Archiv des Autors: Kilian Evang

Zum Minarettverbot

Ach du Scheiße. Ich hatte gehofft, dieses Unargument nie wieder an so prominenter Stelle lesen zu müssen. Jedoch:

Die Schweizer sind die erste europäische Nation, die sich in einer freien Abstimmung gegen die Islamisierung ihres Landes entschieden hat. Nicht gegen die Religionsfreiheit, nicht gegen Lokale, in denen halal gegessen wird, nicht gegen den Islam als Religion. Nur gegen eine Asymmetrie, die auch in anderen Ländern als naturgewollt hingenommen wird.

Moslems dürfen in Europa Gebetshäuser bauen, Christen in den arabisch-islamischen Ländern dürfen es nicht (von den Juden und anderen Dhimmis nicht zu reden).

Henryk M. Broder, Einer muss den Anfang machen

Und wenn man da nicht folgen mag, gehört man zu den „Gutmenschen, die eine andere Kultur immer verteidigenswerter finden als die eigene“ (Broder)? Von wegen. Zu meiner Kultur gehört verdammt noch mal Religionsfreiheit. Einer der Gründe, aus denen sie verteidigenswert ist. Was für eine Kultur Broder verteidigen will, möchte ich lieber nicht wissen.

Lieblingswörter (3)

Was bisher geschah: Schöne Wörter, Lieblingswörter, Lieblingswörter (2).

Wie schön, dass es das Wort frivol gibt! Es tritt trefflich auf den Plan, wenn jemand Anstand, Hemmungen und Bodenhaftung verloren hat und sich zu dreisten Forderungen versteigt. Anwaltsforderungen und Managerprämien sind heutzutage die primordialen Beispiele für Frivoles.

Ich mag auch das Wort Glottisverschlusslaut unheimlich. Es zwingt sich nicht zu Kürze und Prägnanz wie die englischen Namen von Konsonanten (stop, tap, flap…), sondern nimmt sich fünf rhythmisch und lautlich ausgesprochen schöne Silben lang Zeit, zu beschreiben, was es bezeichnet – und bleibt dem Uneingeweihten doch geheimnisvoll, der meist gar nicht ahnt, dass es diesen Konsonanten überhaupt gibt, mit dem doch so viele deutsche Wörter beginnen.

Erst vor wenigen Tagen habe ich beschlossen, das Adverb unnachsichtig unnachsichtig ins Herz zu schließen. Es scheint auf den ersten Blick nur zu unfreundlichen Handlungen zu passen, auf den zweiten Blick finde ich aber, dass es viel besser zu leidenschaftlichen, entschlossenen, gründlichen Tätigkeiten passt, die im Gegenteil der Liebe und dem aufrichtigen Streben nach einer besseren Welt entspringen. „Unnachsichtig rückte er den Soßenflecken zuleibe.“ – „Sie unterzog die Software ihres Vorgängers einem Prozess unnachsichtigen Refaktorierens.“ – Und hier eine der gelungensten Formulierungen aus Sten Nadolnys Gott der Frechheit (aus dem Gedächtnis zitiert): „Nichts wie fort von hier, in ein nahes Bett und unnachsichtig ihre Brüste zum Wirbeln bringen, den Gründelkolben im Urstromtal.“

Das Wort Urübel besteht aus zwei leicht archaischen Bestandteilen und mutet damit genau so alt und undurchschaubar an, wie das Unheimliche, das damit bezeichnet wird. Trotzdem kann man es immer wieder gut verwenden: „Das Urübel sind sicherlich die Vorstellungen unseres Chefs von Softwarearchitektur.“ (Man merkt heute an meinen Beispielsätzen, dass ich in letzter Zeit viel auf The Daily WTF unterwegs war.)

Verlassen wir zum Schluss meiner Mutter Zunge und fügen der Liste sorsastus hinzu, was mir zunächst wie apokryphes Kirchenlatein klang, tatsächlich aber finnisch ist und Entenjagd bedeutet – ein Auseinanderklaffen von erstem Eindruck und Tatsächlichkeit, der den Lieblingswortstatus schon rechtfertigt, wie ich finde.

Zuallerletzt tarpit (Teergrube): Formschön zusammengesetzt aus zwei dreibuchstabigen Bestandteilen übt dieser Vertreter der englischen Lexis seinen Reiz ebenfalls durch einen Kontrast aus, nämlich den aus dem knackigen, unschuldigen, fast zwitschernden Klang und dem doch sehr düsteren und gefährlichen Sinn, der auch gerne mal übertragen wird, wie etwa in Turing tarpit.

