Lieblingswörter (8)

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Der afterthought ist der kleine Bruder des Treppenwitzes. Ein ganz schön ausgefallenes Konzept für ein eigenes Wort, sollte man meinen, aber es scheint sehr häufig aufzutauchen in der englischsprachigen Literatur, die ich so lese. Die englischsprachigen Autoren, die ich so lese, lieben es nämlich, glaube ich, die Imperfektionen des menschlichen Erkenntnisprozesses aufzuspießen. Afterthoughts sind Äußerungen, die neue Sichtweisen beinhalten, meist etwas versteckt, sodass man nicht sicher sein kann, ob der Figur mit dem Afterthought wirklich bewusst geworden ist, was man als Leser schon seit einiger Zeit weiß. Meine Ausführungen schreien nach einem Beispiel, aber, liebe Leser, Sie kennen mich doch: Beispiele kann ich mir nie merken.

Ein anti-placeholder ist ein Element, das anzeigt, dass dieser Platz nicht reserviert ist. So etwas wie ein Schild, dass im Restaurant auf einem Tisch steht und verkündet: „Ab 19 Uhr für Fam. Müller nicht reserviert.“ So etwas macht natürlich nur in einem Universum Sinn, in dem man aufgrund anderer Umstände normalerweise darauf schließen würde, dass der Tisch ab 19 Uhr für Familie Müller reserviert ist. Die Phase beim Designen von Algorithmen und Datenstrukturen, in der man Elemente wie Anti-Placeholder einführt, ist normalerweise der Punkt, an dem man zusammenknüllt und von vorne anfängt. (Ja, zusammenknüllen ist jetzt ein intransitives Verb.) Sind die Datenstrukturen und Algorithmen bereits implementiert und im produktiven Einsatz, ist es der Punkt, an dem man sich bekreuzigt und seine Nachfolger um Vergebung bittet. Um an Verständlichkeit zu retten, was zu retten ist, führt man dann bildkräftige Benennungen wie eben anti-placeholder ein, und dieser kreative Prozess ist es wohl, der mich so für dieses real existierende Wort einnimmt. Ich bin mir aber sicher, dass seine Erfinder, die Designer des Penn-Treebank-Annotationsschemas für englische Syntax, gute Gründe dafür hatten, in Template-Gapping-Konstruktionen nicht die Lücken, sondern die Nicht-Lücken eigens zu markieren.

arguably! Ein großartiger Mogelausdruck! Wenn man sich nicht ganz im Besitz der nötigen Argumente für die Position wähnt, die man eigentlich vertreten will, kann man sich darauf zurückziehen, sie für vertretbar zu erklären. Heh, I see what you did there.

Das Verb impute (zuschreiben, unterstellen) begegnete mir zuerst und bisher ausschließlich in den verwinkelten Katakomben der linguistischen Pragmatik, wo ausgefuchste Theorien daran scheitern, dass sie Sprechern contradictory beliefs eindenken, denn genau dieses Verb möchte ich in solchen Zusammenhängen als neue Übersetzung vorschlagen. Was mir daran und am englischen Original so gut gefällt, ist die doppelte Beziehbarkeit des Denkereignisses, ist es doch sowohl der irregeleitete Sprachphilosoph, der etwas denkt, als auch der Sprecher in der von jenem für möglich gehaltenen Welt.

Logisch kompliziert und metaebig ist auch die Schönheit des Wortes insofar, das z.B. in diesem Satz aus Harry G. Frankfurts Essay On Bullshit sehr schön zum Einsatz kommt: „Insofar as [humbug] is humbug, the creation of this impression is its main purpose and point.“ Das Wort bedeutet nicht einfach in dem Maße, wie, wie man bei dem Versuch, seine Bedeutung auf die Bedeutungen seiner Bestandteile zurückzuführen, zu denken beginnen könnte. Um im Beispiel zu bleiben (nun also doch), die Eigenschaft einer Äußerung, Humbug zu sein, lässt sich nicht skalar quantifizieren. Vielmehr hat jede Äußerung eine Vielzahl von Fassetten und Eigenschaften, und an gewissen davon macht sich nach einer nicht näher spezifizierten Formel fest, ob sie Humbug ist. Diese Unterspezifiziertheit wird durch das Wort insofar absorbiert und in philosophische Superkräfte umgewandelt.

Beschwerden, bestimmte Wörter und Ausdrücke ergäben „keinen Sinn“ und zeigten den allgemeinen „geistigen Verfall“, werden von Sprachnörglern vorgebracht (meist in furchtbar unbeholfenem, hässlichem Stil) und sind offensichtlich Unfug. Ich führe ja immer den lockeren Spruch auf den Lippen, dass Sprache nun mal nicht logisch ist, sonst wäre ich ja auch arbeitslos. Trotzdem geht auch mir manche irreführende Bezeichnung gegen den Strich, vor allem, wenn sie innerhalb einer Terminologie auftaucht, die als solche ja schon eine strengere Zucht verdient hätte. Für solche Fälle hält die englische Sprache die schöne Anklage misnomer bereit. Zum Beispiel gibt es im WordPress-Code eine Funktion namens remove_accents. Das ist ein Misnomer, denn diese Funktion entfernt so ziemlich alle Diakritika, nicht nur Akzente. Ich weiß, diese Begriffsunterscheidung ist ein first-world problem. Ein schöner Euphemismus für Problemchen und Beschwerden, die in den Augen einer salienten Bezugsgruppe völlig egal sind – ein wohl universelles und sehr reales Phänomen. In meinem deutschen Idiolekt ist seit einiger Zeit das Wort Luxusproblem dafür eingebürgert.

