Archiv der Kategorie: Geistesleben

Karrierehengst aus Konfliktscheu

„Im beruflichen Bereich sind Männer feige“, so Mascha Bika, weil sie „sich im Beruf ganz schnell vereinnahmen lassen, die Bedürfnisse der Chefs zu ihren eigenen machen, Hausarbeit und Kindererziehung ihren Partnerinnen überlassen und ganz viel ihrer Zeit in entfremdende Arbeit stecken, um sich einem überkommenen Ideal vom Alphamann anzudienen.“ Dass viele Männer, die sich das Geldverdienen eigentlich mit den Frauen teilen wollten, am Ende als einzige Karriere machten, habe „etwas mit Konfliktscheu zu tun“, so Bika.

Westliche Werte verteidigen

Man liest ja viel über die zwei Sorten von Immigranten in Europa: die „schlecht integrierten“ mit den schlechten Schulleistungen aus dem Nahen Osten und die „gut integrierten“ mit den guten Schulleistungen aus dem Fernen Osten. Liest man sich einmal durch, wie solche guten Leistungen zustande kommen (tip to the hat to poet), und bedenkt,

  • dass mich beim Lesen dieses Artikels sofort eine spontane Einsicht in die Qualitäten von Drill und eine gewisse Verzweiflung an westlicher Dekadenz (auch an meiner eigenen) ergriff,
  • dass beim zweiten Nachdenken offenbar wurde, dass Drill zwar tatsächlich seine guten Resultate und seine Notwendigkeit hat, dass aber auf der anderen Seite Kreativität und Individualismus im chinesischen Erziehungsmodell nach Amy Chua genau gar nicht vorkommen („never allowed to (…) be in a school play (…) play any instrument other than the piano or violin“),
  • dass erhebliche gesellschaftliche Kräfte im Westen jedoch vermutlich zu einseitig an wirtschaftlichem Erfolg orientiert sind, um das ebenso differenziert zu sehen,
  • dass wir daher womöglich bald anfangen, dem fernöstlichen Ansatz nach Chua zu folgen und Humanismus zurückzubauen,

erscheint es ironisch, dass das Wort vom „Verteidigen westlicher Werte“ immer nur in Bezug auf Muslime und nie in Bezug auf etwa die schlauen Vietnamesen fällt.

Am angebrachtesten ist dieses Wort natürlich da, wo es sich auf uns Westler selbst bezieht: Verteidigen müssen wir die Werte vor allem gegen unsere eigene Neigung zu vergessen, was wir an der Aufklärung und den seither für die Freiheit des Individuums eingeschlagenen Pfosten (Arbeiterbewegung, Menschenrechte, Frauenbewegung, sexuelle Revolution etc.) haben und dass es mindestens sehr schade wäre, auch nur Stücke davon aufzugeben.

Tags Suck

I feel a little schadenfreude about the potential demise of Delicious. Not for popularizing social bookmarking, I like that a lot. What I resent them for is popularizing tags. Tags since infest services like Flickr, many blogs and Mendeley. If you listen to their advocates, you will be told that tags are one of the cornerstones of the Web 2.0, and even more so of the coming Web 3.0. To me, it seems that tags are an essentially useless technology that has somehow managed to become a remarkably long-living fad.

Sure, you can tag things (webpages, videos, books, research papers…) with keywords descriptive of their content. That is a 20th century librarian’s approach to making sure stuff can be easily retrieved. We live in the age of fulltext search, machine translation and the AwesomeBar (I myself stopped using Delicious the very moment Firefox 3 came out), at the dawn of semantic search and object-class detection in images. A Web service that relies on users sitting down and tagging stuff must be failing to use and further develop this technological potential.

So as long as you just want to retrieve stuff from a big bag of documents, search is your friend and tagging is slave labor. But what, the song of praise for tags goes on, if you want to order things, to structure them, to gain a deeper understanding of their relations and to improve your overview over the knowledge they represent? For this purpose, I hear, 20th century people used folders and put everything into a tree structure. The 21st century digital native social media Übermensch, on the other hand, uses tags. The obvious reason is that folders are so one-dimensional and rigid and you can classify things by only one dimension (or you have to first classify them by what to classify them by). Ordering schemes for pre-enlightened world views, those trees! The earth is a disc and built around heavenly Jerusalem, and everything has its one place and purpose, that’s the kind of insight that fits in folders, isn’t it?

I beg to differ. The “ordering schemes” you get by tagging stuff are aptly depicted by one of the most popular visualizations for tags: a cloud. A vapor. Nothing the human mind can really make sense of. Nothing that represents relations or insights. The only structured views on this cloud are filters, showing all items bearing a certain tag or combination of tags. Lists which are in no visible relation to each other. Venn bubbles bubbling around in the cloud. An excessively primitive database that does little more than a search engine but involves a hell of a lot more tedious human work. Concerning the collective knowledge aspect of this work, here’s what: in the time it would take you to tag a collection of bookmarks concerning a topic, rather write a blog article or a new paragraph for a Wikipedia article and let Google’s algorithms do the keyword extraction part for you. I’m sure you’re doing humanity a greater favor this way.