Schleim

Neulich träumte mir, ich führe die Wilhelmstraße hinunter, käme an ein gesperrtes Stück Radweg und fände ein Polizeiauto vor. Diese Kombination gehört zu den wenigen Dingen, die mich absteigen lassen. Was verursachte die Sperrung? Ein dickes Rind lag im Weg, eben noch vor einen Karren gespannt, jetzt schwer atmend und sterbend auf der Seite. Seine andere Flanke war eine einzige riesige offene Wunde – eigentlich keine Wunde, sondern Fleisch, dass sich in eine schleimige Substanz aufgelöst hatte. Der Feldweg, den das Rind den Karren heruntergezogen hatte, war vollständig mit diesem grau-roten, dichten, klebrigen Schleim bedeckt, seltsamerweise mehr als genug Material für ein ganzes aufgelöstes Tier, nicht nur die fehlende Flanke des immer noch massigen moribunden Verkehrshindernisses. Vorsichtig, um nicht auszurutschen, ging ich den Feldweg mehrfach auf und ab – ohne allerdings herauszufinden, was genau passiert war.

Mühlstraßensperrung, hör auf, in meinem Unterbewusstsein so apokalyptische Formen anzunehmen!

Über JavaScript

Ein Nachteil von HTTP/HTML-basierten Webanwendungen ist, dass nach jeder Aktion des Benutzers eine komplette HTML-Seite neu geladen werden muss. Die Übertragung über das Netzwerk, das erneute Parsen und Rendern der Seite durch den Browser, all das braucht relativ viel Zeit. JavaScript schafft Abhilfe: Skripts können im Hintergrund mit dem Server kommunizieren und gleichzeitig die im Browser angezeigte Seite modifizieren. Das heißt dann Ajax. Alternativ kann man JavaScript so clever einsetzen wie die OpenNetworX-Plattform: Dann werden nach jeder Aktion zusätzlich zum Übertragen, Parsen und Rendern einer kompletten HTML-Seite noch zigtausend Codezeilen ausgeführt, die für ein paar Sekunden den Browser einfrieren.

(Naja. Nicht nach jeder Aktion. Aber z.B. wenn man einen Link in einem neuen Tab öffnet, was bei mir häufig vorkommt. Schade, damit ist die Plattform, eine sehr gute Idee eigentlich, für mich derzeit unbenutzbar. Bugreport ist eingereicht.)

Bei vielen Techniken ist es so, dass sie in den richtigen Händen das Leben besser machen und dem Benutzer echten Mehrwert bieten, in den falschen Händen jedoch ausschließlich Nachteile, Leid und Kummer erzeugen. Bei JavaScript ist dieser Kontrast besonders ausgeprägt. Das wurde auch schon früher so gesehen, als Ajax noch ein Reinigungsmittel war und niemand daran dachte, ganze Webanwendungen auf JavaScript zu basieren:

Doch leider gibt es andere gute Gründe, die nicht wenige Anwender dazu veranlassen, JavaScript in ihrem Browser abzuschalten. Dazu gehören vor allem die „Nervereien“ mancher Programmierhelden, die meinen, eine Web-Seite sei um so toller, je mehr sie den Anwender gängelt. Da wird dann beispielsweise mit JavaScript die Unterstützung der rechten Maustaste abgewürgt, der Anwender kann die aufgerufene Seite nicht mehr verlassen und allerlei mehr. Solche Hirngeburten kontrollgeiler Programmierer sind das eigentliche Übel und der Grund, warum JavaScript nicht bei allen Anwendern beliebt ist. Wer JavaScript einsetzt, sollte sich darüber im klaren sein und die Möglichkeiten der Sprache so einsetzen, dass der Anwender einen Mehrwert davon hat, und nicht so, dass ihm etwas genommen wird.

aus: Stefan Münz, SELFHTML

Diese Passage finde ich großartig – nicht nur, weil ihr so uneingeschränkt zuzustimmen ist, sondern auch, weil der Autor mühsam beherrscht zwischen seinem üblichen trockenen Lehrbuchstil und einer wütenden Tirade mäandert.

