Archiv der Kategorie: Politik

Dämmwahn

Neues vom Zeit-Abbestellen (aus Zeitgründen, nicht aus Zeit-Gründen): Die Zustellung hat bereits aufgehört, mein Zugang zum E-Paper ist aber noch nicht gesperrt. Eine gute Gelegenheit, an dieser Stelle nach bewährter Manier noch einmal auf den Schwachsinn der Woche hinzuweisen. Hanno Rauterberg polemisiert unter der Überschrift Schluss mit dem Dämmwahn! aus ästhetischen Gründen gegen die Dämmung von Häuserfassaden:

Verwundert werden die Menschen der Zukunft auf solche Merkwürdigkeiten blicken und sich fragen, was damals wohl los war in diesem Land, das sich ganz und gar einhüllte in die Vernunft technischer Errungenschaften, dafür aber alles Schöne calvinistisch verbarg. Das sich gern fugendicht abgeschlossen hätte, gegen Migranten und auch sonst gegen alles Unwägbare. Das sich selbst isolierte, um wettersicher den Stürmen der Zukunft trotzen zu können.

Bravo, munter drauflosschwadroniert und dabei zwei Sachen in einen Topf geworfen, die auf keiner, aber auch wirklich auf gar keiner Ebene irgendetwas miteinander zu tun haben: einerseits Xenophobie, andererseits eine Maßnahme gegen die Erderwärmung, deren Folgen auf alarmierende Weise gerade nicht unwägbar sind.

Es versetzt mir immer einen Stich, wenn jemand mit so einem Stuss eine Stelle in einem Essay verleimt, wo ihm kein besserer Anschluss zwischen zwei (akzeptablen) Teilen eingefallen ist. Aber wenn er es in einem Artikel tut, in dem er sich eine so wenig verantwortungsbewusste Meinung zum Klimaschutz leistet, macht es mich richtig wütend.

Leistungsträger und Leistungsverweigerer

Zwei Schlagwörter und meine zwei Cent

Du bist also klug, fleißig und hast dein Leben im Griff. Deine Fähigkeiten, flexibel zu sein, die richtigen Ideen zu haben und bei der Sache zu bleiben bescheren dir wirtschaftlichen Erfolg. Du magst es, für dich selbst verantwortlich zu sein. Bevormundung ist dir ein Gräuel. Ich sympathisiere!

Was die Gesellschaft betrifft, so hältst du dich für einen ihrer Leistungsträger. Die günstigen Bedingungen, die sie deinem Aufstieg geboten hat, hast du natürlich gern angenommen. Andere an den Früchten deiner Arbeit teilhaben zu lassen, siehst du aber nicht ein. Wer deine Fähigkeiten und deinen Erfolg nicht hat, hat deiner Meinung nach die Pflicht zu verelenden, damit sich deine Leistung „wieder lohnt“. Du erhebst deine Fähigkeit zur Selbstverantwortlichkeit zur Ideologie, verdrängend, dass auch du einmal nicht mehr können könntest. Steuern und Abgaben würdest du daher am liebsten ganz abschaffen. Tatsächlich bist du also ein Leistungsverweigerer.

Netzneutralität – keine Selbstverständlichkeit

Merken Sie was?

Noch vor Kurzem kämpfte die internetaffine Gemeinde in Deutschland erbittert gegen ein Gesetz, das Internetzugangsanbietern (ISPs) ein Stück weit vorschreiben sollte, wie sie ihren Job zu machen haben: das Zugangserschwerungsgesetz, ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Meinungsfreiheit, schlecht mit dem Banner des Kampfes gegen Kinderpornografie bemäntelt, getragen auf den Flügeln stumpfsinnigsten Aktionismus. Leider hat man damals auch immer wieder die pauschale Forderung gehört, der Staat habe sich gefälligst aus dem Internet herauszuhalten, es regele sich besser selbst. Solche Forderungen waren nicht nur wohlfeile Munition für – ich überspitze – böswillige Internetausdrucker etwa bei Zeit und bei Emma, sie stellen sich jetzt auch als Bumerang heraus.

