Archiv der Kategorie: Geistesleben

Microblogging

Ein wiederkehrendes Thema in meinem Geistesleben ist die universelle Ausdrucksmächtigkeit der Sprache unabhängig von formalen Bedingungen.

Dazu zählt die von mir ziemlich stark verinnerlichte radikale Gegenthese zur Sapir-Whorf-Hypothese. Sie (also die Gegenthese) besagt, dass alle Inhalte, die in menschlicher Sprache ausgedrückt werden können, in jeder menschlichen Sprache ausgedrückt werden können, und zwar – modulo eventueller Erweiterung um das jeweilige Fachvokabular – gleich gut, gleich elegant, gleich verständlich, gleich schön etc. Eine Sprache zu entwickeln zähle zu den biologischen Eigenschaften des homo sapiens, keine Sprache sei für eine bestimmte Kultur „gemacht“, Wechselwirkungen zwischen Sprache und Kultur seien natürlich vorhanden, aber schwach, oberflächlich und von keiner Bedeutung für die Ausdrucksmächtigkeit der Sprache.

Unausgesprochene Grundannahme so einer These ist, dass sprachliche Äußerungen so etwas wie einen „Inhalt“ haben, der von der „Form“ isoliert werden könne. Diese Isolierung philosophisch oder gar formal-linguistisch präzise zu fassen ist ein hoch komplexes, odysseskes, wenn nicht sogar quijotäres Unterfangen, aber eine intuitive Vorstellung von so einer Trennung zwischen Form und Inhalt haben wohl die meisten Menschen.

Neben der Frage, ob alle natürlichen Sprachen (und Dialekte) gleich ausdrucksmächtig sind, kann man sich die Frage stellen, welche literarischen Varietäten einer Sprache für eine Autorin und ihre Leserinnen die gleichen Funktionen erfüllen können, spezifischer: unter welchen formalen Beschränkungen ein Text bestimmte Funktionen noch genau so gut erfüllen kann wie ohne sie. Formale Beschränkungen gibt es zuhauf: Textlänge, verständliches Schreiben, Schreiben in einem bestimmten Stil, Schreiben nur im Präsens, Unzulässigkeit des Anpassens von Flexionsendungen in Zitaten an den eigenen syntaktischen Kontext, Text muss genau sechs Wörter haben, Text muss in Palindromform sein, Text muss ein gültiges Perl-Programm und überdies ein Quine sein, Text darf kein E enthalten… man könnte sich hinstellen und sagen: So verrückten Beschränkungen ein Text auch unterworfen sein mag, eine gut genuge Autorin wird auf anderen Ebenen so geschickt sein, dass sie inhaltlich genau dasselbe rüberbringen kann wie ohne sie. In der Literatur als Kunstform, die vom Wechselspiel, der Untrennbarkeit von Form und Inhalt besonders stark lebt, natürlich eine verwegene Behauptung.

Aber Leute haben es ausprobiert, haben experimentiert, haben Literatenzirkel zum Erfinden neuer formaler Beschränkungen und Verfassen von Literatur darunter gegründet (Oulipo). Georges Perec hat auf Französisch einen Mystery-Roman ohne ein einziges E geschrieben. Dass dessen Hauptperson nicht Grégoire Clément heißt, kann man sich denken. Abgesehen von solchen Oberflächlichkeiten fragt sich die Leserin: Wie viel von der Handlung, von der Ausgestaltung ist ein Zugeständnis an die E-Beschränkung? Hätte Perec in groben Zügen denselben Roman geschrieben ohne die Beschränkung?

Abgesehen von metaliterarischen Wonnen haben formale Beschränkungen den Vorteil, dass der Autorin Entscheidungen abgenommen werden und sie sich auf das Wesentliche konzentrieren kann. Auf den Inhalt. Auf die Originalität. Auf die Schönheit. Im Korsett einer formalen Beschränkung kommen Autorin und Leserin dem Gefühl viel leichter viel näher, dass alles Menschenmögliche getan wurde, um einen Text so gut wie möglich zu machen.

