Archiv des Autors: Kilian Evang

Warum „Tugendfuror“ Unwort des Jahres werden sollte

Es ist wichtig und moralisch richtig, sich darum zu bemühen, dass wir mit unseren Mitmenschen respektvoll umgehen, dass die Menschenrechte gewährleistet werden und dass der Planet bewohnbar bleibt. Sich darum zu bemühen oder sich dem wenigstens nicht entgegenzustellen ist nichts weiter als Ausdruck von Primärtugenden, will heißen, dass man ein guter Mensch ist.

Es gibt aber einen Trend, vor allem bei einer bestimmten Sorte älterer weißer Männer, solche Bemühungen pauschal als überspannte Bemühungen um die Einhaltung von Sekundärtugenden hinzustellen, als reaktionäres Beharren auf arbiträren Verhaltensmaßregeln. So zum Beispiel, wenn Hanno Rauterberg Häuserdämmung als „calvinistisch“ geißelt, wenn Harald Martenstein den „Terror der Tugend“ beklagt, dank dem ein anständiger Nazi nicht mal mehr ein Anrecht auf ein Hotelzimmer hat, oder wenn Henryk Broder sich über die „Gutmenschen“ beschwert, die die Frontaufstellung „wir gegen die Moslems“ nicht mitmachen wollen. Manche Kolumnisten, wie der genannte Martenstein, oder Jan Fleischhauer, scheinen es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, sich und die Gesellschaft zum Opfer von „Tugendterror“ zu stilisieren.

So etwas regt mich regelmäßig auf. Es sei den Leuten unbenommen, den Tonfall oder die moralische Überheblichkeit manch eines ökologischen, menschenrechtlerischen oder antisexistischen Sendungsbewusstseins schlecht zu finden. Aber die Einseitigkeit, mit der sie sich angesichts echter und gravierender Probleme lieber an einer angeblichen Tugenddiktatur abarbeiten, finde ich schon erbärmlich.

Joachim Gauck hat sich jetzt mit seiner (?) Wortschöpfung Tugendfuror anlässlich der #Aufschrei-Debatte zu einem neuen Idol dieser unerfreulichen Bewegung gemacht. Das Wort übernimmt den Tugend-Bestandteil und damit das Mem, das das Bemühen um moralisch richtiges Handeln als Pochen auf verstaubten Tugenden ((Diese Formulierung stammt aus dem Offenen Brief an Joachim Gauck von alltagssexismus.de und fängt knapp genau das ein, was mich an Tugendterror schon lange gestört hat. Ansonsten hebt der Offene Brief (den ich auch mitgezeichnet habe) eher auf den –furor-Bestandteil ab, mit einem Argument, das ich nur eingeschränkt überzeugend finde. Daher wollte ich die meiner Meinung nach entscheidendere „Tugend“-Kritik hier etwas weiter ausführen.)) abtut. Schmerzlich, dass so ein dummes Wort begeistert aufgegriffen wird, zum Beispiel von Tübingens grünem OB Boris Palmer, der es in der vergangenen Woche auf Facebook immer und immer wieder verwendet hat.

Seine Neuheit, seine Dummheit und seine schnelle Verbreitung machen Tugendfuror zu einem Kandidaten für das Unwort des Jahres 2013, dem vermutlich kein besserer mehr folgen wird. Bitte nominiert es alle, gerne mit Hinweis auf diesen Blogeintrag!

Café Cartese

Während meiner Studienzeit folgte ich auf digitalen wie analogen Ordnern strikt einem genau definierten System von Kurzbezeichnungen für Lehrveranstaltungen. Sie setzten sich aus den Anfangsbuchstaben aller Wörter im offiziellen Titel der jeweiligen Lehrveranstaltung zusammen, mit Ausnahme von Präpositionen, Artikeln, Relativpronomen und Konjunktionen. ((Das sind auch die Wörter, die ich in englischen Titeln nicht großschreibe, seit mir eine befreundete Anglistin diese Liste zu meiner großen Freude einmal lieferte. Ich nenne es die PARK-Regel.)) Das hässlichste so entstandene Kürzel ist UNLPFLASLL (Using Natural Language Processing to Foster Language Awareness in Second Language Learning), das schönste CAFE (Computational Approaches to Functional Elements). Auch hübsch: CARTESE (Computational Approaches to Recognizing Textual Entailment and Semantic Equivalence).

sharen [Anglizismus 2012]

Die Wahl zum Anglizismus des Jahres 2012 steht kurz bevor. Nachdem im Sprachlog zuletzt die Kandidatinnen posten, Crowdfunding und Tablet besprochen wurden, will ich noch ein paar Worte zu sharen verlieren.

Die Verben posten und sharen wurden von Nachtwerker gemeinsam in den Ring geworfen. Thematisch sind sie eng verwandt, doch in der Verbreitung scheinen sie weit auseinander: Mit ein paar tausend deutschsprachigen Google-Treffern liegen die Partizip-Perfekt-Schreibvarianten gesharetgeshared und geshart derzeit um Größenordnungen hinter gepostet und geposted. Auch Google Trends verzeichnet ein so geringes Suchvolumen für sie, dass die Zahlen nicht interpretierbar sind. Besonders große Aussichten darauf, als wichtigster Anglizismus des Jahres 2012 in die Geschichte einzugehen, hat sharen also nicht. Schade, meiner Ansicht nach ist sharen ein tolles Wort, das eigentlich viel größere Verbreitung verdient hätte. Und das kommt so:

Ein Wort mit gesellschaftlicher Relevanz

Google+ Ripples visualisieren, wie ein Post immer wieder gesharet wird und sich dadurch verbreitet