Denn dieser Tage kämpft die internetaffine Gemeinde in Deutschland erbittert für ein Gesetz, das ISPs ein Stück weit vorschreiben soll, wie sie ihren Job zu machen haben: eine gesetzliche Verankerung der Netzneutralität. Netzneutralität ist bisher schlicht deswegen gegeben, weil bis vor Kurzem noch kein ISP auf die Idee gekommen war, es anders zu machen. Diesmal setzen wir uns also nicht gegen ein Gesetzesvorhaben zur Wehr, sondern wir fordern eins ein. Diese Erkenntnis ist wichtig für den Feinschliff unserer Argumente. Bei einigen der werten internetaffinen Mitstreiter scheint sie noch nicht angekommen zu sein. Ich greife wahllos den Kommentar von Mitzeichner 3083, Torsten Bolz, heraus:

Es ist wirklich ärgerlich, sich für Selbstverständlichkeiten einsetzen zu müssen.

Nein, eine Selbstverständlichkeit ist die Netzneutralität eben nicht. Sie ist bisher nichts gesetzlich Garantiertes, sondern etwas historisch Gewachsenes. Meiner Ansicht nach ist sie aber eine obzwar eher zufällige, so doch große Errungenschaft für die Demokratie: Alle können Sender sein, und alle senden gleichberechtigt. Diese Errungenschaft zu verlieren fände ich äußerst schmerzhaft, vor allem angesichts drohender Oligopolisierung von Nachrichten-, Meinungs- und Wissensangeboten. Deswegen finde ich es nötig, die Netzneutralität durch ein Gesetz zu schützen. Denn wäre es nicht nötig, ein solches Gesetz zu machen, wäre es nötig, kein Gesetz zu machen.

Ich habe die Erklärung der Initiative Pro Netzneutralität! also mitunterzeichnet, obwohl ausgerechnet der erste Satz völlig verunglückt ist:

Ein freies Internet ohne staatliche oder wirtschaftliche Eingriffe ist Garant für freien Meinungsaustausch weltweit und damit die direkte Ableitung des Rechts auf Meinungsfreiheit.

Das ist gleich dreifach Quatsch: Einen staatlichen Eingriff fordern wir ja gerade und wirtschaftliche Eingriffe sind die Voraussetzung dafür, dass es das Internet (jenseits seiner akademischen Ursprünge) überhaupt gibt. Es kömmt auf die Art dieser Eingriffe an. Ein Garant für freien Meinungsaustausch weltweit ist die Netzneutralität noch lange nicht, gemeint ist wohl „Voraussetzung“, und selbst das scheint mir übertrieben. Und aus dem Recht auf Meinungsfreiheit lässt sie sich nicht ableiten, schon gar nicht direkt. Nicht alles, was gut ist, ist ein Menschenrecht. Muss man immer gleich so maßlos übertreiben und bullshitten, wenn man irgendetwas durchkriegen will? Vielleicht schon.

Kinder, vertragt euch!

„Kinder, vertragt euch!“ Mit diesem Gestus wendet sich Jens Jessen in der aktuellen Zeit unter der Überschrift Das Netz gehört uns an „Digital natives“, „Digital residents“ oder „Internetenthusiasten“ auf der einen sowie „Digital immigrants“, „Digital visitors“ oder „Internetkritiker“ auf der anderen Seite. Er mag dabei nicht so recht zugeben, dass es diese beiden Lager gibt. Ich denke schon, dass es sie gibt, man sieht das doch an den politischen Konflikten, die immer häufiger zwischen ihnen auftreten, bei Themen wie Netzsperren, Leistungsschutzrecht oder Jugendmedienschutz-Staatsvertrag. Jessen jedenfalls meint, beide Seiten müssten nur ein paar falsche Vorstellungen aufgeben, dann würde man sich ganz schnell wieder vertragen.

