Sollte die Menschheit die aktuelle selbstgemachte Katastrophe überleben und etwas daraus lernen, so wird sie vielleicht enden wie die Bevölkerung des Planeten Elf-Soro in Ursula K. Le Guins Kurzgeschichte Solitude (in der unveröffentlichten Übersetzung eines Freundes: Einsamkeit). Denn was führt zur Katastrophe? Wesentlich die menschliche Tendenz, über andere Macht ausüben zu wollen. Die Sorovier*innen nennen das Zauberei und ächten es. Und ihr Begriff von Zauberei ist weit gefasst. Sie beginnt schon, wenn man jemanden mit Worten von etwas überzeugen will. Somit birgt jedes Gespräch, jede soziale Beziehung die Gefahr von Zauberei. Daher basiert die sorovische Gesellschaft darauf, soziale Beziehungen zu vermeiden. Jede*r lebt für sich im eigenen Haus – Frauen meist in Dörfern, Männer als Einsiedler –, betreten die Häuser anderer nicht und sprechen nicht miteinander.
Es gibt Ausnahmen: Kinder sind weitgehend vom Gebot der Einsamkeit ausgenommen, sie müssen ja alles lernen, was sie zum Leben brauchen und »ihre Seele bilden«. Wichtige Informationen teilt man anderen Dorfbewohnerinnen knapp über den Zaun hinweg mit. Das Haus einer Verstorbenen oder Verschwundenen darf betreten werden, um den Leichnam zu entfernen oder selbst einzuziehen. Männer und männliche Jugendliche leben teils in Gruppen mit Anführern und Zauberei, diese werden jedoch durch Dorfbewohnerinnen mit Steinwürfen und durch temporäre Zusammenschlüsse anderer Männer mit teils tödlicher Gewalt im Zaum gehalten, um die gesellschaftliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Oh, und einvernehmlicher Sex ist immer ein valider Grund, einen anderen Menschen zu treffen, ob mit oder ohne Fortpflanzungsabsicht.
Le Guin schildert diese Gesellschaft geschickt anhand von drei Figuren, die unterschiedlich stark in die sorovische Gesellschaft integriert sind: Eine Ethnologin, die sich in einem sorovischen Dorf niederlässt, um die Bewohner*innen zu studieren, die ihnen aber immer als Fremde und letztlich ablehnend gegenübersteht. Ihr Sohn, der das Leben als sorovischer Mann ausprobiert, sich aber letztlich dagegen entscheidet. Und ihre jüngere Tochter, die Ich-Erzählerin, die sich für das Leben auf Elf-Soro entscheidet, sich aber letztlich als eine zwei Welten Zugehörige betrachtet.
Der sorovische Gesellschaftsentwurf ist so etwas wie der Versuch, durch Einsiedelei schuldlos zu werden wie Virata in Stefan Zweigs Erzählung Die Augen des ewigen Bruders, aber als Überlebensstrategie einer ganzen Gesellschaft. Gewalt und Zauberei sind nicht eliminiert, aber zumindest so weit eingehegt, dass sie hauptsächlich unter jungen Männern stattfinden. Frauen sowie ältere Männer, die den brutalen Prozess des Erwachsenwerdens überlebt haben, haben ihre Ruhe, solange sie wachsam sind. Für den Moment scheint diese Gesellschaft stabil.
