Archiv der Kategorie: Literatur

Mettre de la diversité

„C’était beau. Vert, blanc. Ordonné. On sentait l’organisation. Ils avaient tout fait pour qu’on soit bien, ils s’étaient demandé: qu’est-ce qu’il faut mettre pour qu’ils soient bien? et ils l’avaient mis. Ils avaient même mis de la diversité: quatre grandes tours, pour varier le paysage; ils avaient fait des petites collines, des accidents de terrain, pour que ce ne soit pas monotone; il n’y avait pas deux chalets pareils; ils avaient pensé à tout, pour ainsi dire on voyait leurs pensées, là, posées, avec la bonne volonté, le désir de bien faire, les efforts, le soin, l’application, l’intelligence, jusque dans les plus petits détails. Ils devaient être rudement fiers ceux qui avaient fait ça.“

 
Die Paradoxie, die Christiane Rochefort (Les Petits Enfants du siècle, Reclam 1991, S. 124) mit feiner Ironie hinter diesen schönen Worten versteckt hat, hat mich schon fasziniert, als der Absatz einmal auf einem kopierten Blatt bei uns im Französischunterricht auftauchte.

„Ils avaient même mis de la diversité“: Vielfalt als eine Einrichtung, die von beflissenen Städtebauern einer Siedlung hinzugefügt werden kann wie Fahrradständer oder Hauseingangsbeleuchtungen. Heute erinnert mich das an das Französische Viertel und das Loretto-Areal in Tübingen. Die herbeigeschaffte Vielfalt nimmt hier die Form verschiedener Farben und Formen an, die die Fassaden der Fertighäuserblöcke schmücken. Es ist wirklich ganz hübsch. Aber mit gewachsener Vielfalt kann es nicht konkurrieren.

Es ist aber bestimmt wesentlich angenehmer als die Großwohnsiedlung Sarcelles, die Rocheforts Erzählerin beschreibt. Wo die gut gemeinte städtebauliche Theorie, „leurs pensées, là, posées, avec la bonne volonté, le désir de bien faire, les efforts, le soin, l’application, l’intelligence“ der stolzen Technokraten in der Praxis fürchterlich schiefgeht. „Ethel riait“, heißt es ein paar Absätze weiter, „Je ne comprends pas ce qui te rend triste; si c’est beau comme tu dis. Oui c’est beau. Alors? Qu’est-ce que tu veux? – Désordre et ténèbres.“

So She Poons That

Ah, Snow Crash von Neal Stephenson! Neulich bei XKCD erwähnt, vom Language Log aufgegriffen und prompt von mir gelesen. Ein Cyberpunk-Roman mit Schlachten, die parallel in realen und virtuellen Welten ausgetragen werden. Mit bemerkenswerten Voraussagen über viele Aspekte der Entwicklung des Internets. Mit vielen Spielereien über Themen der Linguistik, von neuronaler Grammatik bis zu den Grenzen natürlichsprachlicher Expertensysteme. Mit vielen Seitenhieben auf die Gegenwart (1992). Der Roman spielt in einer dystopischen Welt in naher Zukunft, in der es keine Gesetze mehr gibt und in der Staaten zwar noch existieren, aber auf einer Stufe mit Firmen stehen, die an verschiedenen Orten ihre Franchises (bzw. Botschaften) eröffnen und Dienstleistungen anbieten, wie übrigens auch die Mafia. Alles ist privatisiert in dieser Welt, selbst Polizeien und Gefängnisse.

Mehr noch als nerdig und gesellschaftskritisch ist der Roman jedoch witzig. Da gibt es eine Stelle, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Die 15-jährige Skateboardkurierin Y.T. hat gerade einen Mercedes gepoont, also sich zum Ärger und zur Hilflosigkeit des Fahrers mit einer magnetischen Harpune ans Heck gehängt, um gezogen zu werden:

She gets the impression that this Mercedes is sandbagging – driving real slow so she’ll poon something else – so she poons something else, an outgoing delivery truck. Judging from the way it’s riding high on its springs, it must be empty, so it’ll probably move along pretty fast.

Ten seconds later, predictably, the Mercedes blasts by in the left lane, so she poons that and rides it nice and hard for a couple of miles.