Dabei stilisiert er uns Internet-„Einheimische“ zu dem uralten Klischee von unverbesserlichen Anarchisten, die wollen, dass im Netz überhaupt keine Gesetze gelten. Die das Netz zum – jetzt kommt der zum unerträglichen idiotischen Kampfausdruck verkommene Begriff – „rechtsfreien Raum“ erklären wollen. So lautet sein erster Appell:

Ein Minimum an Rechtsschutz, wie er sonst von Staaten seinen Bürgern garantiert wird, muss auch im Internet geboten werden. Wenn man sich darauf einigen könnte, und das heißt auch darauf, dass geistiges Eigentum nicht beliebigem Diebstahl ausgesetzt wird, wären viele Streitpunkte zwischen Einheimischen und Einwanderern beseitigt (die sich verständlicherweise um ihr Gepäck sorgen).

Wenn man sich darauf einigen könnte? Dass Gesetze auch im Netz gelten, darüber besteht längst Einigkeit. Dass irgendjemand ernsthaft die politische Forderung erheben würde, im Netz ungestört Kinderpornos gucken, zu Gewalttaten aufrufen, Verleumdungskampagnen durchführen und das Urheberrecht brechen zu dürfen, ist eine völlig absurde Vorstellung. Zum Beispiel das Urheberrecht wird stark respektiert in der digitalen Kultur, wie z.B. die Richtlinien der Wikipedia oder der De-Facto-Standard für ausdrückliches Erlauben, Creative Commons, zeigen.

Aber wir wehren uns, wenn neue Gesetze gefordert werden, die die internetbezogenen Probleme einzelner Lobbygruppen auf Staat, Gesellschaft und Internetprovider abwälzen (ACTA, Leistungsschutzrecht) oder für ein wenig hohle Symbolpolitik Freiheit und Demokratie empfindlich einschränken wollen (Netzsperren). So wie es Bürger/innen in einer Demokratie halt machen, wenn Dinge, die ihnen wichtig sind, zur Zielscheibe lobbyistischer oder populistischer Attacken werden.

Das sind nämlich die interessanten Konfliktlinien zwischen „Einheimischen“ und „Einwanderern“ des Netzes. Jessen lässt sie unerwähnt, deutet sie allenfalls an. Sein zweiter Appell:

Und zweitens, damit zusammenhängend, müsste akzeptiert werden, dass Informations- und Gedankenware höherer Qualität auch im Netz nicht umsonst zu haben sein kann. (…) Namentlich der Streit um die Dignität journalistischer Angebote im Netz würde erlöschen, wenn man neben dem Gratissektor ungeprüfter Qualität (…) auch einen honorarpflichtigen Sektor kontrollierter Nachrichtengüte etablieren könnte. Und wunderbarerweise (…) hinge ein solches Angebot ganz allein von der Zahlungsbereitschaft der heute noch missvergnügten Internetkritiker ab.

Dieser Schwadronade kann ich nicht folgen. Mangelnde Zahlungsbereitschaft bei den Internetkritikern ist wohl kaum das Problem, sondern die bisherige Unfähigkeit der Medien, Angebote zu schaffen, die Internetznutzer/innen Geld wert sind. Eine Frage von Angebot und Nachfrage, die erst da zum politischen Streitpunkt wird, wo Medienvertreter unverhältnismäßige politische Maßnahmen zur Sicherung ihrer Pfründe fordern (Leistungsschutzrecht).

Indem er die wesentlichen Konflikte unter den Tisch fallen lässt, schafft Jessen es, so zu tun, als gäbe es nur ein paar Dickschädel, die zur Einsicht kommen müssten, und zwar bei „Einheimischen“ wie „Einwanderern“ gleichermaßen. Ich halte dagegen: Wir „Einheimischen“ haben unsere Hausaufgaben gemacht. Wir wollen gerade keine regellose Netzparallelgesellschaft, sondern fordern die Einhaltung demokratischer Grundwerte in der digitalen wie in der analogen Welt. Es ist das Lager der „Einwanderer“, aus dem immer wieder netzbezogener Lobbyismus, Populismus und Maßlosigkeiten kommen, die, wenn man sie nicht verhindert, einzelnen kurzfristig nützen und langfristig allen schaden.