What you get by carefully organizing things into a tree structure, on the other hand, really is an ordering scheme. In the process, you weigh dimensions, you pick one as the one to order by, and discard other dimensions that are less useful for organizing your knowledge, honoring the fact that unlearning is an important part of learning. You think hard about things in order to find the best ordering scheme. Often you will find that there is no single dimension by which all things can usefully be ordered, and you will split them up into collections in each of which a different dimension is more relevant. These splits will likely be driven by your needs for your current project, and your information bookkeeping becomes goal-oriented. And isn’t this what dealing with the stuff and organizing it is all about: learning something from it so you can do something with it? And with the way the human mind works, I claim boldly, you haven’t really “got” something (information doesn’t turn into knowledge) until you have succeeded in putting it into a tree shape. Folders rock.

Der Schwimmwestenboogie

Auf manchen Flügen werden die Sicherheitshinweise heutzutage nicht mehr von Stewards und Stewardessen ausgeäktet, sondern sind per Video zu sehen, zu Fahrstuhlmusik. Die Stewards und Stewardessen stehen währenddessen steif da und haben nichts zu tun, außer im richtigen Moment die Notausgänge zu zeigen. Unterhaltsamer wäre es, wenn sie mit wachspuppenhaftem Gesicht zu der Fahrstuhlmusik tanzen würden.

Generationenkonflikt

So mancher, der in eine Ära materiellen Wohlstands hineingeboren wurde, hat sich über die Alten gewundert, die im Krieg jung gewesen waren und nun Zeit ihres Lebens fettem und reichlichem Essen zusprachen, als gölte es Kalorien für die nächste Hungersnot zu horten. Meine Generation hierzulande heutzutage wächst in einer Ära auf, in der nicht nur Essen, sondern auch Information im Überfluss vorhanden ist. Ich bemerke vereinzelt, wie mir das Horten von Büchern und Dokumenten, wie ich es in der Generation meiner Eltern sehen kann, fremd ist. „Sohn, handle klug und vorausschauend! Wenn du in einem halben Jahr jederzeit in der Lage sein möchtest, etwas mit F nachzuschlagen, dann sieh zu, dass du jetzt eine Enzyklopädie abonnierst, die bis dahin zu dem Buchstaben vorgedrungen ist!“ – „Ach, Papa, wenn ich dann was nachschlagen muss, gucke ich einfach im Internet.“ Wenn man eine ganz steile These draus drechseln möchte, kann man sagen, dass das Internet beim Übergang von einer Haben-Gesellschaft zu einer Seins-Gesellschaft helfen kann. Der Kampfbegriff Internet-Ausdrucker wird hauptsächlich gegen Leute gerichtet, die das Internet nicht verstehen, aber trotzdem darüber bestimmen wollen. Er drückt aber meiner Empfindung nach auch die Verachtung über eine obsolete Geisteshaltung aus, nach der sich Information besitzen lässt und gierig gehortet werden sollte. Anstatt dass man ihr einfach freien Fluss ermöglicht und sich darauf verlässt, dass man online finden wird, was man braucht, wenn man es braucht, wie die Luft zum Atmen.

Semi-entscheidbar

Auf einer Medizinerparty. Eine Gruppe schickt sich zum Gehen an.

F.: Ich hab mich noch gar nicht von C. verabschiedet. Kommt der noch mal irgendwann wieder?
T.: Weiß ich nicht.
F.: Dann warte ich noch.

Raten Sie mal, wer die Steilvorlage zu einem Kurzreferat über das Halteproblem genutzt hat – und verstanden wurde! Anschaulichkeit ist alles.

Denken und sprechen

Die Zeit widmet diese Woche dem Niedergang der deutschen Sprache den Aufmacher und eine Doppelseite im Feuilleton. Ulrich Greiner erkennt zum Glück richtig, dass Anglizismen, Genitiv und Konjunktiv nichts zur Sache tun, schiebt sie nach einer halben Spalte beiseite und stürzt sich auf ein sprachphilosophisches Thema, das hierzublog schon hie und da aufgetaucht ist. Seine Thesen geben mir Gelegenheit, ein paar verstreute Frechheiten in geisteswissenschaftliche Richtung abzufeuern.

Zitiert wird aus einem Artikel von Florian Coulmas, Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokyo:

„Unter Wissenschaftlern hat sich herumgesprochen, dass es sich empfiehlt, erst zu denken und dann zu sprechen. Dennoch hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass nicht wir denken, sondern die Sprache für uns.“

Ich finde, das hat Coulmas großartig gesagt. Greiner ist anderer Meinung:

In der Literatur begebe ich mich in die Sprache hinein, und ich weiß nicht, wo ich am Ende herauskomme. Das gilt für nicht wenige Felder der Geisteswissenschaften. Die Philosophie Kants, Hegels oder Heideggers wäre anders ausgefallen, hätten sie Englisch schreiben müssen.

Ja, weniger Geschwurbel und klarer herausgearbeitete wesentliche Gedanken, behaupte ich mal frech.