Warum finde ich die Stelle so witzig? Es stecken Wiederholungen darin und der Autor weigert sich, die üblichen sprachlichen Kennzeichnungen von Wiederholungen anzuwenden. driving real slow so she’ll poon something else – so she poons something else, nicht etwa so she does that. Und: the Mercedes blasts by in the left lane, so she poons that, nicht etwa: so she poons it again.

Versuch einer Analyse: Es handelt sich nicht um einen, sondern um zwei miteinander verflochtene Texte, die dieselbe Szene aus zwei Perspektiven schildern, etwa so:

She gets the impression that this Mercedes is sandbagging – driving real slow so she’ll poon something else – so she poons something else, an outgoing delivery truck. Judging from the way it’s riding high on its springs, it must be empty, so it’ll probably move along pretty fast.

Ten seconds later, predictably, the Mercedes blasts by in the left lane, so she poons that and rides it nice and hard for a couple of miles.

Rot ist die Teenage-Rebellin, die sich ein Kämpfchen mit der Erwachsenenwelt liefert und es gewinnt. Sie weiß, was der Mercedes-Fahrer gegen sie im Schilde führt und sie triumphiert, als sie ihm seinen vermeintlichen Sieg wieder wegschnappt. Blau ist die eiskalte Profi-Kurierin Y.T., der dieses Spielchen nicht egaler sein könnte. Sie poont einfach immer das schnellste Fahrzeug in Reichweite, das in die richtige Richtung fährt. Beider Schilderungen laufen unabhängig voneinander und sind nur unvollständig zu einem einzigen Text verwoben, daher treten an den Nahtstellen diese seltsamen Wiederholungen auf. So schön hier mit sprachlichen Mitteln die verschiedenen Seiten der Y.T. zwischen kindischer Rebellion und erwachsener Geschäftssinnigkeit ausgedrückt werden, zwei grundverschiedene Herzen schlagen in ihrer Brust nicht: Was könnte den blöden Mercedesfahrer in einem Kräftemessen mit einer frechen Göre mehr ärgern als Opfer gerade des mechanischen Prinzips „Poon den Schnellsten“ zu werden…

Ist „Milf“ etwa ein deiktischer Ausdruck?

Ist Zsá Zsá Inci Bürkles Mutter etwa eine Milf?, fragt sich Max Goldt und bemerkt:

Ich werde das Wort „Milf“, welches akronymischen Charakters ist, hier übrigens nicht genauer erläutern. Dazu bin ich mir zu fein. (…) Am besten, man hat das Wort noch nie gehört. Sagt man nämlich auf einer Party, jedenfalls auf einer soliden Party zu einer Dame: „Sie sind die tollste Milf des ganzen Viertels!“, wird man mit einer klassischen Ohrfeige (…) zu rechnen haben. (…) Übrigens könnte keine Frau, auch die mopsfidelste nicht, von sich selber behaupten, sie wäre eine Milf. Milf und Filf kann man nur in den Augen anderer sein, (…)

Das meint er wohl deswegen, weil mother I’d love to fuck ein I enthält. I (ich) ist ein sogenannter deiktischer Ausdruck. Andere deiktische Ausdrücke sind z.B. du, der da, hier, jetzt. Ihre Bedeutung hängt von der Sprechsituation ab – davon, wo, wann, mit welchen zeigenden Gesten und – in diesem Fall vor allem – von wem sie geäußert werden.

Auf wen sich mother I’d love to fuck beziehen kann, hängt daher auch davon ab, wer diesen Ausdruck benutzt. Denn es möchte ja nicht ein jeder mit denselben Müttern dem Geschlechtlichen frönen: „She’s a mother I’d love to fuck“ – „Well, she’s not a mother I’d love to fuck.“

Ein deiktisches Element – hier ein Personalpronomen – zu enthalten, ist für feststehende Wendungen, wie mother I’d love to fuck eine geworden ist, höchst ungewöhnlich. Mit der Etablierung als Wendung einher ging das häufige Auftreten als Akronym (MILF) und die Wortwerdung: Milf. Die linguistisch interessante Frage ist, inwieweit bei diesem Prozess der deiktische Charakter des Ausdrucks tatsächlich erhalten bleibt.

„She’s a milf.“ – „Well, she’s not a milf.“ In dieser Unterhaltung ist das Wort milf tatsächlich deiktisch, aber sie wirkt nicht gerade natürlich. Sie ist ein Sprachspiel. Und nach dem, was ich über Sprache weiß und intuiere, sind das alle Diskurse, in denen milf deiktisch verwendet wird. Es ist mehr ein Witz als ein Wort, ein Insider für die, die wissen, was sich Ungehöriges hinter der hübschen Silbe verbirgt. Die Schöpfung des Wortes mylf ist eine weitere Runde in diesem Spiel.