Geistiger Diebstahl

Das Urheberrecht ist eine achtenswerte Sache, wiewohl ich glaube, dass die Welt auch ganz ohne es nicht unterginge. Plagiate sind böse, einverstanden. Man merke aber auch: Zitate sind keine Plagiate, sondern legitim. Und in der Literatur müssen Zitate nicht explizit gekennzeichnet sein, zumindest nicht im Text. Sie müssen nur erkennbar sein. Aber Erkennbarkeit hängt natürlich vom Leser ab, deswegen sind solche Zitate von Plagiaten im Zweifel schwer zu unterscheiden.

Der Fall Hegemann bewegt sich offensichtlich in einer Grauzone. Unter den Quellen, die in dem jetzt veröffentlichten sechsseitigen Verzeichnis aufgeführt sind, sind wahrscheinlich beide Sorten von Textübernahmen dabei. Weil es eine Grauzone ist, verstehe ich nicht, wie alle Welt so eindeutige Meinungen dazu haben kann. Eine eindeutige Meinung habe ich in dieser Sache mal wieder hauptsächlich über Leute, die Phrasen wie diese dreschen: „Geistiger Diebstahl ist und bleibt Diebstahl.“ Nein, ist er nicht.

Geistiger Diebstahl ist kein Diebstahl

Ein angeblicher Mörder ist nicht unbedingt ein Mörder. Ein elektrischer Straßenbahnschaffner ist nicht elektrisch. Ein kalter Hund ist kein Hund. Und geistiger Diebstahl ist kein Diebstahl. Ein Diebstahlopfer hat sein Eigentum nicht mehr, ein geistiges Diebstahlopfer sieht sich „nur“ in einem komplizierten Recht auf Selbstbestimmung über das Selbstverfasste verletzt.

Josef Joffe, der uns in der aktuellen Zeit mal wieder einen atemberaubenden Schrott zusammenschreibt, fängt insofern eigentlich ganz vielversprechend an: „Seitdem die Menschheit erzählt, »borgt« und »stiehlt« sie. Aber dann entstand die Idee des »geistigen Eigentums« und des »Plagiats«. (…) Vom 18. Jahrhundert an (…) waren Worte nicht mehr umsonst zu haben; sie gehörten dem Autor, und so entstanden Copyright und Urheberrecht.“

Wir lernen: Das Urheberrecht ist erst kürzlich entstanden, und „entstanden“ bedeutet natürlich: Es wurde von Menschen aus Gründen erfunden und durchgesetzt. Ohne auf diese Gründe irgendwie einzugehen, biegt Joffe, ganz Polemiker, schon im nächsten Satz umstandslos in die kategorische Verteidigung des Urheberrechts ein: „Den Chinesen werfen wir zu Recht das Raubkopieren vor – und Google das Scannen von Millionen von Büchern.“ Zu Recht? Zu welchem Recht?

Und jetzt kommt die entscheidende falsche Behauptung. Sie wird immer wieder gern gemacht, um über die Hintertür des allgemein verbreiteten Respekts vor dem Privateigentum auch die Akzeptanz des Urheberrechts zu steigern. Oder aus Dummheit nachgeplappert: „Worte sind Eigentum – wie Patente und Häuser.“ Nein, sind sie nicht.

Das Eigentum an einem Patent oder einem Haus besteht grob gesagt darin, dass es in den zuständigen Ämtern auf meinen Namen eingetragen ist. Die Tatsache einer solchen Eintragung kann man nicht wie Worte einfach kopieren. Es sind beim Diebstahl wie beim Schutz von Eigentum und geistigem Eigentum völlig verschiedene Vorgänge und Gesetze am Werk, und jeder tut gut daran, auch in seinem persönlichen Rechtsempfinden unterschiedliche Empörungen dafür zu reservieren.

Bei Joffe folgt nun eine Passage, die keinen allzu krassen Unsinn enthält, wenn man davon absieht, dass er Literaturkritikern Vorhaltungen dafür macht, dass sie die Causa unter literarischen Gesichtspunkten bewerten und nicht unter rechtlichen.