Wie zum Beispiel die berühmteste formale Beschränkung des letzten Jahres: Nur 140 Zeichen pro Text. Der Text wird dann Tweet genannt, das Verfassen und Veröffentlichen solcher Texte im Internet twittern oder microbloggen. Die Website Twitter macht so gut wie nichts anderes, als ihren Benutzerinnen das Veröffentlichen von bis zu 140 Zeichen langen Texten zu ermöglichen und miteinander in ein gerichtetes soziales Netzwerk einzutreten, das bestimmt, wem wessen Tweets gezeigt werden. Mit diesem ultrasimplen System ist das Microbloggen in kurzer Zeit waaahnsinnig beliebt geworden.

Ich kann das mittlerweile gut verstehen. Freilich, eine klassischer Bloggerin darf beim Schreiben ganz frei entscheiden, wann sie aufhört. Aber sie muss es eben auch. Sie muss inhaltlichen Umfang, Textdichte und ihren Wunsch, eine bestimmte Anzahl von Leserinnen bis zum Ende durchhalten zu lassen, austarieren. Bei Twitter dagegen gibt es einen Zeichenzähler, der eine realistische Normleserinaufmerksamkeitsspanne simuliert. Wenn er rot und negativ wird, ist das eine klare Ansage: Jetzt ist Kürzen angesagt und ggf. Auslagerung des nächsten Gedankens in einen eigenen Tweet.

Es ist auch eine große Wohltat, dass Twitter technisch minimalistisch ist und einen nicht mit allen möglichen Zusatzfunktionen zuballert wie ein klassisches Blogsystem. Wer Zusatzfunktionen will, muss ein ganz klein wenig zur Programmiererin werden. Die Twittergemeinde schafft sich ihre Werkzeuge selbst, hier kann man Kulturevolution im Fruchtfliegentempo beobachten. Tweets kategorisieren? #Raute vor ein Wort im Text. Benutzerin verlinken? @ vor den Namen. Lange Sätze posten? Abk. verw., notf. exz. Link mit langem URL posten? Bemühe einen Adresskürzdienst. Die Adresskürzdienste, deren einzige Daseinsberechtigung ursprünglich so weit ich weiß in den Unzulänglichkeiten bestimmter E-Mail-Programme bestand, haben durch Twitter eine Blütezeit sondergleichen erfahren. Jede bessere Website rollt ihren eigenen, ich persönlich mag aber u.nu am liebsten, weil der die URLs wirklich so kurz wie technisch möglich macht, das auf wunderbar bogus-informationstheoretische Weise erklärt und einmal klanglich sehr gut zu einem meiner Tweets passte. Natürlich wandern auch andere technische Krücken sofort in das literarische Gerätearsenal, so werden Hashtags längst nicht mehr nur zur Kategorisierung verwendet, sondern auch, um nachgeschickte Einwortkommentare formal dem Genre entsprechen zu lassen, es vielleicht zu parodieren.

Gelegentlich weiß ich auch das Opulente zu schätzen, aber insgesamt bin ich ein großer Freund der reduzierten Form, das heißt in der Literatur der kurzen Form. Zugespitzt: Ja zu Gedichten, Szenen, Kurzgeschichten und Aphorismen, nein zu Gesängen, Dramen, Romanen und Essays. Dieser Appeal des Kurzen hat auch seine problematischen Seiten. Es liegt in meinem Wesen, alles zergliedern zu wollen, die Dinge einzeln abzuspeichern wie Schmetterlinge hinter Glas, zu atomisieren. Mit dem Erkennen und Spannen großer Bögen tu ich mich schwer.

Twitteratur kommt meinen so hübschen wie zweifelhaften Vorlieben daher entgegen. Gab es das eigentlich vor Twitter, dass etwas unter 141 Zeichen als eigenständiger literarischer Text gelten konnte? Es wurde versucht, aber meines Wissens nie die perfekte Form dafür gefunden. So etwas wie einen Aphorismus, ein Wortspiel (in Form eines Minimalbeispielsatzes) oder ein Ultrakurzgedicht auf eine Buchseite zu packen und sie ansonsten weiß zu lassen, wirkt prätenziös. Aphorismensammlungen wirken staubig und stickig. Listen finde ich okay, aber erst ab einer gewissen Länge, die Sofortveröffentlichung jeder neuen Schöpfung ausschließt. Blogeinträge leiden darunter, eine Überschrift haben zu wollen, die dann in den meisten Blogdesigns mehr Bildschirmfläche bedeckt als der Text – und überhaupt, bei Kurztexten wirken Überschriften eher störend, sie müssen unter Verrenkungen dazuerfunden werden.