Wo milf außerhalb von Sprachspielen benutzt wird, als ganz normales Wort, hat es eine nichtdeiktische Bedeutung angenommen. Wie Max Goldt selbst schreibt, bezieht es sich schlicht auf „attraktive Frauen im Mütteralter“, unabhängig davon, wer es benutzt. So könnte sich durchaus eine Frau selbst als Milf bezeichnen, selbst dann, wenn man von autoerotischen Fantasien als Erklärung absieht.

Während in jeder lebenden Sprache täglich neue Inhaltswörter (Substantive, Verben, Adjektive, Adverbien bzw. entsprechend) geschaffen werden und manche dieser Neologismen sich bald allgemeiner Verwendung erfreuen, ist es so gut wie unmöglich, neue Funktionswörter (Konjunktionen, Präpositionen, Pronomen…) zu etablieren. Ähnliches gilt wohl auch für deiktische Wörter. Ich finde, diese Erkenntnis ist ein interessanter Ausschnitt aus dem Bild „Wie Sprache funktioniert“.

Mittelhochdeutscheln und metzgern

Meinem humoristischen und meinem musikalischen Schatzkästlein habe ich vorstehend je eine Sammlung zu je zwei Elementen entnommen und hier vorgestellt, zuletzt ist nun mein literarisches Schatzkästlein an der Reihe. Ich bin ja ein Sprachgeek. Will ein Autor mich also komplett gefangennehmen, so schaffe er eine schöne verrückte Kunstsprache und verfasse sein Werk oder große Teile davon in ihr.

Thomas Mann hat das in Der Erwählte getan, der denn auch zu meinen absoluten Lieblingsromanen zählt. Er erschafft ein „sprachliches Mittelalter“, indem er seinem Neuhochdeutsch einen „mittelhochdeutschen Look“ verpasst und es mit allerlei ungewöhnlichem romanischem Sprachmaterial würzt. Carsten Bronsemas Doktorarbeit beschäftigt sich eingehend damit (und benutzt an einer Stelle das Verb zerpuzzeln, ich bin begeistert).

Meine nächste Lektüre wird Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated sein. Einer der beiden Erzähler, der junge Ukrainer Alex, schreibt laut Klappentext ein sublimely butchered English, und diese Formulierung ist so vielversprechend wie göttlich. Die Verfilmung hat mich in dieser Hinsicht, wie auch in jeder anderen, jedenfalls schon überzeugt. Ich bin gespannt.

Air Quotes

Anführungszeichen kann man nicht aussprechen. Das ist ein Problem, wenn man Texte mit Anführungszeichen vorliest. Bei Zitaten oder wörtlicher Rede nicht so sehr, da kann man sich die Anführungszeichen aus dem Kontext und der Stimmführung dazudenken. Werden Anführungszeichen aber verwendet, um sich von der benutzten Wortwahl zu distanzieren, um Unglauben oder Ironie auszudrücken, muss man sie irgendwie explizit wahrnehmbar machen. Seriös, aber dem Zuhörer auch leicht entgänglich ist es, vor den angeführten Worten eine hörbare Pause zu machen und sie dann etwas überbetont vorzulesen. So wird es z.B. bei ZEIT Audio gemacht. Max Goldt verwendet auf seinen Lesungen zuweilen die, höhö, Höhö-Methode, höhö, Sie verstehen. Hat man Blickkontakt zum Zuhörer und keine Angst vor dem etwas schlechten Image dieser Geste, wird man dagegen air quotes verwenden.

Bei air quotes hebt man beide Hände auf Kopfhöhe und zuckt – meist zweimal – mit Zeige- und Mittelfingern. Häufiger als beim Vorlesen kommen air quotes als Geste beim mündlichen Kommunizieren zum Einsatz. Über ihre schon recht lange Geschichte verrät die englische Wikipädie mehr.

Wie sollen air quotes eigentlich auf Deutsch heißen? Ich dachte erst an Entenfüßchen wegen Gänsefüßchen und weil sie oben in der Luft sind statt unten auf Papier und Enten ja gründeln – nur: Beim Gründeln bleiben die Füße im Gegensatz zum Bürzel unter Wasser, also stimmt das Bild leider nicht. Vorschläge willkommen.