Google+ Ripples visualisieren, wie ein Post immer wieder gesharet wird und sich dadurch verbreitet

Wenn ich selbst das Wort sharen benutze, dann denke ich am ehesten an Facebook, das bei mir meistens auf Englisch eingestellt ist. Da gibt es unter so gut wie jedem Post den Link „Share“. Mit dem kann man Beiträge von Leuten, deren Beiträge man angezeigt bekommt, „weiterreichen“ an die Leute, die die eigenen Beiträge angezeigt bekommen. Viele soziale Netzwerke haben ähnliche Funktionen, etwa Google+, Twitter und auch dezentrale Netzwerke wie die Blogosphäre, wo ebenfalls „gesharet“ wird: Es bedeutet, dass man einen Inhalt (oder einen Anriss davon) republiziert und dabei auf die Ursprungsquelle und/oder die Quelle, über die man selbst auf den Inhalt gestoßen ist, zurückverlinkt. Eine postet’s und viele sharen’s, so könnte man die Aufgabenverteilung dieser beiden 2012er-Kandidatinnen zusammenfassen (allerdings wird sharen auch als Synonym für posten gebraucht und umgekehrt).

Das Sharen ist ein zentraler Bestandteil der neuartigen Mediennutzung, bei der von jeder Nutzerin persönlich zusammengestellte Netzwerke aus Menschen bestimmen, was sie rezipiert, statt eine Handvoll Zeitungs- und Fernsehredaktionen, und jede Nutzerin selbst mitbestimmt, was die Menschen um sie herum rezipieren. Michael Schmidt beschreibt es in einem Handbuchartikel ausführlicher.

Ein Wort, das eine Lücke füllt

Warum sage ich eher sharen als teilen, wie es in Facebooks deutscher Oberfläche heißt und wie auch sonst oft zu hören ist? Habe ich, weil ich meist englische Benutzeroberflächen vor mir sehe, meine Muttersprache vergessen? Im Gegenteil. Mein deutsches Sprachgefühl sagt mir, dass teilen für to share in diesem Zusammenhang keine sehr glückliche Übersetzung ist. Beide Wörter haben mehrere Bedeutungen, manche entsprechen einander, manche nicht. Um es in einer Tabelle zu zeigen (beschränkt auf transitive, nicht reflexive Gebräuche):

share (Merriam-Webster) teilen (Duden)
1. ein Ganzes/eine Zahl in Teile zerlegen
3. ein Ganzes in zwei Teile zerteilen: der Vorhang teilt das Zimmer
1. to divide and distribute in shares : apportion —usually used with out <shared out the land among his heirs> 2a. (unter mehreren Person) aufteilen
2a. to partake of, use, experience, occupy, or enjoy with others 4a. gemeinsam (mit einem anderen) nutzen, benutzen, gebrauchen
2b. to have in common <they share a passion for opera> 4b. gemeinschaftlich mit anderen von etwas betroffen werden; an einer Sache im gleichen Maße wie ein anderer teilhaben
3. to grant or give a share in —often used with with <shared the last of her water with us> 2b. etwas, was man besitzt, zu einem Teil anderen überlassen
4. to tell (as thoughts, feelings, or experiences) to others — often used with with

Oben sieht man teilen Bedeutungen abdecken, für die im Englischen divide zuständig ist, unten hat dafür share eine Bedeutung, auf die wir im Deutschen mit weitergebenweitersagen oder mitteilen verweisen, aber auch eine Konnotation, die diese deutschen Verben weniger stark einfangen, nämlich eine der Freundschaftlichkeit und Vertrautheit: sharen tut man eine tolle Geschichte, um anderen eine Freude zu machen („I just had to share this with you“) oder Intimes aus dem eigenen Seelenleben („she shared her thoughts with me“). Diese letzte Bedeutung von share ist es meiner Einschätzung nach, aus der die Bezeichnung für das Posten und Weiterreichen in sozialen Netzwerken entstanden ist. Mit teilen kann man das nicht gut übersetzen. ((Als ich vor ein paar Jahren die Website Freut euch des Labenz! mit sozialen Buttons ausstattete, stand ich vor genau diesem Problem und entschied mich schließlich für mitteilen, was die richtige Bedeutung hat und durch den Verbstamm noch auf die üblichere, aber für mich falsch klingende Übersetzung von share verweist. Einige Zeit später führte Google Google+ ein und fügte vielen seiner Seiten einen Share-Button rechts oben hinzu, in der deutschen Oberfläche: Mitteilen. Great minds think alike.)) Es gäbe also meinem Sprachgefühl nach durchaus eine Lücke im Deutschen, die sharen gewinnbringend einnehmen könnte.

