter Toleranz bieten. Sie können zeigen, wie Menschen unterschiedlicher Überzeugungen und Lebensformen in wechselseitiger Achtung miteinander leben können. Eine Vorstellung von Toleranz ist dabei freilich vorausgesetzt, die mit gleichgültiger Beliebigkeit nicht zu verwechseln ist. Toleranz setzt vielmehr voraus, dass Menschen zu dem stehen, was ihnen wichtig ist, und deshalb achtungsvoll mit dem umgehen, was anderen wichtig ist.
Alles klug und richtig, außer zwischen den Zeilen. Warum spricht er von „gleichgültiger Beliebigkeit“ und nicht einfach von „Gleichgültigkeit“? Beliebigkeit zu verneinen heißt, auf Grenzen hinzuweisen. Grenzen, die nicht unbedingt gute Gründe haben, sonst verstünden sie sich ja von selbst. Ich glaube, der Bischof will hier eine Klientel bedienen, die heraushören möchte, dass alle Religionen gleichgestellt sein sollen, aber das Christentum immer ein wenig gleichgestellter. Die Katholiken werden da wie üblich deutlicher:
Der Staat ist nach Meinung von [Erzbischof Reinhard] Marx dennoch nicht verpflichtet, alle Religionen völlig identisch zu behandeln. „Bei der Ausgestaltung des staatlichen Verhältnisses zu den verschiedenen Religionsgemeinschaften sind die verschiedenen Religionen an ihrem konstruktiven Beitrag zu Staat und Gesellschaft zu messen, wenn der Staat seine Grundlagen und seine Freiheitsfähigkeit langfristig sichern will“, betonte Marx.
(…) Dank der Trennung von Staat und Kirche sei unser Staat heute weltanschaulich offen, was aber nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden dürfe. Angesichts der Herausforderungen von unterschiedlichen Religionen bestehe ein großes Potential an Gesprächs- und Diskussionsbedarf über die Stellung von Kirche und Staat, erklärte die Landtagspräsidentin [Barbara Stamm].
Übt ihr eure Religion frei aus, höre ich da heraus, aber nicht beliebig – und die Definition des Unterschieds behalten wir als politische Hegemone uns vor.
Lassen wir DJ Kosmoprolet das letzte Wort:
Andererseits ist es eben nicht Beliebigkeit im Sinne von ‚anything goes‘. Natürlich geht alles, und der/die DJ’n darf auch prinzipiell alles, auch zwei – auch energiemäßig – sich widersprechende Tracks spielen. Selbstverständlich auch gleichzeitig. Auch drei oder mehr. Völlig egal. Es muss nur geil sein.
Sprachkurs Phrasisch I
Phrasisch ist gar nicht so schwer zu verstehen, liebe Kinder, passt mal auf: Ein Buch wird mir als konsequente Fortsetzung eines beliebten Klassikers angepriesen – da ist klar, es handelt sich um einen billigen Abklatsch. Es sei unentbehrlich, heißt es, sowohl für leichte Partyunterhaltung als auch für seriöse Information. Das heißt: Es kann möglicherweise dazu beitragen. Ein andermal lese ich, dass ein Theaterstück sich jeder narrativen oder logischen Auflösung verweigert. Aha, da ist mit chaotischen Szenen zu rechnen, die am Ende auf nichts hinauslaufen! Die taz bezeichnet die Antiquitätenshow „lieb & teuer“ als einen Seismografen der Krise des deutschen Bildungsbürgertums. Gemeint ist natürlich, dass die Sendung ein gutes Beispiel für diese Krise abgibt, weiter nichts. Schließlich die Amazon-Kurzbeschreibung, die uns mitteilt, Franz Kafka habe die Physiognomie des 20. Jahrhunderts entworfen. Das, liebe Kinder, bedeutet – überhaupt nichts. Es ist ein Füllwort, das im Deutschen unübersetzt bleibt.