Mein Schatzkästlein des Humors enthält eine bisher zweiteilige Materialsammlung zum dem Thema: einen Ruthe-Cartoon (Air quotes mit Hufen! Göttlich!) und ein Zitat aus der Simpsons-Folge, in der Bart mit einem Doppelgänger aus reichem Hause die Rollen tauscht:

Lisa: Mom, “Bart” has something to tell you.
Marge: I don’t like the look of those air quotes.

Geistiger Diebstahl

Das Urheberrecht ist eine achtenswerte Sache, wiewohl ich glaube, dass die Welt auch ganz ohne es nicht unterginge. Plagiate sind böse, einverstanden. Man merke aber auch: Zitate sind keine Plagiate, sondern legitim. Und in der Literatur müssen Zitate nicht explizit gekennzeichnet sein, zumindest nicht im Text. Sie müssen nur erkennbar sein. Aber Erkennbarkeit hängt natürlich vom Leser ab, deswegen sind solche Zitate von Plagiaten im Zweifel schwer zu unterscheiden.

Der Fall Hegemann bewegt sich offensichtlich in einer Grauzone. Unter den Quellen, die in dem jetzt veröffentlichten sechsseitigen Verzeichnis aufgeführt sind, sind wahrscheinlich beide Sorten von Textübernahmen dabei. Weil es eine Grauzone ist, verstehe ich nicht, wie alle Welt so eindeutige Meinungen dazu haben kann. Eine eindeutige Meinung habe ich in dieser Sache mal wieder hauptsächlich über Leute, die Phrasen wie diese dreschen: „Geistiger Diebstahl ist und bleibt Diebstahl.“ Nein, ist er nicht.

Geistiger Diebstahl ist kein Diebstahl

Ein angeblicher Mörder ist nicht unbedingt ein Mörder. Ein elektrischer Straßenbahnschaffner ist nicht elektrisch. Ein kalter Hund ist kein Hund. Und geistiger Diebstahl ist kein Diebstahl. Ein Diebstahlopfer hat sein Eigentum nicht mehr, ein geistiges Diebstahlopfer sieht sich „nur“ in einem komplizierten Recht auf Selbstbestimmung über das Selbstverfasste verletzt.

Josef Joffe, der uns in der aktuellen Zeit mal wieder einen atemberaubenden Schrott zusammenschreibt, fängt insofern eigentlich ganz vielversprechend an: „Seitdem die Menschheit erzählt, »borgt« und »stiehlt« sie. Aber dann entstand die Idee des »geistigen Eigentums« und des »Plagiats«. (…) Vom 18. Jahrhundert an (…) waren Worte nicht mehr umsonst zu haben; sie gehörten dem Autor, und so entstanden Copyright und Urheberrecht.“

Wir lernen: Das Urheberrecht ist erst kürzlich entstanden, und „entstanden“ bedeutet natürlich: Es wurde von Menschen aus Gründen erfunden und durchgesetzt. Ohne auf diese Gründe irgendwie einzugehen, biegt Joffe, ganz Polemiker, schon im nächsten Satz umstandslos in die kategorische Verteidigung des Urheberrechts ein: „Den Chinesen werfen wir zu Recht das Raubkopieren vor – und Google das Scannen von Millionen von Büchern.“ Zu Recht? Zu welchem Recht?

Und jetzt kommt die entscheidende falsche Behauptung. Sie wird immer wieder gern gemacht, um über die Hintertür des allgemein verbreiteten Respekts vor dem Privateigentum auch die Akzeptanz des Urheberrechts zu steigern. Oder aus Dummheit nachgeplappert: „Worte sind Eigentum – wie Patente und Häuser.“ Nein, sind sie nicht.

Das Eigentum an einem Patent oder einem Haus besteht grob gesagt darin, dass es in den zuständigen Ämtern auf meinen Namen eingetragen ist. Die Tatsache einer solchen Eintragung kann man nicht wie Worte einfach kopieren. Es sind beim Diebstahl wie beim Schutz von Eigentum und geistigem Eigentum völlig verschiedene Vorgänge und Gesetze am Werk, und jeder tut gut daran, auch in seinem persönlichen Rechtsempfinden unterschiedliche Empörungen dafür zu reservieren.