Ein vielschichtiges Wort

Im Kontext von Computernetzwerken ist share4 im Sinne des Weiterreichens von Verweisen auf Inhalte in sozialen Netzwerken nur das eine Ende eines Bedeutungsspektrums, an dessen anderem Ende share2a und share3 im Sinne des gemeinschaftlichen Nutzens von und des Zugriffgewährens auf Ressourcen stehen. Beim Carsharing zum Beispiel teilen sich viele Kundinnen einen Pool von Autos, und einen freigegebenen Drucker in einem Netzwerk können sich viele Arbeitsplätze teilen. Etwas weiter zur Mitte des Spektrums hin findet sich so etwas wie das (unerlaubte) Teilen von Benutzerinnenkonten bei Online-Spiele-Plattformen unter mehreren Leuten, die dann dieselben Spiele spielen können, oder das (erlaubte) Teilen von Softwarelizenzen unter einer von der Herstellerin willkürlich festgelegten maximalen Anzahl von Endgeräten. Hier ist die „gemeinsam genutzte Ressource“ schon deutlich abstrakter – im Falle der Softwarelizenz handelt es sich z.B. um ein Konstrukt, mit dem versucht wird, das Konzept des „geistigen Eigentums“ zu realisieren – aber immer noch um etwas, das, ähnlich wie ein Auto oder ein Drucker, in einem gewissen Sinne begrenzt vorhanden ist und daher als Objekt für teilen4a taugt. Was nicht heißt, dass sharen hier nicht beliebt wäre: Besonders im Playstation-Kontext figurieren solche Gebräuche unter den Google-Treffern für Formen wie gesharetgeshared und geshart sehr prominent. Aufs beinahe schon Äußerste gedehnt wird die Metapher des gemeinschaftlichen Nutzens dann, wenn man file sharing mit dem „Teilen von Dateien“ übersetzt, denn nur auf einer sehr abstrakten Ebene ist ein Filesharing-Netzwerk ein gemeinsam genutztes verteiltes Dateisystem – um eine Datei wirklich zu nutzen, muss eine sich erst mal ihre eigene Kopie „saugen“, die sie dann alleine nutzt. Es geht also hierbei schon um das Vervielfältigen und Weitergeben von Daten, genau wie beim Sharen in sozialen Netzwerken.

Ein Wort, das man sich merken sollte

Nachtwerker meinte, sharen sei eigentlich schon viel zu alt. Ich meine, dass es einen Anglizismus-des-Jahres-würdigen Verbreitungsanstieg vielleicht erst noch vor sich hat. Die wachsende Verbreitung und Bedeutung von sozialen Netzwerken würde dafür sprechen. Und dass es zugunsten eines bedeutungsausgeweiteten teilen in absehbarer Zeit ganz verschwindet, kann ich mir irgendwie nicht vorstellen. Mit Blick auf die zukünftige Entwicklung ist sharen für mich das spannendste Wort des diesjährigen Wettbewerbs.

Musikfolgen

Heute sinniere ich darüber, wie Medienabspielgeräte nach dem Abspielen eines Tracks entscheiden, welchen Track sie als nächsten abspielen.

Bei Tonbändern und Schallplatten war das einfach: die physische Anordnung der Tracks auf dem Medium legte die Reihenfolge fest. Das Abspielgerät hatte nichts zu entscheiden. Es wusste noch nicht einmal, wenn ein Track zu Ende war.

CD-Player behielten normalerweise die Konvention bei, Tracks ihrer physischen Reihenfolge entsprechend abzuspielen. Aber sie fügten mit der Program-Funktion die Möglichkeit hinzu, die Menge der abzuspielenden Tracks auf eine frei zu bestimmende Untermenge der auf der CD enthaltenen Tracks zu reduzieren, und das ging mit einer frei bestimmbaren Reihenfolge einher. Sie kannten also das Konzept der Playliste. Ebenso kannten sie die Shuffle-Funktion, bei der der nächste abzuspielende Track nicht durch seine Position auf der CD bzw. auf der Playliste, sondern zufällig ausgewählt wird, wobei aber in der Regel jeder nicht manuell unterbrochene Abspielvorgang jeden Track auf der CD bzw. der Playliste genau einmal beinhaltet.

In Software implementierte Medienabspielgeräte zeichnen sich gegenüber den CD-Playern wiederum durch die Vielzahl der gleichzeitig verfügbaren Playlisten aus, z.B.: die gesamte MP3-Sammlung, manuell gepflegte Playlisten, automatisch gepflegte Playlisten je nach Künstlerin, Album, Genre usw., sowie Suchergebnislisten. Dabei kann jeder Track Element beliebig vieler Playlisten sein. Wählt die Benutzerin einen Track zum Abspielen aus, merkt sich die Abspielsoftware in der Regel nicht nur, welchen Track sie ausgewählt hat, sondern auch, aus welcher Liste (d.h. über das GUI-Element, das diese Liste repräsentiert) sie den Track ausgewählt hat. Diese Liste wird zur „aktuellen“ Playliste und damit für die Auswahl des nächstabzuspielenden Tracks maßgeblich. Wie gehabt wird dabei der auf der Playliste dem aktuellen Track nachfolgende bzw. ein zufälliger Track von der Playliste ausgewählt, je nach dem, ob der Shuffle-Modus an ist.

Auch spontanen Launen der Hörerin zu genügen, dazu ist die Warteschlange da. Hierbei handelt es sich um eine spezielle, von der Hörerin jederzeit frei bearbeitbare, flüchtige Playliste, die, falls sie nicht leer ist, beim Auswählen des nächsten Tracks der aktuellen Playliste vorgezogen wird, wobei dann der ausgewählte Track automatisch aus der Warteschlange gelöscht wird. So kann die Hörerin spontane Hörwünsche schnell erfüllen, ohne die aktuelle Playliste zu verlassen und somit ohne sich um die Fortdauer der Berieselung sorgen zu müssen. In einer besonders geistesgesunden Variante dieses Sytems ist die Shuffle-Funktion bei der Auswahl eines Tracks von der Warteschlange unerheblich; die Warteschlange wird dann immer ihrer Reihenfolge entsprechend abgearbeitet. So jedenfalls ist es z.B. in Rhythmbox designt und implementiert.

Und so ist es möglich, sich inmitten eines ernsthaften Albumdurchhörens oder inmitten einer zufallsgeleiteten Kreuzfahrt durch die gesammte Musiksammlung im laufenden Betrieb und ohne einen Klick oder einen Gedanken mehr als nötig kleine Pausen einzurichten, die ganz bestimmte, spontane Musikjieper befriedigen.