Fragmente (2)
Zeitung: Nichts wird je wieder sein wie zuvor.
Leser: Doch, alles ist jetzt schon wieder genau wie zuvor.
Forschungsprojekt
Hat man mir auf einer Party erzählt:
Letztes Semester hatten wir zum Beispiel ein Seminar zu Gender Studies. Das war toll. Die Dozentin war voll locker, die war Amerikanerin. Das fand ich voll gut, die war voll offen, gar nicht so wie die Deutschen, verstehst du? Die hat uns auch von ihren Affären erzählt, die sie während der Zeit hatte. Andere Dozenten sind da immer voll streng und achten voll darauf, wie man sich im Seminar beteiligt und machen voll strenge Vorgaben für die Hausarbeiten. Aber sie wollte das gar nicht so machen, sie wollte uns da Freiheit lassen, und das find ich auch gut, weil, wenn ich jetzt zum Beispiel im Seminar nicht so viel sage, kann das ja trotzdem sein, dass ich voll gute Gedanken und Ideen habe, weißt du? Und die Ideen wollte sie halt sehen, und deswegen haben wir eigene Forschungsprojekte machen dürfen. Völlig frei, also sie hat gar keine Vorgaben machen wollen, sie wollte, dass wir selber kreativ werden. Ich bin mit zwei Freundinnen aus dem Seminar ins Top Ten gegangen und wir haben die Leute beobachtet. Unser Thema war, wie sich Männer und Frauen in der Disco verhalten, ob’s da Unterschiede gibt. Und es gibt voll die Unterschiede. Männer bleiben in eher ihrer Clique, während Frauen den Kontakt suchen, auch zu anderen Leuten. Und dass die eine Gogo-Tänzerin schon Megacellulite hatte. Hab ich zwar auch, aber ich tanz auch nicht Gogo.
Geistiges Passivrauchen geht weiter
Sozialpädagogisches Mission Statement
Es waren einmal zwei Jugendleiter in Schwerin…
Kinder brauchen Grenzen. Wir rücken die Grenzen in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Die emanzipatorischen Wurzeln unseres Metiers verführen dazu, mit Kindern auf Augenhöhe zu sprechen. Traumata der Vergangenheit haben uns jedoch klug werden lassen: Heute arbeiten wir an uns, bis wir in jedem Kind einen kleinen Kriminellen sehen. Einmal in die Falle des Regelverstoßes getappt – und uns sollte der Teufel holen, wenn wir mit den Kindern Regeln „vereinbaren“ würden, an die man sich auch halten kann – hat das Kind Unrecht, komme, was da wolle, da wird nur noch draufgehauen und kleingemacht. Schließlich haben wir Werte zu vermitteln: „AUF DIESE WEISE IST ES KLAR, DAS SOLVEIG UND KEVIN VOLL IN DEN KONFLIKT KOMMEN! WIR SIND EINE GEMEINSCHAFT UND WIR STELLEN UNS UNSEREM PROBLEM, VERSTANDEN?!“ Unsere Macht ist die Definitionsmacht darüber, worin das Problem besteht (man hat das ja schließlich studiert). Von dieser Definitionsmacht kein Jota an ein Kind abzugeben, so vernünftig es auch argumentieren mag, ist das Wichtigste überhaupt. Sachargumenten mit dem Wechsel der Gesprächsebene zu begegnen („Darum geht es nicht, es geht darum, dass du…“) ist das A und O unserer Kommunikationskunst. Nur so gelingt es, während einer Jugendfreizeit permanent zu gut für diese Welt und entsprechend übellaunig zu sein. Die volle pädagogische Kunst ist erst entfaltet, wenn es beim Anblick unserer galligen Mienen, hinter denen wir die nächsten Attacken auf unsere Schützlinge vorbereiten, schon beim Frühstück auch den anderen Gästen der Jugendherberge die Kehlen zuschnürt.