Die Bedeutung der Präposition modulo (im Deutschen mit Genitiv) für natürliche Sprachen kann wohl nur mit der Bedeutung von Funktionen wie map für funktionale Programmiersprachen verglichen werden: Sie ermöglicht es immer wieder, sehr komplexe Bedeutung sehr elegant in sehr knackigen Code zu verpacken. Lange an der Beschreibung eines Verfahrens gefeilt und schließlich perfekte Prosa produziert, um dann festzustellen, dass ein wichtiger Schritt vergessen wurde? Kein Problem: Einfach eine adverbiale Ergänzung mit modulo reinhängen und schon ist ausgedrückt, was sonst das Auswalzen in mindestens einen zusätzlichen Satz erfordert hätte, samt neuen Anaphern und lästigen Konjunktionen, die nie genau das Richtige bedeuten.

Wir treten in die zweite Hälfte des Alphabets ein, verlassen zufällig gleichzeitig die sprachtheoretischen Meta-Hyperebenen und kehren zurück in die leichter zu atmende Atmosphäre der schönen Lautmalerei. Wir finden sie bei großartigen Wörtern wie nozzle (Düse), oaf (Vollpfosten, man hört sehr schön die Laute der britischen Verwandten des Neanderthalers raus) und pristine (makellos, das wortgewordene Putzmittelwerbungsglanzsternchen, aber noch etwas spiritueller).

Und ist es nicht schön, wie man auf Englisch zu einem Saugnapf sagt, suction cup? Wie der erste Bestandteil mit seiner latinaten Endung etwas zu fein zu sein scheint für so einen banalen Gegenstand, dann aber wiederum für ein Wort auf -ion auffällig wenigsilbig ist und etwas gedrungen wirkt? Wie er sich dann überdies mit dem harten männlichen Reim cup vermählt, wie wenn ein elastischer Saugnapf aus einiger Höhe auf eine Glasscheibe fällt und sich plötzlich – pfrrropf! – festsaugt, dass man von seiner Elastizität gar nichts mehr merkt? Doch, das ist schon sehr bestrickend.

Ob man den Saugnapf je wieder unstuck kriegt? Die exotische Faszination, die dieses Wort auf mich ausübt, hängt wohl irgendwie damit zusammen, dass es in meiner Muttersprache reiche, aber ziemlich disjunkte Mengen von Verbstämmen für das Festmachen (drücken, kleben, stecken…) und das Abmachen (ziehen, reißen, kratzen, lösen…) gibt und kaum etwas, das sich durch eine negative Vorsilbe in ein sauberes Gegenteil verkehren ließe.

Mein letztes Lieblingswort für heute ist thwart (vereiteln). Ich könnte mir keinen passenderen Klang vorstellen für ein Ereignis, bei dem ein Hexenmeister, von Sadismus und Schadenfreude erfüllt, mit einem rußgeschwärzten Zauberwerkzeug stellvertretend für die Pläne seines Feindes irgendein zäh in Stücke fallendes Artefakt zerstört.

6 Gedanken zu „Lieblingswörter (8)

  1. sprachnomade

    Sehr schöne Wörter allesamt. Für impute würde ich aber „zudenken“ vorschlagen, dann hat man nämlich auch endlich das Grundverb für diese dir zugedachte Antwort durch die Hintertür wieder in der Sprache.

  2. David

    wo ausgefuchste Theorien daran scheitern, dass sie Sprechern contradictory beliefs eindenken

    Eine Theorie sollte eher daran scheitern, sowas gar nicht zudenken zu können, oder? Auf welche Fälle spielst Du denn an?

  3. ke Beitragsautor

    Okay, sie sollte es können, aber sie sollte es nicht in der falschen Situation tun. Ich bezog mich auf das Papier The Grammatical View of Scalar Implicatures and the Relationship between Semantics and Pragmatics von Gennaro Chierchia, Danny Fox und Benjamin Spector, über das ich vor zwei Jahren mal referiert habe. Da geht es in den Abschnitten 1.1 bis 1.3 um eine gängige Formalisierung Grice’scher Ideen zum Zustandekommen skalarer Implikaturen, die, so argumentieren die Autoren, in einer Variante nicht die gewünschten und in der anderen Variante zwar die gewünschten, aber zusätzlich unerwünschte Vorhersagen trifft (nämlich widersprüchliche Glaubensinhalte bei Sprechern in Situationen, wo man das eigentlich nicht vermutet).

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