Und dann gibt es Google Play Music. Google Play Music versucht ohne das Konzept der „aktuellen Playliste“ auszukommen und bürdet deren Aufgabe der Warteschlange mit auf. Bei Anwahl eines Tracks werden alle Tracks auf der Playliste, aus der heraus er angewählt wird (z.B. die gesamte Musiksammlung oder ein Album), automatisch der Warteschlange hinzugefügt.

Dies geschieht entweder in der Playlisten-Reihenfolge oder durcheinandergewürfelt, je nach dem, ob im Moment des Anwählens der Shuffle-Modus aktiviert ist. Es ist nicht möglich, geshuffelte Tracks auf der Warteschlange nachträglich wieder in die ursprüngliche Reihenfolge zu bringen, außer manuell. Das Einschalten des Shuffle-Modus bewirkt außerdem jedes Mal das Shuffeln der Warteschlange. Der Shuffle-Knopf hat also einen etwas seltsamen Zwittercharakter als Aktionsknopf und Modusschalter.

Es ist natürlich auch möglich, Tracks der Warteschlange explizit hinzuzufügen, wie gehabt. Dadurch, dass „aktive Playliste“ und Warteschlange quasi eins sind, hat man mehr Flexibilität als bei der Rhythmbox-Lösung und kann die „spontanen Tracks“ beliebig mit der „aktiven Playliste“ mischen. Auch könnte man Google dazu gratulieren, die Dinge vereinfacht zu haben, indem die „aktive Playliste“ nicht mehr explizit existiert, sondern durch das automatische Hinzufügen zur Warteschlange simuliert wird.

So einfach liegen die Dinge dann aber doch nicht. Der Warteschlange automatisch hinzugefügte Tracks haben nicht denselben Status wie explizit hinzugefügte, auch wenn nichts sie sichtbar unterscheidet. Automatisch hinzugefügte Tracks müssen unter der Haube irgendwie als „flüchtig“ markiert sein, denn bei der nächsten Anwahl und damit dem nächsten automatischen Hinzufügen zur Warteschlange werden sie automatisch gelöscht, wohl um ein Springen von Playliste zu Playliste möglich zu machen, ohne dabei die Warteschlange immer weiter zu füllen und um ein Stoppen der Wiedergabe nach der aktuellen Playliste zu gewährleisten, sofern nichts explizit zur Warteschlange hinzugefügt wurde. Explizit hinzugefügte Tracks werden übrigens nie automatisch gelöscht – wer wieder eine leere Warteschlange will, muss sie auch explizit leeren.

Ob dieses Warteschlangenkonzept nun der Weisheit letzter Schluss oder auch nur ein Fortschritt gegenüber dem Rhythmbox-Konzept ist, weiß ich noch nicht so recht.

Neben dem seltsamen oder gewöhnungsbedürftigen Verhalten des Shuffle-Knopfes und der visuellen Ununterschiedenheit flüchtiger und permanenter Warteschlangenelemente stört mich vor allem dies: Mein oben fettgedruckter Use Case wird nicht gut unterstützt. Zwar gibt es zwei Wege des expliziten Hinzufügens zur Warteschlange, nämlich „Zur Warteschlange hinzufügen“ und „Nächster Titel“. Doch keine von beiden zeigt dasselbe Verhalten wie Rhythmboxs „Add to Queue“. Füge ich eine Reihe von Tracks nacheinander als „Nächster Titel“ hinzu, werden sie in der umgekehrten Reihenfolge abgespielt werden, denn immer der zuletzt so hinzugefügte Track ist der nächste. Benutze ich hingegen die Funktion „Zur Warteschlange hinzufügen“, werden sie zwar in der beabsichtigten Reihenfolge abgespielt, aber erst nachdem alles andere, einschließlich automatisch hinzugefügter Tracks, also der „aktuellen Playliste“, abgespielt wurde. So war das nicht gedacht.

epic/episch [Anglizismus 2012]

Es geht weiter mit den Kandidatenwörtern zum Anglizismus des Jahres 2012. Im Sprachlog wurden jüngst gendernHipster und Blackfacing besprochen, heute geht es hier im Texttheater weiter mit epic/episch. Dieses Wortpaar wurde von Janwo nominiert:

Ich würde gern „epic“ bzw. die Lehnprägung „episch“ nominieren. Eventuell ist es nicht ganz so neu, aber es kommt mir so vor, als ob es erst seit Kurzem wirklich um sich greift.

Was blüht dieser Nominierung, epic win oder epic fail?

Besonders interessant finde ich, dass mit episch ein Wort in der Endrunde ist, das schon lange in deutschen Wörterbüchern steht und lautlich und morphologisch gerade mit der Endung -isch ganz und gar im Deutschen beheimatet scheint. Diese Abwesenheit von englischem Wortmaterial hatten wir, wenn ich richtig geguckt habe, bisher erst einmal, nämlich mit ausrollen für 2010.

Wenn also ein Anglizismus vorliegt, dann handelt es sich um einen „Übersetzungsanglizismus“, also ein deutsches Wort, das unter dem Einfluss des Englischen eine neue Bedeutung angenommen hat. 

Um in diesem Wettbewerb zu reüssieren, müsste das Wort in seiner neuen Bedeutung außerdem 2012 deutlich mehr gebraucht worden sein als zuvor, und es müsste eine interessante Lücke im deutschen Wortschatz füllen.

Diese drei Kriterien werde ich mir für episch im Einzelnen angucken. Auf epic werde ich dabei auch zu sprechen kommen.