Twitter hat das Layoutproblem gut gelöst; der jeweils neueste Tweet auf einer Mitgliedsseite erscheint in großer Serifenschrift, der Rest in normalgroßer serifenlosen. Entscheidend finde ich, wie Twitter als Literaturplattform das Prätenziositätsproblem löst: dadurch, dass es nicht nur eine Literaturplattform ist, sondern vor allem eine Kommunikations- (banale Statusmeldungen) und Nachrichtenverteilungsplattform (Schlagzeile + Link). Die Grenze zwischen banalen Tweets und denen, denen ich literarischen Wert würde zusprechen wollen, ist fließend. Die Technik macht auch da keinen Unterschied: Jeder Tweet kriegt seinen URL und seine Zeitleistenposition. Die ideale Mischung aus Normalität und Präsentierteller. Die Perlen glitzern zwischen den Kieselsteinen und das Glitzern liegt im Auge des Betrachters.

Was heißt schon „Sinn machen“?

In einem politikwissenschaftlichen Text von Lothar Brock heißt es: „Häufig ist auch von supranationalen Organisationen die Rede. Wenn diese Bezeichnung einen Sinn machen soll, bezieht sie sich auf internationale Einrichtungen, die gegenüber den Staaten weisungsberechtigt sind.“ Hier ergänzte Malik einst ganz richtig: „Wenn sie keinen Sinn machen soll, bezieht sie sich auf Betriebe zur Aufzucht und Pflege von Goldhamstern.“

Nie ohne Titel

Ich bin so sehr ein Mensch der Worte, dass ich in Museen meistens zuerst wie ein Adler auf das Schildchen zuschieße, bevor ich mir ein Werk ansehe. Vor diesem Hintergrund finde ich es sehr nachahmenswert, dass die aktuelle große Monet-Ausstellung in Wuppertal auf Schildchen verzichtet und alle Angaben zu den Werken groß an die Wände gemalt hat.

Geist und Materie

Ich hatte mich in dem Beitrag Hirnforschung und Willensfreiheit gefragt, ob es in dem Buch Hirnforschung und Willensfreiheit eher um das grundsätzliche Problem Determinismus vs. Willensfreiheit oder um das recht spezifische Problem des möglicherweise nicht fürs Handeln ursächlichen Bewusstseins geht. Die ernüchternde Erkenntnis: Es geht wild durcheinander. Statt die Unterscheidung anzusprechen, reden die Autoren öffentlichkeitswirksam aneinander vorbei.

Mein Groll gilt den Proklamatoren der plakativen These „es gibt keine Willensfreiheit“, wenn sie damit meinen, dass jeder Mensch letztlich – wie ein Tier, eine Pflanze, eine Maschine oder ein Stein auch – eine Ansammlung von sich bewegenden Elementarteilchen ist und sein Handeln daher keine anderen Ursachen habe als Naturgesetze und Zufall. Sie haben ja Recht! Naturgesetze und Zufall sind die beiden einzigen Arten von Ursachen, die wir kennen. Andere Ursachen zu behaupten ist entweder Leugnung der Naturgesetze oder metaphysische, also nicht überprüfbare, Deutung des objektiven Zufalls. Versteht man unter dem freien Willen also etwas, das weder an Naturgesetze noch an Zufall gebunden ist, so ist von vornherein klar, dass er nicht „existiert“. Die Definition ist schon absurd. Dieses philosophische Problem ist eigentlich längst gelöst. Es ist also ärgerlich, dass es in dieser ganzen Hirnforschungsdiskussion immer noch ständig im Wege herumgeistert.