Bei Joffe folgt nun eine Passage, die keinen allzu krassen Unsinn enthält, wenn man davon absieht, dass er Literaturkritikern Vorhaltungen dafür macht, dass sie die Causa unter literarischen Gesichtspunkten bewerten und nicht unter rechtlichen.

Fremde Federn

Was man Hegemann am ehesten vorwerfen kann, bezeichnet Joffe mit „verweislose Aneignung“ sehr gut, wobei ich den Aspekt der Aneignung entscheidend finde. Dass die Verweise fehlen, ist das eine. In der Wissenschaft sind Zitate ohne Verweis per Konvention und sinnvollerweise verboten. In der Kunst ist das nicht so, jedenfalls nicht für mein Kunstempfinden. Viele, die man heute als literarische Größen feiert, wären womöglich nie entdeckt worden, wenn sie so uncool gewesen wären, ihre Textquellen zu listen. Manchmal besteht der literarische Wert einer Übernahme ja auch darin, den Leser die Quelle selbst finden zu lassen. Stichwort Anspielung, Stichwort Verweis, Stichwort Insider, Stichwort soziale Dynamik innerhalb von geistigen Milieus, Stichwort Knuffen in die Seite. Ich benutze variierend auch andauernd Formulierungen, die ich von anderen habe, z.B. Max Goldt, ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen. Schon der Übergang zwischen Inspiration und Textübernahme ist fließend. Auf der Ebene kurzer Textfragmente wie Sätzen, Idiomen oder Wörtern ist sogar der Übergang zwischen Textübernahme und ganz normalem Sprachwandel fließend.

Das alles ist eben keine Aneignung. Um statt „Aneignung“ eine Formulierung zu wählen, die ohne Eigentumsmetapher auskommt: Man schmückt sich nicht mit fremdem Federn. Man geht von einer Leserschaft aus, die die Fähigkeit hat, die Quellen zu erkennen, und schmückt sich im Falle von Zitaten nicht mit Worten, sondern mit deren Kenntnis. Nun kann man sagen, Hegemann hätte von keiner Leserschaft ausgehen dürfen, die Airens Blog kennt. Aber es ist nicht klar, ob sie wissen konnte, dass ihr Buch für ein paar Wochen außerhalb der entsprechenden Kreise deutlich bekannter sein würde als Airens Schriften.

Selbst einen Roman, der völlig aus Schnipseln fremder Werke besteht, würde ich nicht als Plagiat bezeichnen, wenn der Autor zwar das Gesamtwerk, nicht aber die einzelnen Schnipsel als seine eigenen ausgibt. Wenn er zu seinen Methoden steht. Es ist der Eindruck entstanden, dass Helene Hegemann nicht zu ihren Methoden stehen, dass sie sie verbergen wollte, bevor die Textübernahmen publik wurden. Wenn das stimmt, ist es wirklich ein Makel. So oder so ist sie mit der Situation nicht gut umgegangen, da stimme ich Joffe sogar mal zu: „Von der Autorin wünscht man sich ein Quantum an Zerknirschung oder, wie es früher hieß: »Wohlanständigkeit«.“

Worte sind kein Eigentum

Wendet sich Joffe nun also der menschlichen Seite zu und ist mit der Zurschaustellung verbreiteter mangelnder juristischer Intelligenz fertig? Leider nein, zwei Sätze später muss ich mir wieder schreiend aufs Hirn greifen: „Sie empfinde es nicht als »geklaut, weil ich ja das ganze Material in einen völlig anderen und eigenen Kontext eingebaut habe«. Ist der Vergaser nicht geklaut, wenn ich ihn in mein Auto einbaue?“ Tja… was soll man dazu noch sagen. Als ich zuletzt nachgeguckt habe, waren zumindest in meinem Exemplar von Strobo alle von Hegemann „geklauten“ Passagen noch vorhanden. Was ich von dem Vergaser, der mir letztes Jahr geklaut wurde, leider nicht behaupten kann. Danke, Herr Joffe, Sie haben gerade selbst demonstriert, wie unsinnig es ist, „geistiges Eigentum“ wörtlich zu interpretieren.