Die neue Bedeutung

Das Adjektiv episch hat seit mehr oder weniger kurzer Zeit eine neue Bedeutung, die noch nicht im Duden steht. Im Duden stehen bisher:

  1. (Literaturwissenschaft) die Epik, das Epos betreffend; Beispiel: ein episches Gedicht
  2. (bildungssprachlich) erzählerisch, erzählend, berichtend; Beispiele: epische Elemente; etwas in epischer Breite (in allzu großer Ausführlichkeit) schildern

Schaut man aber einer mehrheitlich jungen, internetaffinen Sprecher/innengemeinschaft aufs Maul, zum Beispiel über eine Suche bei Twitter, kann man sich leicht davon überzeugen, dass auf deren überwiegende Verwendung des Wortes keine der beiden Definitionen passt. Eine Auswahl:

Screenshot-1

Auch nach Definitionen, die auf diese neue Verwendung passen, muss man nicht lange googeln, wiederum eine Auswahl:

Andererseits wird „episch“ (abgeleitet von engl. „epic“) in der Netzkultur verwendet, um als Superlativ einen Sachverhalt besonders positiv zu bewerten. (Wikipedia)

Epic – Episch. Bedeutet für mich. Wahnsinnig, Wow, Atemberaubend. (ChrisBoy18 auf gutefrage.net)

Mir scheint, und so ordnet es im Oktober 2012 auch Wolfgang Kemp im FAZ-Feuilleton ein, dass episch hauptsächlich ein Neuzugang in der langen Reihe der Jugend- und Modewörtern ist, die verwendet werden, um Begeisterung auzudrücken oder etwas zu intensivieren: coolgeilkrassfett – episch eben.

Der Einfluss des Englischen

So weit die neue Bedeutung, aber ist sie ein Import aus dem Englischen? Die englische Entsprechung zu episch, das Adjektiv epic, hat einen ganz ähnlichen Bedeutungszugewinn hinter sich. Das Wörterbuch Merriam-Webster kennt folgende Bedeutungen:

  1. of, relating to, or having the characteristics of an epic <an epic poem>
  2. a : extending beyond the usual or ordinary especially in size or scope <his genius was epic — Times Literary Supplement>
    b : heroic

Daneben wird epic wie im Deutschen in der Bedeutung fantastischüberwältigendatemberaubendkrassgeil verwendet. Diese Verwendung ist zwar relativ dicht dran an der zweiten Merriam-Webster-Bedeutung (dichter als an der zweiten Duden-Bedeutung), dennoch findet man viele englischsprachige Quellen, die sie als etwas Neues, zur Jugendsprache bzw. zum Slang gehörig einordnen. Auch hier wieder eine kleine Auswahl:

epic adjective. Incredible, big, massive. “It’s been an epic day.” (The Youth Language Lexicon. In Mark McCrindle with Emily Wolfinger: Word Up. A Lexicon and Guide to Communication in the 21st Century, 2007)

“What does epic mean when used as slang?” – “grand, great, amazing” (Yahoo Answers, 2010)

“EPIC means “Extremely awesome’” (InternetSlang.com, )

“In everyday conversation, ‘epic’ is often slang for superb or excellent.” (Answers)

Entsprechende Gewährsleute finden sich für episch in deutschen Internetforen:

heisst so viel wie: grandiós, poetisch. kolossal. fantastisch. (Frag Galileo, 2012)

In der heutigen vor allem Szenesprache (nicht nur Jugend oder Slang-Sprache wird episch häufig und inzwischen in als eingedeutscht zu wertender gleichberechtigter Form für epic = legendär = einmalig = außergewöhnlich = Über die Maßen genutzt. (Ulisses Forum, 2012)

Also, was ich Unwissender jetzt, nach vielen Antworten zum Thema weiß, ist, dass „episch“ im Jugend-Slang dasselbe bedeuet wie „cool“ (gutefrage.net, 2011)

Die Vermutung liegt sehr nahe, dass die Bedeutungsentwicklung bei episch im Deutschen von der bei epic im Englischen beeinflusst wurde, auch wenn sich das nicht mal so eben beweisen lässt. Insbesondere zwei Kanäle fallen mir aber ein, über die das Wort verstärkt vom englischen in den deutschen Sprachraum eingedrungen sein und so die Verbreitung des neuen episch mitverursacht haben dürfte:

Erstens gibt es da das Schadenfreude zelebrierende Internet-Mem Fail, das sich seit etwa 2004 großer Beliebtheit erfreut, auf Blogs wie Failblog reihenweise instanziiert und häufig zu Epic Fail gesteigert wird. Sicher nicht völlig zu Unrecht war Fail/Epic Fail bei der Wahl zum „Jugendwort des Jahres 2011“ zweitplatziert, die allerdings weitgehend selbst ein Fail war. Daneben gibt es auch die Gegenstücke Win und Epic Win.

Epic_Win_by_danzilla3 Epic Fail

Zweitens ist Epic in dem sehr populären Online-Spiel World of Warcraft eine Kategorie von relativ wertvollen Gegenständen, die eine dort in ihren Besitz bringen kann. Auf diesen Rollenspielhintergrund hebt auch der oben erwähnte FAZ-Artikel stark ab.

Vielleicht am deutlichsten kann man den Einfluss des Englischen daran ablesen, dass epic und episch im Gegenwartsdeutschen beide ziemlich synonym auftauchen, wie ja schon die Nominierung anmerkt. Eine Stichprobe bei Google liefert z.B. bei Redaktionsschluss für „das ist episch“ 1.120.000 Treffer und für „das ist epic“ auch nicht weniger 821.000.

Ich bin damit hinreichend überzeugt, dass das neue episch als Anglizismus gelten kann.