Natürlich nur dann, wenn der Zwang zum Schreiben in der Fremdsprache bei den drei Herren tatsächlich den Schalter umgelegt hätte von „sich mit der Sprache treiben lassen“ auf „erst denken, dann sich verständlich ausdrücken“. Aber es gibt keinen Grund das anzunehmen; Kant, Hegel und Heidegger hätten wohl auch auf Englisch zu schwurbeln gewusst. Sie hätten dann halt anders geschwurbelt – das ist ja gerade das Problem, wenn man eine Sprache für sich denken lässt. Man sollte es daher nur tun, wenn man Kunst, nicht Erkenntnis erlangen will. Greiner sieht das anders:

Wenn es also Gebiete gibt, wo die Sprache eine erkenntnisleitende Funktion besitzt (was unbestreitbar der Fall ist), (…)

Ah. Und Belege für diese unbestreitbare Tatsache kommen dann nächste Woche als Forsetzung? Das nun folgende Jürgen-Trabant-Zitat überzeugt mich nämlich noch nicht ganz:

„Es gibt wissenschaftliche Betätigungen, die nicht sprachlos Gedachtes, Gemessenes, Gewogenes und Berechnetes als wissenschaftliche Erkenntnis erzeugen, sondern die wissenschaftliche Erkenntnis in Sprache generieren. Wissenschaftliche Arbeiten in den sogenannten Geisteswissenschaften kommen nicht so zustande, dass der Forscher sich zuerst die Ergebnisse denkt und diese dann nur noch bezeichnen und verlautbaren muss. Er schafft mit der Sprache einen völlig aus Sprache bestehenden Gegenstand.“

Man kann sich das nackte Grauen vorstellen, das es für den Leser bedeutet, zu versuchen, solchen „völlig aus Sprache bestehenden“ Gegenständen einen Erkenntniswert abzutrotzen – oder den Spaß, den es bereitet, sie zu verspotten. Bei der Gesellschaft zur Stärkung der Verben haben wir dafür einen Vorgang mit dem Titel Geschwalle.

Was bedeutet „sowie“?

Im Katalog zur Ausstellung Slave City (sehr zu empfehlen) reißt Michael Zeuske kurz die Weltgeschichte der Sklaverei ab und verwendet dazu u.a. einen bemerkenswerten Satz:

Allerdings wurden Männer sowie Frauen und Kinder strikt voneinander getrennt.

Das Weltwissen sagt einem, was gemeint ist: Frauen und Kinder wurden zusammen untergebracht, Männer getrennt davon. Allerdings stört mich etwas an der Formulierung: ⟦voneinander⟧ scheint mir ein Operator zu sein, der ein geordnetes Paar von Mengen als Argument nimmt. In diesem Fall müsste das eigentlich das Paar 〈⟦Männer⟧, ⟦Frauen⟧∪⟦Kinder⟧〉 sein. Meinem Sprachgefühl nach kann ein Paar 〈⟦a⟧, ⟦b⟧〉aber syntaktisch nicht als a sowie b realisiert werden, sondern nur als a und b. Anders gesagt, sowie kriege ich nur als ∪ interpretiert, und dagegen je nach Kontext auch als paarbildenden Operator. Danach hieße der Satz oben: Männer und Frauen wurden zusammen untergebracht, Kinder getrennt davon. Oder aber, dass alle [Sklaven] voneinander getrennt wurden. Das ist sachlich unwahrscheinlich.

Was soll ich denn machen, verteidigt sich jetzt der Autor, Männer und Frauen und Kinder ist erst recht ambig und Männer und Frauen sowie Kinder geht nicht, weil und immer stärker bindet als sowie. Dann wären wir wieder bei der nicht intendierten Lesart.

Ach ja? Wo steht das geschrieben, dass und eine höhere Operatorpräzedenz hat als sowie? Mein Sprachgefühl gibt das irgendwie nicht her. Als mein Deutschlehrer beim Diktieren eines prüfungsrelevanten Sachverhalts einmal eine abenteuerliche undsowie-Koppelung bemühte und ich aufzeigte, um Desambiguierung zu heischen, stellte dieser sonst von mir sehr verehrte Mensch mich als einen hin, der eine Ambiguität auflösende Nuance des Ausdrucks nicht erkannt hatte. Empörend, hatte ich doch als einziger alle möglichen Bedeutungsnuancen erkannt und gerade die immer noch bestehende Uneindeutigkeit, die Unzulänglichkeit aller Zeichen, die Hohlheit der Sprache… ich steiger mich da gerade in was rein. Ein linguistisch fundierter Schluß entfällt.

Prokrastination und Gewissen

Text von 2004

Eine unangenehme Pflicht steht an, die ich nun wirklich endlich erledigen sollte. Keinste Lust und äußerstes Grausen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich diese Pflicht vor mir herschiebe. Aber es ist noch nicht so schlecht, als dass es gegen meinen inneren Schweinehund ankäme. Nur durch noch längeres Aufschieben wird mein Gewissen schlecht genug werden, um mich endlich zum Erledigen zu zwingen. Es ist daher dringend erforderlich, dass ich die Pflicht heute noch nicht erledige. Diese Erkenntnis beruhigt mein Gewissen ungemein.