Fremde Federn

Was man Hegemann am ehesten vorwerfen kann, bezeichnet Joffe mit „verweislose Aneignung“ sehr gut, wobei ich den Aspekt der Aneignung entscheidend finde. Dass die Verweise fehlen, ist das eine. In der Wissenschaft sind Zitate ohne Verweis per Konvention und sinnvollerweise verboten. In der Kunst ist das nicht so, jedenfalls nicht für mein Kunstempfinden. Viele, die man heute als literarische Größen feiert, wären womöglich nie entdeckt worden, wenn sie so uncool gewesen wären, ihre Textquellen zu listen. Manchmal besteht der literarische Wert einer Übernahme ja auch darin, den Leser die Quelle selbst finden zu lassen. Stichwort Anspielung, Stichwort Verweis, Stichwort Insider, Stichwort soziale Dynamik innerhalb von geistigen Milieus, Stichwort Knuffen in die Seite. Ich benutze variierend auch andauernd Formulierungen, die ich von anderen habe, z.B. Max Goldt, ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen. Schon der Übergang zwischen Inspiration und Textübernahme ist fließend. Auf der Ebene kurzer Textfragmente wie Sätzen, Idiomen oder Wörtern ist sogar der Übergang zwischen Textübernahme und ganz normalem Sprachwandel fließend.

Das alles ist eben keine Aneignung. Um statt „Aneignung“ eine Formulierung zu wählen, die ohne Eigentumsmetapher auskommt: Man schmückt sich nicht mit fremdem Federn. Man geht von einer Leserschaft aus, die die Fähigkeit hat, die Quellen zu erkennen, und schmückt sich im Falle von Zitaten nicht mit Worten, sondern mit deren Kenntnis. Nun kann man sagen, Hegemann hätte von keiner Leserschaft ausgehen dürfen, die Airens Blog kennt. Aber es ist nicht klar, ob sie wissen konnte, dass ihr Buch für ein paar Wochen außerhalb der entsprechenden Kreise deutlich bekannter sein würde als Airens Schriften.

Selbst einen Roman, der völlig aus Schnipseln fremder Werke besteht, würde ich nicht als Plagiat bezeichnen, wenn der Autor zwar das Gesamtwerk, nicht aber die einzelnen Schnipsel als seine eigenen ausgibt. Wenn er zu seinen Methoden steht. Es ist der Eindruck entstanden, dass Helene Hegemann nicht zu ihren Methoden stehen, dass sie sie verbergen wollte, bevor die Textübernahmen publik wurden. Wenn das stimmt, ist es wirklich ein Makel. So oder so ist sie mit der Situation nicht gut umgegangen, da stimme ich Joffe sogar mal zu: „Von der Autorin wünscht man sich ein Quantum an Zerknirschung oder, wie es früher hieß: »Wohlanständigkeit«.“

Worte sind kein Eigentum

Wendet sich Joffe nun also der menschlichen Seite zu und ist mit der Zurschaustellung verbreiteter mangelnder juristischer Intelligenz fertig? Leider nein, zwei Sätze später muss ich mir wieder schreiend aufs Hirn greifen: „Sie empfinde es nicht als »geklaut, weil ich ja das ganze Material in einen völlig anderen und eigenen Kontext eingebaut habe«. Ist der Vergaser nicht geklaut, wenn ich ihn in mein Auto einbaue?“ Tja… was soll man dazu noch sagen. Als ich zuletzt nachgeguckt habe, waren zumindest in meinem Exemplar von Strobo alle von Hegemann „geklauten“ Passagen noch vorhanden. Was ich von dem Vergaser, der mir letztes Jahr geklaut wurde, leider nicht behaupten kann. Danke, Herr Joffe, Sie haben gerade selbst demonstriert, wie unsinnig es ist, „geistiges Eigentum“ wörtlich zu interpretieren.

