Archiv der Kategorie: Werk

Blamagephobie

Und dann war da noch der Mann mit der Blamagephobie. Der Gedanke daran, was wäre, wenn er in Gesellschaft einen Fauxpas begangen haben würde, wenn er etwas Falsches, Peinliches oder Missverständliches gesagt oder getan haben würde, war ihm vollkommen unerträglich und ließ ihn stets nur mit umgeschnalltem Sprengstoffgürtel unter Leute gehen, bereit, sich und alle Zeugen für immer von der Erde zu tilgen, bevor noch ein Gedanke gefasst, ein Wort des Hohns gesprochen, eine schmachvolle Erinnerung gebildet wäre.

Dies beschließt die kleine Serie „Und dann war da noch“, zuerst erschienen im Vaniloquium, 2008.

Heidewanderung

Und dann war da noch Theodor Storms lyrisches Ich, das sich eine Antwort auf seine Frage erwanderte. Seine Frage war: „Gibt es eine Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz?“ Und die Natur antwortete. Wohin es blickte, sah es auf seiner Heidewanderung Tod, Fäulnis und Ödnis. „Danke“, sagte das lyrische Ich, „das war deutlich.“

Amerika

Und dann war da noch der Mann, der sich so sicher war, die Reise in die USA zu gewinnen, dass er schon auf der Teilnahmekarte für das Gewinnspiel seine amerikanische Adresse angab.

Helium

Und dann war da noch der wichtige Mensch, dem die vielen Grußworte, die er hören und auch halten musste, zur Qual wurden. Um wenigstens seinen eigenen Vorträgen eine besondere Spritzigkeit zu geben, gewöhnte er sich an, eine Gasdruckflasche Helium auf jedes Podium mitzunehmen. Zu Beginn und immer, wenn im Vortrag seine Stimme auf die normale Höhe sank, nahm er eine ordentliche Nase.

Werbeagentur

Und dann war da noch die Werbeagentur, die das erfolgreiche Startup-Unternehmen als Kunden wollte. „Wenn unsere Konkurrenz behauptet, sie sei auf Internet-Firmen wie Ihre spezialisiert“, sagte der Vertreter, „dann kann ich nur lachen. Ihr Konzept ist neu und anders als alles bisher da Gewesene – da wird denen all ihre Dotcom-Erfahrung auch nichts bringen. Nehmen Sie uns! Wir sind spezialisiert auf Novitäten!“

Visitenkarten

Und dann war da noch der superschnelle Drucker für Visitenkarten, der die Karten nur so in die Luft schleuderte, dass sie durch den Raum schneiten. „Die hundertste Karte“, warb der Hersteller, „ist gedruckt, bevor die erste den Boden berührt.“

Heilige Sprache

Und dann war da noch die heilige Sprache, die so kehlige Konsonanten verwendete, dass sie nur von den Zen-Mönchen vom Zu Han nach jahrelangem spirituellen Training zur Unterdrückung des Würgereizes gesprochen werden konnte.

Aufzug

Und dann war da noch das Mädchen, das den Aufzug anforderte. Sie wollte nach unten fahren, drückte aber aus Versehen den Knopf nach oben und holte den korrekten Druck dann nach, sodass nun beide Knöpfe leuchteten. Ein anderer Mensch trat hinzu und sprach: „Also, mein Computer stürzt immer ab, wenn ich zu viele Tasten gleichzeitig drücke. Hoffen wir, dass nun nicht der Aufzug abstürzt.“

Retter

Es ist eine wenig beachtete Tatsache, dass Uhrzeiger nicht nur ihrer Länge nach zeigen können, auf die Zahlen, sondern auch in den Raum hinein, auf den Betrachter des Ziffernblatts – zumal, wenn sie dieses dreieckige Profil haben, diese Satteldachform. Als Klaus Eveling an diesem Morgen aufwachte und sah, dass es nur noch 10 Minuten waren, bis der Wecker klingeln würde, fühlte er sich richtig „angezeigt“. „I want you“, schien der zu sagen, der den Wecker gestellt hatte, und sich dabei in Uncle Sams berühmte Plakatpose zu werfen. Alles Weiterschlafenwollen half nichts, es wurde jetzt ein Mann gebraucht mit genialen Ideen, einer, der es fertigbrächte, etwa eine verunglückte Werbekampagne zu retten, indem er das zugehörige Produkt durch ein anderes ersetzte, oder jetzt einem durch eine durchTeXte Nacht in Schutt und Asche liegenden Gehirn innert dreier Stunden die Fähigkeit zu einem spritzigen Vortrag abzutrotzen. So dachte Klaus’ Gehirn, das gleichzeitig das Gehirn des genialen Retters und das Gehirn in Schutt und Asche war. Und allmählich begann sich in all dem Nebel die Crux des Planes abzuzeichnen.