Der deutliche Anstieg

Da wir uns nur für eine bestimmte der mehreren Bedeutungen von episch interessieren, ist es schwierig, seinem Gebrauch quantitativ auf die Spur zu kommen. Schaut man sich an, wie oft die Leute in Deutschland nach episch googeln, sieht man einen relativ plötzlichen Anstieg im relative Suchvolumen ab Oktober 2010, Höhepunkte schon im Juli 2011 und im Januar 2012, seither ist die Tendenz fallend (die Klippe am Ende ist allerdings nur der ja noch unvollständige Februar):

Screenshot

Für den Anstieg kann man vermutlich das neue episch verantwortlich machen, denn die anderen Bedeutungen dieses Wortes dürften überhaupt deutlich seltener gegoogelt werden. Aber nur mit extrem großem Wohlwollen sieht man einen deutlichen Anstieg für 2012.

Bei epic geht das deutsche Interesse seit 2009 – mit den üblichen Fluktuationen – relativ kontinuierlich nach oben, auch noch in 2012:

Screenshot-1

So weit also ein klares Nnnnaja. Auch der Anstieg, den nach meiner manuellen Zählung das neue episch in Zeitungstexten (also einer sprachlichen Neuerungen gegenüber eher konservativen Textsorte) im Deutschen Referenzkorpus erfährt, ist aufgrund der geringen Trefferzahl in allen Jahren nicht besonders belastbar, aber immerhin kann man sehen, dass es 2009 überhaupt nicht vorkommt, 2010 auch nicht, 2011 zweimal und in der ersten Jahreshälfte 2012 ebenfalls zweimal:

„Ich habe in allen Sportarten, für die man die Hände braucht, episch versagt. Darum bin ich Läufer geworden.“ (Niederösterreichische Nachrichten, 2011-04-12)

Unglaublich, der Mann wird 108 Jahre alt und stirbt an Heiligabend. Das ist episch! (Rhein-Zeitung, 2011-12-27)

Als 2004 in Chur hitzig diskutiert wurde, wie man das Problem der kontinuierlichen Strenge gegen Spass, Lärm, Lebensfreude und Wochenende anpacken könnte, gab es eine Einheit in der linken Szene, ein Momentum. Was zur Folge hatte, dass mit Jon Pult, Andrea Fopp, Kiran Trost und Tom Leibundgut ein ganzer Block dieser Bewegung in den Gemeinderat gewählt wurde. Das war episch, das war die Revolution! Dachte man. (Die Südostschweiz, 2012-05-15)

Aber es gibt auch ganz andere Höhepunkte: Etwa das schleppend beginnende „It’s Good To Be King“, das mit der Zeit in eine Art Dauer-Crescendo abhebt, durchdrungen von Mike Campbells beeindruckend vielfältiger Lead-Gitarre, kurz unterbrochen von Benmont Trenchs feinfühligem Piano-Solo, gestoppt von messerscharfen Breaks der ganzen Band und letztlich aufgelöst in einem wunderbar klaren Petty-Ton – episch! (Mannheimer Morgen, 2012-07-02)

Die interessante Lücke im Wortschatz

Eine besonders interessante Lücke im deutschen Wortschatz füllt epic/episch eigentlich nicht. Ich halte es, wie gesagt, im Wesentlichen für ein Nachfolgewort von coolgeilkrass etc., und es wird selbst sicher ebenso bald in der Rolle des aktuellsten Slangbegeisterungswortes abgelöst werden. Natürlich kommen jedem dieser Wörter gemäß seiner Ursprungsbedeutung andere Konnotationen zu: cool eine lässige, geil eine sexuelle, krass eine Konnotation des pathologisch Übertriebenen und episch eine des Sagenhaften, Mythologischen, gut passend zu einer Zeit mit vielen Kinofilmen, die riesige Schlachten in vergangenen Zeiten oder Fantasy-Welten zeigen.

Fazit

So interessant ich episch als „eingedeutschten“ Anglizismus auch finde, muss ich doch konstatieren, dass es – und nicht weniger die nicht eingedeutschte Form epic – bei den Kriterien „Aktualität“ und „Interessante Lücke“ zwar nicht völlig abloset, aber sich gegen so manch anderes Kandidatenwort in diesem Wettbewerb wohl nicht wird behaupten können. Was meint ihr?

Paywall [Anglizismus 2012]

Die Kandidaten für den Anglizismus des Jahres 2012 stehen fest und werden jetzt bis Mitte Februar von der Jury in Blogbeiträgen besprochen. Den Anfang machten Anatol mit Fracking/fracken und Susanne mit Hashtag, heute setze ich die Reihe mit Paywall fort.

Das Wort

Das englische paywall, seltener: pay wall, ist ein Substantiv und ein Kompositum aus dem Verb pay („bezahlen“) und dem Substantiv wall („Mauer“). Ins Deutsche wurde es als Paywall praktisch unmodifiziert übernommen und bezeichnet auch dasselbe wie im Englischen: eine technische Vorrichtung, mit der Online-Medien den Zugang zu ihren Inhalten beschränken, wobei diese Beschränkung für zahlende Benutzer/innen aufgehoben wird, typischerweise in Form eines Abonnements.

Zwei Parallelen zur bereits länger bekannten Firewall fallen mir auf: Zum einen, dass beide Wörter die Mauer (wall) als Metapher für elektronische Zugriffsbeschränkungen benutzen, und zum anderen, dass sich bei beiden im Deutschen das feminine Genus durchgesetzt hat, wohl in Anlehnung an Mauer. Nur sehr vereinzelt findet sich maskulines oder neutrales Genus, wohl in Anlehnung an das deutsche Wort Wall.