Doch Joffe lässt sich ja von niemandem belehren, auch nicht von sich selbst: „Warum dann zwischen geistigem und materiellem Eigentum unterscheiden? (…) Die Trennung lässt sich nicht durchhalten, nicht in einer Welt, in der die Leistung einer Wirtschaft nur noch zu zwanzig Prozent aus »Dingen« – Autos, Äpfeln, iPods – besteht. Die anderen achtzig Prozent im weitesten Sinne »geistiges Eigentum« sind, die Hauptwertschöpfer des 21. Jahrhunderts.“ Mich würde interessieren, woher er diese Zahlen hat und ob er, bevor er diese Tatsache auf dem Altar der Polemik opferte, wenigstens daran gedacht hat, dass die „zwanzig Prozent“ aus der Übertragung von Eigentum bestehen, die „achtzig Prozent“ hingegen ganz bestimmt ganz überwiegend aus der Gewährung von Nutzungsrechten an geistigem Material. Auch wenn ein Patent verkauft wird, wird nicht die Idee verkauft – die ist vor wie nach dem Kauf in beiden Köpfen – sondern ein exklusives Nutzungsrecht. Entsprechend lassen sich auch keine Worte besitzen, sondern höchstens das Recht, bestimmte Kombinationen von Worten in bestimmter Weise öffentlich zu verwenden. Wenn die Hauptwertschöpfer des 21. Jahrhunderts tatsächlich geistiger Natur sind, ist es umso wichtiger, den Unterschied zwischen Eigentumsrecht und Urheberrecht zu kennen.

Und andere Unterschiede auch, wie den zwischen Urheberrecht und Copyright, auf den ich hier jetzt mal nicht eingegangen bin.

Mangelnde charakterliche Eignung für das Führen eines Staates

In der Mensa liegt immer eine marxistische Zeitung aus, die ich gerne lese. Ihre Kritik an Bürgertum und Kapitalismus hierzulande heutzutage ist fast durch die Bank berechtigt. Trotzdem habe ich beim Lesen ständig das unbehagliche Gefühl, dass ich die Autoren dieser Artikel auf keinen Fall an der Macht haben will. Der Schutz der Schwachen ist ihnen politisches Programm, aber in keinster Weise Leidenschaft. Keinerlei positives Bekenntnis zu den Rechten des Individuums spricht aus ihren Zeilen, sondern nur negatives Ätzen wider ihre Gegner. Leidenschaft hegen diese Autoren nur dafür, sich von den Kapitalisten abzugrenzen. Deswegen sagt mir mein Gespür, dass, wenn man sie ließe, sie schneller eine Diktatur errichten würden, als man „Zentralkomitee“ sagen kann. Oder sind das nur meine bürgerlichen Vorurteile?

Typisch

Anlässlich der deutschen Antisemitismusdebatte von 2002 ließ ich damals meinen Privatsekretär den Aphorismus „Typisch antisemitisch, den Vorwurf des Antisemitismus als Ausdruck von Antisemitismus aufzufassen!“ in Stein meißeln.

Zum Minarettverbot

Ach du Scheiße. Ich hatte gehofft, dieses Unargument nie wieder an so prominenter Stelle lesen zu müssen. Jedoch:

Die Schweizer sind die erste europäische Nation, die sich in einer freien Abstimmung gegen die Islamisierung ihres Landes entschieden hat. Nicht gegen die Religionsfreiheit, nicht gegen Lokale, in denen halal gegessen wird, nicht gegen den Islam als Religion. Nur gegen eine Asymmetrie, die auch in anderen Ländern als naturgewollt hingenommen wird.

Moslems dürfen in Europa Gebetshäuser bauen, Christen in den arabisch-islamischen Ländern dürfen es nicht (von den Juden und anderen Dhimmis nicht zu reden).

Henryk M. Broder, Einer muss den Anfang machen

Und wenn man da nicht folgen mag, gehört man zu den „Gutmenschen, die eine andere Kultur immer verteidigenswerter finden als die eigene“ (Broder)? Von wegen. Zu meiner Kultur gehört verdammt noch mal Religionsfreiheit. Einer der Gründe, aus denen sie verteidigenswert ist. Was für eine Kultur Broder verteidigen will, möchte ich lieber nicht wissen.

Beliebigkeit

Mein Bullshitdetektor (der zwischen den lokalen Ohren) hat nun auch das Wort Beliebigkeit erlernt. Er springt besonders stark an, wenn davon die Rede ist, dass Toleranz, Freiheit oder Offenheit nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden dürfe.