Frost/Nixon

Frost/Nixon (Ron Howard, 2008) gesehen, gebannt gewesen. Richard Frost (gespielt von Michael Sheen), ein britischer Playboy und Fernsehentertainer, nimmt es auf eigenes unternehmerisches Risiko mit einem dicken Fisch auf, dem amerikanischen Skandalpräsidenten Richard Nixon. Er gewinnt Nixon für das erste große Fernsehinterview seit dessen Rücktritt vor drei Jahren. Im Laufe der Vorbereitungen wächst der Druck auf Frost beträchtlich an: Er muss Nixon Sensationelles entlocken, ein Schuldeingeständnis etwa, damit sich die Sendung an die Fernsehsender verkaufen lässt.

Für James Reston (gespielt von Sam Rockwell) ist das keine Frage des Erfolgs, sondern der Ehre. Der von Frost für die Recherchen angeheuerte Journalist kommt in den ersten Sekunden seines Auftritts als unscheinbarer Gelehrter rüber, dann dreht er richtig auf: Dieser Job ist die Gelegenheit, Nixon den Prozess zu machen, den er nie hatte! Sonst macht er’s nicht! Die Bombe von Intellekt und Idealismus, die Reston zündet, machte ihn mir sofort sympathisch. Sein Kollege Bob Zelnick (Oliver Platt) bleibt eine blasse Figur, teilt aber Restons journalistische Berufsehre und steht mit dem Satz „Yeah, he said ‚performer'“ extrem genial im Mittelpunkt der lustigsten Szene im Film, in der der die Kulturen Kritischer Journalismus und Entertainment wuchtig zusammenprallen.

John Birt (Matthew Macfayden), Frosts Produzent, steht hier auf interessante Weise zwischen den Lagern. Einerseits muss er den verspielten, optimistischen, zum Leichtsinn neigenden Frost auf dem Teppich halten, andererseits Reston und Zelnick beibiegen, dass sie im Showgeschäft Abstriche bei ihren Idealen machen müssen.

Schließlich Richard Nixon, den Frank Langella im Vergleich zum echten Nixon (Schnipsel aus dem historischen Interview gibt’s bei YouTube) geradezu senil spielt. Trotzdem schwadroniert er Frost gekonnt an die Wand, plötzlich ein verkrampft dasitzendes Männchen mit versteinertem Lächeln, das noch nicht einmal sein Handwerk versteht. So geht es im ersten Interview und auch im zweiten und auch im dritten. Nixon stellt sich dar als der gutmütige, leutselige nuschelnde Opa, der insgesamt doch ein feiner Präsident war und auf den Amerika allmählich anfangen sollte, stolz zu sein. Seine brillante Rhetorik stellt der Film glaubhaft dar. Frosts Totalversagen ist dagegen unglaubwürdig, weil nicht nachvollziehbar. Das ist für mich die zentrale Schwäche des Films.

Im vierten Interview passiert die Wendung, der Mythos: Frost gewinnt die Oberhand und lockt Nixon aufs Glatteis, wo er sich die Worte „I’m saying that when the president does it, it’s not illegal“ leistet, dann aber endlich ein Schuldeingeständnis ablegt, mit dem niemand gerechnet hatte (historisch stimmt das so nicht). Frosts Waffe, mit der er Nixon aus der Fassung bringt, sind neue Informationen zu einem weiteren Gesetzesverstoß, auf deren Spur er mit Hilfe eines drunk call Nixons und Restons Recherchewut gestoßen ist (das stimmt historisch so wohl schon gar nicht). Im Film jedenfalls wird das vierte Interview zu Frosts strahlendem, alles Zusteuern auf das Fiasko vergessen machenden Erfolg, für Nixons Sykophanten und Familie eine Schmach, für den Altpräsidenten selbst jedoch ein befreiendes Erlebnis.

Sehr berührend fand ich dann die Schlussszene, wo Frost und seine Frischvermählte Nixon noch einmal besuchen, der nun, so scheint es, wirklich zum alten Mann geworden ist und dankbare Zuneigung für seinen jugendlichen Bezwinger empfindet. Frost ist nun sehr distanziert. Er setzt Nixons Jovlalität das gleiche versteinerte Lächeln entgegen wie in den Interviews, nur dass es jetzt nicht mehr Nervosität ausdrückt. Sondern kalten Triumph und Hohn? Oder ein schlechtes Gewissen, auf Kosten dieses alten Mannes die eigene Karriere in Gang gesetzt zu haben? Man durchschaut ihn nicht mehr.