Als Eigenbezeichnung kostenpflichtiger Inhaltsangebote kommt Paywall selten vor, die Online-Medien sprechen eher von „Abonnements“ oder „E-Papers“. Der Kandidat kommt vielmehr in Berichten über die Errichtung von Paywalls vor. Das scheint mir daran zu liegen, dass die Mauer-Metapher die Sichtweise ausdrückt, dass der freie Zugriff auf alle Inhalte im Internet der Normalfall ist und die Online-Medien sich quer dazu stellen, um ihrer Nutzer/innen zur Kasse bitten zu können. Demgegenüber sind die Paywalls einführenden Medien bemüht, das Zahlen als Normalfall zu etablieren. Eine Ausnahme bildet die taz: Deren Paywall heißt TAZ PAYWALL. Aber bei der ist das Zahlen auch völlig freiwillig.

Die Sache

Paywalls sind nicht völlig neu, so bietet das Wall Street Journal schon seit 1997 seine Online-Nachrichten nur gegen Geld an. Auch ist es bei Online-Medien schon lange üblich, manche Artikel kostenlos und andere Artikel nur für Besitzer/innen eines Premium-Abonnements anzubieten. Dass über so etwas unter dem Begriff paywall Bericht erstattet wird, lässt sich im Englischen etwa ab 2005, im Deutschen etwa ab 2008 ausmachen.1 Diese „Paywalls der ersten Generation“ sind eigentlich alle „hart“: jeder Artikel ist entweder kostenlos oder kostenpflichtig, die Paywall teilt das Angebot des jeweiligen Online-Mediums in zwei fixe Teile, wobei in Extremfällen wie dem Wall Street Journal der kostenlose Teil praktisch nichtexistent ist. Die erste Paywall der New York Times teilte ihr Angebot in einen kostenlosen aktuellen und einen kostenpflichtigen historischen Bereich, diese Paywall wurde 2007 aufgegeben.

Seit etwa 2011 ist eine zweite Generation von „weichen“ Paywalls im Kommen. Hierbei verläuft die Grenze flexibel: die ersten 10-20 Artikel, die ein/e Leser/in aufruft, sind kostenlos, danach muss er/sie zahlen oder ihre/seine Browser-Cookies löschen. Auf diese Weise vermeiden die Medien es, ihre gelegentlichen Nutzer/innen zu vergrätzen, schonen so ihre Reichweite und Werbeeinnahmen und können doch an treuen Nutzer/innen dazuverdienen. Die wohl bekannteste Vertreterin dieser im Englischen metered paywalls genannten Art ist die neue Paywall der New York Times. Sie gilt als Erfolgsmodell und wird daher und seit Kurzem eifrig kopiert, auch von deutschsprachigen Medien wie z.B. NZZ, Welt Online oder – geplant – der Süddeutschen.

Aktualität

Paywall ist also im deutschsprachigen Raum gerade ein sehr aktueller Begriff und boomt entsprechend. In Googles Suchstatistiken für Deutschland taucht das Wort überhaupt erst Anfang 2011 auf (kurz vor der Einführung der neuen New-York-Times-Paywall) und geht nach einem fluktuierenden Jahr seit Mitte 2012 steil nach oben. Aktueller könnte das Thema auch nicht sein, nun, da Welt Online ihre Paywall im Dezember eingeführt hat und eine noch blödere Zeitung aus demselben Hause bald als zweite überregionale Tageszeitung folgen wird.

Das Deutsche Referenzkorpus bildet indes noch kein nachhaltiges Eindringen von Paywall in die deutsche Sprache ab. Vor Juli 2012 (weiter geht dieses Korpus momentan noch nicht) taucht das Wort nur in 11 Texten auf, davon 1 Zeitungsartikel, 2 Wikipedia-Artikel und 8 Wikipedia-Diskussionen.

Auch im englischsprachigen Raum wurde paywall als besonders aktuelles Wort wahrgenommen, allerdings schon 2009, da war es unter den Finalisten für die Wahl zum Word of the Year des New Oxford American Dictionary.

Die Lücke füllen

Wird für das, was Paywall bezeichnet, ein Wort gebraucht? Im Moment offensichtlich ja. Die Paywall ist sozusagen die Veränderung, die aus einer kostenlosen Nachrichtenseite, wie wir sie gewohnt sind, eine (teilweise) kostenpflichtige Nachrichtenseite macht, wie sie uns auch nicht völlig unbekannt ist. Man könnte also argwöhnen, dass der Begriff eigentlich nur in der aktuellen Diskussion um die Veränderung von Online-Journalismus eine Rolle spielt und dass wir ihn, wenn die Entwicklung erst mal halbwegs abgeschlossen ist, nicht mehr brauchen werden. Dann könnten wir einfach wie bisher von kostenlosen und kostenpflichtigen Websites reden.

Andererseits sagt sich „Hat die Website eine Paywall?“ leichter als „Ist die Website kostenpflichtig?“ Eine aktuelle Suche beim englischen Google News erweckt den Eindruck, dass Entsprechendes auch fürs Englische gilt und der dort schon etwas ältere Begriff sich durchaus durchgesetzt hat – auch abseits von Nachrichtenwebsites, z.B. bei Websites, die wissenschaftliche Forschungsergebnisse veröffentlichen.

Dass Paywall ein relevantes Wort bleiben wird, denke ich aber vor allem deshalb, weil Websites sich immer weniger entweder dem Kostenlos- oder dem Kostenpflichtig-Modell zuordnen lassen. Mit hybriden Modellen wie der metered paywall hält der Moment, in dem man „gegen die Paywall knallt“, in den Erfahrungsschatz der Internetnutzer/innen Einzug, und so braucht man denn auch ein Wort dafür.