Freiheit bedeutet für mich, dass man mir nicht ohne guten Grund etwas verbietet oder mich zu etwas zwingt. Toleranz bedeutet für mich dasselbe aus der anderen Perspektive: den Leuten nicht ohne guten Grund etwas verbieten oder sie dazu zu zwingen. Eine gute Sache und leicht zu kapieren: Ich darf alles, solange ich den Menschen und der Gesellschaft damit nicht schade. Leicht ist auch zu kapieren, wann man einem Menschen schadet. Schwer zu definieren ist, wann man der Gesellschaft schadet. Ich glaube, noch keine Gesellschaft ist, um zu funktionieren, ohne ein paar ziemlich willkürliche Gesetze ausgekommen, die den einen mehr nützten als den anderen. Doch ich schweife ab.

Dass mir bei der Ausübung meiner Freiheit gewisse moralische und juristische Grenzen gesetzt sind, ist also sowieso klar. Wozu dient dann der Slogan „Freiheit/Toleranz/Offenheit ist nicht Beliebigkeit“? Populär ist er bei den Experten für Verbieten und Vorschreiben ohne guten Grund: Kirchen und konservativen Parteien. Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, sprach zum Dialog der Religionen:

Die Religionen können Beispiele gelebter Toleranz bieten. Sie können zeigen, wie Menschen unterschiedlicher Überzeugungen und Lebensformen in wechselseitiger Achtung miteinander leben können. Eine Vorstellung von Toleranz ist dabei freilich vorausgesetzt, die mit gleichgültiger Beliebigkeit nicht zu verwechseln ist. Toleranz setzt vielmehr voraus, dass Menschen zu dem stehen, was ihnen wichtig ist, und deshalb achtungsvoll mit dem umgehen, was anderen wichtig ist.

Alles klug und richtig, außer zwischen den Zeilen. Warum spricht er von „gleichgültiger Beliebigkeit“ und nicht einfach von „Gleichgültigkeit“? Beliebigkeit zu verneinen heißt, auf Grenzen hinzuweisen. Grenzen, die nicht unbedingt gute Gründe haben, sonst verstünden sie sich ja von selbst. Ich glaube, der Bischof will hier eine Klientel bedienen, die heraushören möchte, dass alle Religionen gleichgestellt sein sollen, aber das Christentum immer ein wenig gleichgestellter. Die Katholiken werden da wie üblich deutlicher:

Der Staat ist nach Meinung von [Erzbischof Reinhard] Marx dennoch nicht verpflichtet, alle Religionen völlig identisch zu behandeln. „Bei der Ausgestaltung des staatlichen Verhältnisses zu den verschiedenen Religionsgemeinschaften sind die verschiedenen Religionen an ihrem konstruktiven Beitrag zu Staat und Gesellschaft zu messen, wenn der Staat seine Grundlagen und seine Freiheitsfähigkeit langfristig sichern will“, betonte Marx.

(…) Dank der Trennung von Staat und Kirche sei unser Staat heute weltanschaulich offen, was aber nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden dürfe.  Angesichts der Herausforderungen von unterschiedlichen Religionen bestehe ein großes Potential an Gesprächs- und Diskussionsbedarf über die Stellung von Kirche und Staat, erklärte die Landtagspräsidentin [Barbara Stamm].

Übt ihr eure Religion frei aus, höre ich da heraus, aber nicht beliebig – und die Definition des Unterschieds behalten wir als politische Hegemone uns vor.

Lassen wir DJ Kosmoprolet das letzte Wort:

Andererseits ist es eben nicht Beliebigkeit im Sinne von ‚anything goes‘. Natürlich geht alles, und der/die DJ’n darf auch prinzipiell alles, auch zwei – auch energiemäßig – sich widersprechende Tracks spielen. Selbstverständlich auch gleichzeitig. Auch drei oder mehr. Völlig egal. Es muss nur geil sein.