Doch Joffe lässt sich ja von niemandem belehren, auch nicht von sich selbst: „Warum dann zwischen geistigem und materiellem Eigentum unterscheiden? (…) Die Trennung lässt sich nicht durchhalten, nicht in einer Welt, in der die Leistung einer Wirtschaft nur noch zu zwanzig Prozent aus »Dingen« – Autos, Äpfeln, iPods – besteht. Die anderen achtzig Prozent im weitesten Sinne »geistiges Eigentum« sind, die Hauptwertschöpfer des 21. Jahrhunderts.“ Mich würde interessieren, woher er diese Zahlen hat und ob er, bevor er diese Tatsache auf dem Altar der Polemik opferte, wenigstens daran gedacht hat, dass die „zwanzig Prozent“ aus der Übertragung von Eigentum bestehen, die „achtzig Prozent“ hingegen ganz bestimmt ganz überwiegend aus der Gewährung von Nutzungsrechten an geistigem Material. Auch wenn ein Patent verkauft wird, wird nicht die Idee verkauft – die ist vor wie nach dem Kauf in beiden Köpfen – sondern ein exklusives Nutzungsrecht. Entsprechend lassen sich auch keine Worte besitzen, sondern höchstens das Recht, bestimmte Kombinationen von Worten in bestimmter Weise öffentlich zu verwenden. Wenn die Hauptwertschöpfer des 21. Jahrhunderts tatsächlich geistiger Natur sind, ist es umso wichtiger, den Unterschied zwischen Eigentumsrecht und Urheberrecht zu kennen.

Und andere Unterschiede auch, wie den zwischen Urheberrecht und Copyright, auf den ich hier jetzt mal nicht eingegangen bin.

Mein Beitrag zur Wikipedia-Spendenaktion

Goldtzitat in der Wikimedia-Contribution-History

Contribution history

Das Zitat wollte ich schon lange mal angebracht haben. Leider konnte ich nicht den ganz genauen Wortlaut anbringen, weil ich Max Goldts Verteidigung der Besserwisserei bisher nur von Lesungen kenne.

Ein bisschen Kritik muss bei dieser Gelegenheit aber auch sein: Die Wikipädie könnte so viel mehr sein als eine Enzyklopädie – nicht nur technisch und sozial, sondern auch inhaltlich. Sie sträubt sich aber ein wenig dagegen. In der deutschen Ausgabe stört mich schon lange eine Sorte von Benutzern, die ich gerne die Relevanznazis nenne. Die kennen kein größeres Vergnügen als alles von Admins löschen zu lassen, was nicht „enzyklopädisch relevant“ ist – von Studenten organisierte Fachtagungen etwa. Die englische Wikipädie kam mir da lange viel lockerer vor, aber auch da lese ich in letzter Zeit immer häufiger „This article or section may contain content that is not appropriate for an encyclopedia.“ Ich hege ja Sympathie für die Auffassung, dass Freies Wissen unteilbar ist und dass, wer von Quantendynamik spricht, von recurring characters in vergessenen 80er-Jahre-Sitcoms  nicht schweigen sollte. Wird man eines Tages einen Parallelwikikosmos, eine Irrelepedia gründen müssen?

Träume aufschreiben

Ich habe es eine Zeitlang getan,

gesteht Max Goldt in seinem Tagebucheintrag „Daß sich Träume an- und abstellen lassen“ („Wenn man einen weißen Anzug anhat“, Rowohlt 2002),

empfand die aufgeschriebenen Träume beim späteren Lesen aber als albern und ausgedacht klingend und dachte dann, wenn sie eh ausgedacht klingen, braucht man sich nicht schlaftrunken an den Schreibtisch zu zwingen, sondern kann sich im wachen Zustand, wenn man z. B. eh gerade am Schreibtisch sitzt, wirklich welche ausdenken: Ich kletterte auf eine Linde, und oben im Baum saß Frau Borowka, die verhaßte Retusche-Lehrerin aus meiner abgebrochenen Fotografenausbildung. Die gibt mir ein altes Hochzeitsfoto. (…) Das Foto ist natürlich stark bekleckert, denn Retuschelehrerinnen geben einem immer extra bekleckerte Fotos, da man die Kleckse ja wegretuschieren soll (…). Ich steige von der Linde runter, schaue noch einmal hoch und bemerke, daß die Linde gar keine Linde ist, sondern der Zehnmetersprungturm im Freibad von Göttingen-Weende.