Bleibt noch die Frage, ob es eine nichtanglizistische Alternative gibt. Ja: Bezahlschranke, was eine freie Lehnüberseztung zu sein scheint. Mit aktuell 84,300 deutschen Google-Treffern gegenüber 172,000 für Paywall ist sie durchaus eine ernstzunehmende Konkurrenz. Das Wort ist deutlich sperriger, hat aber den Charme, dass die Schrankenmetapher m.E. besser zur bezeichneten Sache passt als die Mauermetapher: Wo, wann und für wen welche Schranke hochgeht, entscheiden flexible Algorithmen™, es gibt keine Mauer, die unverrückbar wäre.

Fazit

Paywall ist ein solider Kandidat, der eigentlich alle Kriterien erfüllt: Das Wort besteht aus englischem Wortmaterial, es ist kein Produktname, es füllt eine erkennbare Lücke im deutschen Wortschatz (wenn auch nicht ohne „heimische“ Konkurrenz) und es lässt sich für 2012 eine klare Ausbreitung in Bewusstsein und Sprachgebrauch einer relativ breiten Öffentlichkeit erkennen.

Fußnoten

1 Die krude Methode, die mich zu dieser verstiegenen Aussage verleitet: Bei Google über die Suchoptionen die Ergebnisse auf die jeweilige Sprache sowie auf jeweils eins der vergangenen Jahre beschränken und dann gucken, wann chronologisch zum ersten Mal auf Ergebnisseite 1 ein einziger relevanter Treffer auftaucht, d.h. ein Link zu einem Blogbeitrag oder sonstigem Medienbericht, der tatsächlich auf das jeweilige Jahr datiert ist.

Korbflechtartige Wellenverblender und die Sedimentierung des Subjekts

Nicht immer sind Texte, die in Museen Bereiche einer Ausstellung oder einzelne Werke erläutern, ohne weiteres zu verstehen. So stand ich neulich in den Hamburger Deichtorhallen vor einem Rätsel, als ich las, die Elemente, aus deren Abformungen Anselm Reyles Skulptur Ontology zusammengesetzt ist und deren Hockerartigkeit mich bei dem Ganzen an Ai Weiweis Hockerskultpuren denken lässt, seien ursprünglich an einem DDR-Gebäude zu „korbflechtartigen Wellenverblendern“ zusammengesetzt gewesen. Aber so überrumpelt ich mich von diesem Wortmonster fühlte, das so selbstverständlich in diesen Text eingereiht war, die ungefähre Antwort ließ sich doch rasch ergoogeln und ergrübeln. Erst während des Schreibens dieser Zeilen hingegen glaube ich einigermaßen verstanden zu haben, was das Straßburger Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in seiner Sammlung damit meint, in Eugène Leroys Porträts offenbare die Übermalung des Gesichts mit dicken Farbschichten „die komplexe Sedimentierung des Subjekts“.

Reisestreiflichter

In einem guten Urlaub lernt man viel. Ich bin gerade aus einem guten Urlaub zurück. Gelernt habe ich u.a.:

Liège hat einen irre schönen Hauptbahnhof.

Dass Liège einen irre schönen Hauptbahnhof hat.

2012-12-16 11.53.54

Was Sol LeWitt für Kunst gemacht hat und dass ich die mag (hier im Centre Pompidou-Metz).

2012-12-16 15.14.08

Dass es an der École Supérieure d’Art de Lorraine Metz tolle Kofferwörter gibt: réflexposer, créelectif, pensarder, beauxarder, crégarder, inaventer, expollectif, échangeroger, nouvarder, découventer, expoginer, imarpréter.

2012-12-18 17.24.02

Wie es in einem der beiden Innenhöfe des Musée d’Art Moderne et Contemporain in Straßburg aussieht.

2012-12-22 19.06.23

Dass Stuttgart eine neue, von innen ziemlich tolle Stadtbibliothek hat.

2012-12-27 17.41.39

Dass die imposante Glas-Stahl-Kuppel des Düsseldorfer Ständehauses (K21) nicht ganz dicht ist. Alle Museumsbesucher/innen stellen beim Anblick des Eimers natürlich laut die gleiche Frage: ob das Kunst sei.

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Dass es noch Einkaufszentren gibt, deren Architektur mich ehrlich beeindruckt: Hier das wurmlochartige MyZeil in Frankfurt am Main.

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Was für Bauruinen die Nazis in Nürnberg hinterlassen haben und dass manche davon – hier die Kongresshalle – aus dem richtigen Winkel ganz hübsch sind.

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Dass in Dresden wildplakatiert wird.

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Wie (toll) die Neue Synagoge in Dresden aussieht.

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Dass das berühmte Schloss Sanssouci winzig klein ist und neben einer Windmühle steht.

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Wie der Himmel über Sanssouci aussieht.

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Wo man in Hamburg ungestört Paternoster fahren kann: Im „Columbia-Haus“ in der Deichstraße 29 (Nähe Speicherstadt) und dass man beim Reinkommen in dieses elegante Jugendstilgebäude direkt ein Rohr sieht und die Wand, hinter der die Paternosterkabinen im Untergeschoss wenden.

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Dass es in der Hamburger Speicherstadt Spezialkringel gibt.

Über Macht

Mitternachtsmeditation von neulich

Das Streben nach Macht kann ich nur teilweise verstehen. Sicher, es ist wichtig, dass die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Aber was kann ich mir dafür kaufen, dass ich es war, der sie getroffen hat?