Andererseits ist es eben nicht Beliebigkeit im Sinne von ‚anything goes‘. Natürlich geht alles, und der/die DJ’n darf auch prinzipiell alles, auch zwei – auch energiemäßig – sich widersprechende Tracks spielen. Selbstverständlich auch gleichzeitig. Auch drei oder mehr. Völlig egal. Es muss nur geil sein.

Kronloyal (Remastered)

Eine verbesserte Neuinszenierung des Publikumsrenners Kronloyal

Im StudiVZ, dem deutschsprachigen sozialen Netzwerk für Studenten, kann man seine politischen Überzeugungen wie folgt angeben: unpolitisch, Kommunist, sehr links, links, Mitte links, grün, liberal, Mitte rechts, rechts, konservativ oder kronloyal. Kronloyal! Dieses Wort in die Liste aufzunehmen ist ein lustiger Scherz, aber auch ein erstklassiger Schnappschuss vom Zeitgeist.

Ein paar subjektive Beobachtungen: Gar nicht wenige Studenten heften sich das Prädikat „kronloyal“ mit Begeisterung an die Brust. Kronen, also feudale Insignien, zieren Gesäßtaschen und Tops von Jugendlichen. Jugendliche bitten darum, an die Kandare genommen zu werden und die Zahl der Pädagogen, die bereit sind, das zu tun, wächst. Diese sind dann „modern“ Es läuft unter Schlagwörtern wie „Disziplin“ und „Manieren sind wieder ,in‘“. Sich Autoritäten zu unterwerfen ist einfacher, als in Eigenverantwortung dafür zu sorgen, ein guter Mensch zu sein. Uncool ist das auch nicht, denn die zugehörige Elterngeneration ist im Großen und Ganzen liberal. Indem man konservativer ist als konservativ – kronloyal eben – kann man also ein echter Rebell sein, ein Lehrerschreck (wenn man nicht an einen „modernen“ Lehrer gerät).

Ist es okay, konservativ zu sein? Was bedeutet „konservativ“ eigentlich? Ich verstehe darunter die Grundhaltung, am Bestehenden festzuhalten. Wenn jemand an sich bemerkt, dass seine Ansichten oft dazu tendieren, dann darf und soll er sich als konservativ bezeichnen, so denke ich. Wie man sich den Begriff allerdings auf die Fahnen schreiben kann, habe ich nie verstanden. Am Bestehenden hält man fest, weil es entweder nichts Besseres gibt – dann kommt die Frage überhaupt nicht auf, es wird nicht politisch – oder aus Faulheit. Faulheit, einschließlich Denkfaulheit und Lernfaulheit, ist ohnehin eine Haupttriebfeder menschlichen Tuns und vor allem Lassens. Das ist auch richtig so, denn Zeit und Energie sind knapp. Aus dieser Selbstverständlichkeit ein politisches Bekenntnis zu machen, halte ich für dumm bis bedenklich. Denn der Begriff bemäntelt die tatsächlichen definierenden Eigenschaften der so genannten Konservativen. Die sind meist treffender als Wirtschaftsliberale, Religiöse oder Autoritäre zu beschreiben. Wenn Jugendliche so drauf sind, fühle ich mit dem Lehrer, der darüber erschrickt.

Manche sind auch einfach starrsinnig, und für die klingt ein Begriff wie „konservativ“ zu freundlich. Wer das Bewährte verteidigt, ist freilich noch nicht gleich starrsinnig. Wenn etwas bewährt ist, also seit langer Zeit erfolgreich im Einsatz, ist das ein Hinweis auf seine Qualität, den es zu berücksichtigen gilt. Starrsinnige machen jedoch den Fehler, Bewährtheit als eine Komponente der Qualität anzusehen: Für sie ist etwas gut, weil es alt ist. Gegen solche Scheinargumente hat das Neue nie eine faire Chance. Mein Lieblingsbeispiel für Starrsinn, bemäntelt mit bemerkenswert schlechten Sachargumenten, ist Prof. Dr. Ch. Meiers Essay für Beibehaltung und Wiedereinführung der „bewährten Rechtschreibung“. Die Tugend der Faulheit vom Laster des Starrsinns säuberlich zu unterscheiden, das sollte Schulfach sein.