Warum „Tugendfuror“ Unwort des Jahres werden sollte

Es ist wichtig und moralisch richtig, sich darum zu bemühen, dass wir mit unseren Mitmenschen respektvoll umgehen, dass die Menschenrechte gewährleistet werden und dass der Planet bewohnbar bleibt. Sich darum zu bemühen oder sich dem wenigstens nicht entgegenzustellen ist nichts weiter als Ausdruck von Primärtugenden, will heißen, dass man ein guter Mensch ist.

Es gibt aber einen Trend, vor allem bei einer bestimmten Sorte älterer weißer Männer, solche Bemühungen pauschal als überspannte Bemühungen um die Einhaltung von Sekundärtugenden hinzustellen, als reaktionäres Beharren auf arbiträren Verhaltensmaßregeln. So zum Beispiel, wenn Hanno Rauterberg Häuserdämmung als „calvinistisch“ geißelt, wenn Harald Martenstein den „Terror der Tugend“ beklagt, dank dem ein anständiger Nazi nicht mal mehr ein Anrecht auf ein Hotelzimmer hat, oder wenn Henryk Broder sich über die „Gutmenschen“ beschwert, die die Frontaufstellung „wir gegen die Moslems“ nicht mitmachen wollen. Manche Kolumnisten, wie der genannte Martenstein, oder Jan Fleischhauer, scheinen es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, sich und die Gesellschaft zum Opfer von „Tugendterror“ zu stilisieren.

So etwas regt mich regelmäßig auf. Es sei den Leuten unbenommen, den Tonfall oder die moralische Überheblichkeit manch eines ökologischen, menschenrechtlerischen oder antisexistischen Sendungsbewusstseins schlecht zu finden. Aber die Einseitigkeit, mit der sie sich angesichts echter und gravierender Probleme lieber an einer angeblichen Tugenddiktatur abarbeiten, finde ich schon erbärmlich.

Joachim Gauck hat sich jetzt mit seiner (?) Wortschöpfung Tugendfuror anlässlich der #Aufschrei-Debatte zu einem neuen Idol dieser unerfreulichen Bewegung gemacht. Das Wort übernimmt den Tugend-Bestandteil und damit das Mem, das das Bemühen um moralisch richtiges Handeln als Pochen auf verstaubten Tugenden ((Diese Formulierung stammt aus dem Offenen Brief an Joachim Gauck von alltagssexismus.de und fängt knapp genau das ein, was mich an Tugendterror schon lange gestört hat. Ansonsten hebt der Offene Brief (den ich auch mitgezeichnet habe) eher auf den –furor-Bestandteil ab, mit einem Argument, das ich nur eingeschränkt überzeugend finde. Daher wollte ich die meiner Meinung nach entscheidendere „Tugend“-Kritik hier etwas weiter ausführen.)) abtut. Schmerzlich, dass so ein dummes Wort begeistert aufgegriffen wird, zum Beispiel von Tübingens grünem OB Boris Palmer, der es in der vergangenen Woche auf Facebook immer und immer wieder verwendet hat.

Seine Neuheit, seine Dummheit und seine schnelle Verbreitung machen Tugendfuror zu einem Kandidaten für das Unwort des Jahres 2013, dem vermutlich kein besserer mehr folgen wird. Bitte nominiert es alle, gerne mit Hinweis auf diesen Blogeintrag!

3 Gedanken zu „Warum „Tugendfuror“ Unwort des Jahres werden sollte

  1. Erbloggtes

    Vielen Dank für diese furiose Nominierung!
    Tugendfuror, Tugendterror und Tugenddiktatur haben im Deutschen eine lange Tradition. Also nicht als Phänomene, der typische Deutsche lehnt sowas ja ab. Sondern als Kampfbegriffe gegen diese Phänomene. Die Beliebtheit solcher Umwertung des Positivums Tugend geht auf die Französische Revolution und die deutsche (monarchistische, klerikale, antidemokratische UND antiliberale) Revolutionsfeindschaft zurück.
    Mit dem Argument, jakobinische Tugendwächter hätten jeden Tugendverstoß mit der Guillotine geahndet, hat man den Menschen schon vor über 200 Jahren eingeredet, dass die gnädige, wohlwollende und ungehemmte Fürstenherrschaft viel wünschenswerter sei als die unbarmherzige, strenge und für alle gleiche Herrschaft des demokratischen Rechsstaats. Das sitzt tief, und wenn der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland einigen wortschöpferischen Aufwand daran setzt, sich in die Tradition der Demokratie-und-Rechtsstaat-Verächter einzureihen, dann weiß man, wie mächtig diese Denkweise immer noch ist.
    Der „gute“ (das heißt faule, feige, unmündige) Deutsche fürchtet die Freiheit unter dem demokratischen Gesetz viel mehr als die Geborgenheit unter der Herrschaft des Adels, auch wenn sich der heute nicht mehr Aristokratie nennt, sondern Elite.
    Das ist die Botschaft des Wortes Tugendfuror. Und weil das in Deutschland so mehrheitsfähig ist, wird es wohl eher zum Wort des Jahres als zum Unwort gekürt, fürchte ich.

  2. D. Schnittke

    @evang
    Den Artikel von Martenstein finde ich ja auch über weite Strecken wenig überzeugend, ihn aber einfach so auf die Aussage einzudampfen, dass „ein anständiger Nazi nicht mal mehr ein Anrecht auf ein Hotelzimmer hat“, das ist schon ein starkes Stück „Journalismus“, alle Achtung.

    Noch ein, zwei, drei Schritte weiter geht „Erbloggtes“, indem sich der Autor gar nicht mehr auf Gesagtes bezieht, sondern sich völlig in deuterischer Schwurbelei verliert (die Interpretationshoheit darüber, was „die Botschaft des Wortes Tugendfuror“ ist, sei Ihnen ja unbenommen, aber ganz ehrlich: geht es nicht eine Nummer kleiner?

    Ich hätte mir von einem Bundespräsidenten auch gewünscht, dass er eine genauere Trennlinie legen kann zwischen Menschen, die eine nötige Diskussion führen wollen (auch wenn Brüderles Anmache m.E. kein so wirklich toller Aufhänger dafür ist, aber als Bayer sehe ich seinen Dirndl-Spruch wahrscheinlich zu entspannt) und jenen, die jede Schlagzeile dazu benützen, um mal wieder eine Sau durchs Dorf zu treiben. Aber für die Beweggründe letzterer finde ich „Tugendfuror“ schon ziemlich treffend (Assoziationen zu „Furie“, „Hysterie – vor allem weibliche“ und zur Französischen Revolution habe ich allerdings noch keine, na ja, kann ja noch kommen).

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