Kronloyal (Remastered)
Eine verbesserte Neuinszenierung des Publikumsrenners Kronloyal
Im StudiVZ, dem deutschsprachigen sozialen Netzwerk für Studenten, kann man seine politischen Überzeugungen wie folgt angeben: unpolitisch, Kommunist, sehr links, links, Mitte links, grün, liberal, Mitte rechts, rechts, konservativ oder kronloyal. Kronloyal! Dieses Wort in die Liste aufzunehmen ist ein lustiger Scherz, aber auch ein erstklassiger Schnappschuss vom Zeitgeist.
Ein paar subjektive Beobachtungen: Gar nicht wenige Studenten heften sich das Prädikat „kronloyal“ mit Begeisterung an die Brust. Kronen, also feudale Insignien, zieren Gesäßtaschen und Tops von Jugendlichen. Jugendliche bitten darum, an die Kandare genommen zu werden und die Zahl der Pädagogen, die bereit sind, das zu tun, wächst. Diese sind dann „modern“ Es läuft unter Schlagwörtern wie „Disziplin“ und „Manieren sind wieder ,in‘“. Sich Autoritäten zu unterwerfen ist einfacher, als in Eigenverantwortung dafür zu sorgen, ein guter Mensch zu sein. Uncool ist das auch nicht, denn die zugehörige Elterngeneration ist im Großen und Ganzen liberal. Indem man konservativer ist als konservativ – kronloyal eben – kann man also ein echter Rebell sein, ein Lehrerschreck (wenn man nicht an einen „modernen“ Lehrer gerät).
Ist es okay, konservativ zu sein? Was bedeutet „konservativ“ eigentlich? Ich verstehe darunter die Grundhaltung, am Bestehenden festzuhalten. Wenn jemand an sich bemerkt, dass seine Ansichten oft dazu tendieren, dann darf und soll er sich als konservativ bezeichnen, so denke ich. Wie man sich den Begriff allerdings auf die Fahnen schreiben kann, habe ich nie verstanden. Am Bestehenden hält man fest, weil es entweder nichts Besseres gibt – dann kommt die Frage überhaupt nicht auf, es wird nicht politisch – oder aus Faulheit. Faulheit, einschließlich Denkfaulheit und Lernfaulheit, ist ohnehin eine Haupttriebfeder menschlichen Tuns und vor allem Lassens. Das ist auch richtig so, denn Zeit und Energie sind knapp. Aus dieser Selbstverständlichkeit ein politisches Bekenntnis zu machen, halte ich für dumm bis bedenklich. Denn der Begriff bemäntelt die tatsächlichen definierenden Eigenschaften der so genannten Konservativen. Die sind meist treffender als Wirtschaftsliberale, Religiöse oder Autoritäre zu beschreiben. Wenn Jugendliche so drauf sind, fühle ich mit dem Lehrer, der darüber erschrickt.
Manche sind auch einfach starrsinnig, und für die klingt ein Begriff wie „konservativ“ zu freundlich. Wer das Bewährte verteidigt, ist freilich noch nicht gleich starrsinnig. Wenn etwas bewährt ist, also seit langer Zeit erfolgreich im Einsatz, ist das ein Hinweis auf seine Qualität, den es zu berücksichtigen gilt. Starrsinnige machen jedoch den Fehler, Bewährtheit als eine Komponente der Qualität anzusehen: Für sie ist etwas gut, weil es alt ist. Gegen solche Scheinargumente hat das Neue nie eine faire Chance. Mein Lieblingsbeispiel für Starrsinn, bemäntelt mit bemerkenswert schlechten Sachargumenten, ist Prof. Dr. Ch. Meiers Essay für Beibehaltung und Wiedereinführung der „bewährten Rechtschreibung“. Die Tugend der Faulheit vom Laster des Starrsinns säuberlich zu unterscheiden, das sollte Schulfach sein.