Das klingt in der Tat ausgedacht – der Retuschelehrerinnensyllogismus ist viel zu logisch für einen Traum. Was in Träumen als logisch dargestellt wird, sind einem Wachen unergründliche Schlüsse. Und das mit dem Zehnmetersprungturm ist eine schwache Nachmache in Träumen üblicherweise stattfindender Verwandlungen von Personen, Dingen und Orten. Authentischer hätte es geklungen, wenn er von dem Baum schon als von einem Sprungturm heruntergeklettert oder -gesprungen wäre. Die These, dass man sich Träume genausogut ausdenken kann, bricht dann im Folgenden zusammen, als Goldt einen echten Traum schildert:

Ich war in einem Gebäude zugange, das etwas mit einer autoritären Sekte zu tun hatte. Es gab ein Gerücht, daß man irgendwo in dem Gebäude zur Willensbetäubung „besprüht“ wird.

Wunderbar! Exzellent! Das ist typisch Traum! „Gerücht“, das steht gewiss für das diffuse Wissen unbekannter Quelle, das man in Träumen hat, und dann diese originell deplatzierte Terminologie wie „besprüht“! An so was erkennt man Träume! Ein wunderbares Beispiel ist auch Markus Riexingers Text „Ein spannendes Fußballspiel“, der in der Rubrik „Vom Fachmann für Kenner“ in der Titanic veröffentlicht wurde.

Sollte ich einmal den Nerv entwickeln, Beispiele aus der eigenen Erfahrung abzutippen, werden Sie, liebe Leser, davon erfahren.

Heilige Etymogelei

Ein besonders schönes Ziel für Parodien sind Predigten, die mit wackeligen Analogien vom Alltag zu Gott überleiten. In einem katholischen Kirchenblatt las ich mal eine besinnliche Spalte über Sterne am Himmel und Stars im Fernsehen. „Bei all dem Strahlen, das von George Clooney, Madonna oder Drew Barrymore auszugehen scheint“, schloss sie sinngemäß, „sollten wir eines nicht vergessen: Sterne leuchten nicht aus eigener Kraft. Sie reflektieren nur das Licht der Sonne.“ FAIL. So etwas funktioniert nicht nur mit Astronomie, sondern auch mit Fremdsprachen. Hier sind evangelische Pfarrer im Vorteil, sie haben nämlich mitunter Kinder, an denen sie ihre Ausführungen testen können. So konnte ich meinen Vater einmal davor bewahren, The Godfather of Jazz mit Der Gottvater des Jazz zu übersetzen. Andere Pannen sind unsubtiler und passieren auch noch: Ein Pfarrer griff sich aus dem Schatz des Alltags das burn-out-Syndrom heraus und ließ die Gemeinde wissen, dass auch Jesus für uns „ausgeboren“ sei (via belauscht.de). Ich lag unter dem Tisch, als ich das las, stellt sich hier doch nicht nur die Frage nach Hochwürdens Englischwörterbuch, sondern auch die nach seinen Drogen. Der liebste Wonnegraus sind mir aber die vielen kleinen Wortspiele, wenn sie mit einem staatstragendem Ernst gepredigt werden, der verleugnet, dass sie nur Spiele sind. Die verschiedenen Bedeutungen von aufbrechen miteinander zu verquicken, etwa wenn Abraham nach Kanaan aufbricht und in ihm ein Pfropfen aufbricht, ist ja plausibel und geistreich, alles schön und gut. Ich bin kein großer Kirchgänger und weiß nicht, ob es stimmt, aber osmotisch aufgenommenes popkulturelles Halbwissen lässt mich vermuten, dass Pfarrerinnen und Pfarrer solche Muster oft ad absurdum reiten. Da ich gerade kein gutes Beispiel zur Hand habe, denke ich mir ein dämliches aus: „Und plötzlich ver-steht Jakob. Es ist, als hätte Gott einen Schalter umgelegt, etwas in ihm ver-stellt.“ Max Goldt hat dies in dem wunderbaren Text Die Ansprache des Bahnhofsbischofs (Lesungsmitschnitt auf der CD Die Aschenbechergymnastik) minimalistisch parodiert, indem er einen Doppelsinn nicht einmal andeutet, aber trotzdem das Präfix eines Präfixverbs und die Partikel eines Partikelverbs so betont und absetzt, als gäbe es einen: „Auf einem Bahnhof, wo Menschen auf dem Wege sind, wo Menschen an-kommen, vor schwierigen Ent-scheidungen stehen oder gerade Schwieriges ent-schieden haben.“