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Meyers Konversationslexikon (1897) über den Illustrator Gustave Doré (zitiert nach Walter Moers, Wilde Reise durch die Nacht):
Der unerschöpfliche Reichtum seiner Phantasie und die Leichtigkeit seines Schaffens verführten ihn zuletzt zu Maßlosigkeiten und Bizarrerien, welche namentlich seine letzte größere Arbeit, die Zeichnungen zu Ariosts »Rasendem Roland«, entstellen.
Dass da nicht gleich jemand zur Stelle war und die Formulierung wegen Verstoßes gegen das Gebot des neutralen Standpunktes in eine tiefere Schicht der Versionshistorie verbannte, ist aus heutiger Sicht kaum noch verständlich. Es überkommt mich allerdings bisweilen eine heimliche Sehnsucht nach dieser Zeit mit ihrem naiven Kinderglauben, man könnte mit der Objektivität, die man von einem Konversationslexikon zu erwarten gewohnt ist, eine Weltordnung ermitteln, die einem dann feste Kriterien dafür an die Hand gibt, wann etwas maßlos oder bizarr ist. Bizarrerie zählt daher zu meinen Lieblingswörtern, ich denke es gerne, wenn mir irgendwas nicht passt und stark davon abweicht, wie ich es gemacht hätte. Etwa die Art der Darstellung in einem wissenschaftlichen Aufsatz oder eine Designentscheidung in einem Computerprogramm. Oh, Designentscheidung! Noch so ein Lieblingswort. Es nimmt so schön bündig die Erklärungslast auf sich, dass man etwas so oder so machen konnte, es war letztlich egal, aber man musste sich halt irgendwie entscheiden, und man hat es am Anfang so gemacht, und jetzt kann man es nicht mehr oder nur noch unter großen Mühen ändern. Ähnlich wie die Frage Linksverkehr oder Rechtsverkehr, wenn man ein Straßennetz baut und in Betrieb nimmt.
Weitere Lieblingswörter: Für Dinge, von denen ich nicht weiß, zu wie viel Prozent sie mich emotional berühren und zu wieviel Prozent intellektuell ansprechen, habe ich das schöne altmodische (aber womöglich nicht alte) Wort berückend hervorgekramt. Ebenso glänzt und funkelt in alltagssprachlichen Zusammenhängen hierzulande heutzutage das Gemach, sowohl als Studentenbude als auch als Verzicht auf Hektik. Das Wort Glyptothek war mir immer ein Faszinosum, vor allem bevor ich seine Bedeutung kannte und eher an Kryptisches und Glyphen als an Steine dachte. Lautmalerischen Charme verströmen die Adjektive morsch und schroff, emotional-phonästhemischen scheußlich, dessen Aufblitzen da, wo Takt und Professionalität sein Aufblitzen verbieten, mir regelmäßig Vergnügen bereitet, etwa bei dem Entenhausener Fernsehreporter, dem wohl Erika Fuchs in den Mund legte: „Dem Sieger winkt ein Pokal von ausgesuchter Scheuß… äh, Schönheit.“ Für das, was Kathrin Passig beim Bachmannpreis 2006 vortrug, hatte eine der Jurorinnen sogleich ein Label: Kontrollverlustüberkompensationstext. Die bloße Existenz des Wortes ist ein Trost dafür, dass man nicht häufiger so gute Kontrollverlustüberkompensationstexte lesen darf. Und ist es nicht schön, was für eine grazile Endung der volumniösen Pauke zum Paukisten verhilft? Einen nachhaltigen Lachkrampf im zarten Kindesalter bescherte mir einmal Josephine Siebe, indem sie in Kasperle auf Reisen schrieb, dass zwei Jungen „lachten, bis sie fast barsten“, und noch heute zählt bersten, insbesondere sein Präteritum, zu meinen Lieblingswörtern. Wie übrigens auch die gut gebauten, poetisch anheimelnden Komposita Liebesbezeigung und Weihezirkel.
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Im Zusammenhang mit der Glyptothek: das Lapidarium; herrliches Wort.
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