Den Begriff des freien Willens mit einer sinnvollen Bedeutung zu füllen, dazu gibt es viele Ansätze, z.B. die bedingte Willensfreiheit. Allen brauchbaren Ansätzen ist gemeinsam, dass sie mit einer naturalistischen Erklärung menschlichen Handelns kompatibel sind. Und sie sind natürlich vage. Es könnte gar nicht anders sein, denn das Gehirn ist extrem komplex. Könnten wir die Zustände der Neuronen oder gar der Atome eines Gehirns genau und vollständig vermessen, könnten wir irgendwann vielleicht vollständige physikalische Kriterien angeben. Wir haben natürlich nicht die Technik dazu, so wie wir auch keine Raumschiffe haben, die mit Lichtgeschwindigkeit fliegen. Die präzisen Werkzeuge der Physik versagen angesichts der unbeherrschbaren Mengen an Beobachtungen und Daten. Um solche Fragen zu klären, brauchen wir die stumpferen, aber viel verwendbareren Werkzeuge von Wissenschaften wie Psychologie oder Philosophie.

Dass es aus praktischen Gründen keine Psychophysik gibt, ist manchen Philosophen nicht genug. So zum Beispiel Prof. Manfred Frank (Uni Tübingen, Zeit-Interview vom 2009-08-27), der diese meine Artikelserie ausgelöst hat. Er scheint von einem ebenso verzweifelten wie unsinnigen Wunsch beseelt, zu zeigen, dass es aus ganz prinzipiellen Gründen keine Psychophysik geben kann – keinen Zugriff der Naturwissenschaften auf Fragen wie: Hat Paula hier aus freien Stücken gehandelt? Empfindet Peter gerade Schmerz? Denkt Pia gerade an Pinguine? Nur weil wir die neurophysiologischen Bedingungen solcher Fragen nicht kennen, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt. Schmerz zum Beispiel ist ganz bestimmt nicht identisch mit der Reizung einer C-Faser, aber gewiss mit einer anderen, sehr kompliziert zu beschreibenden und praktisch unmöglich genau herauszufindenden Klasse von Hirnzuständen.

Schlechter noch fand ich, dass Frank die Hirnforschung dafür kritisierte, aus neuronalen Abläufen seien keine moralischen Normen ableitbar. Viele Philosophen in oben erwähntem Buch vertraten einen ähnlich diffusen Mystizismus, der im Ungefähren der nicht exakten Wissenschaften irgendwelche Normenquellen verstecken möchte. Sie möchten die Öffentlichkeit glauben machen, Gott habe irgendwo auf dem Forschungsgebiet der Philosophie des Geistes zwei Steintafeln versteckt und die Philosophen grüben eifrig danach. Finden möchten sie diese Steintafeln natürlich nie, denn wer bestimmt, was moralisch geht, solange sie ungefunden bleiben? Der Philosoph, der die überzeugendsten Vermutungen über den Inhalt der Steintafeln verlautbart. Da kann man natürlich nicht irgendwelche Naturwissenschaftler auf demselben Gebiet graben lassen. Die würden der Öffentlichkeit sagen, dass da keine Steintafeln sind und auch gar keine sein können. Moral ist schließlich vom Menschen gemacht. Nur leider haben sie manch einem Philosophen im Kindergarten den Unterschied zwischen deskriptiv und normativ nicht beigebracht.

Die Münze für Selbstentscheider

Manchmal kann man sich zwischen zwei Möglichkeiten schier nicht entscheiden. Dann bleibt als letzter Ausweg der Münzwurf. Bei mir ist es so: Wenn die Münze erst mal geworfen ist, schlage ich ihren Rat regelmäßig in den Wind und entscheide mich dann doch anhand von Gründen. Es ist, als würde der Münzwurf nur die klemmende Waage anstupsen, damit sich die doch etwas schwerere Schale endlich senken kann. Für Leute wie mich könnte man mal eine Münze mit zwei gleichen Seiten herstellen und – etwa über den Antipreneur-Shop – vertreiben.

Hirnforschung und Willensfreiheit

Der Mensch bleibt sich ein Rätsel

Da war letzte Woche mal wieder ein Interview zum Thema Hirnforschung und Willensfreiheit in der Zeit. Wie man sieht, bringt mich das Thema in Wallung. Es könnte daher passieren, dass hierzublog eine Artikelserie folgt. Beginnen wir so:

Bisher habe ich zwei „Probleme“ ausmachen können, zwei wissenschaftliche Positionen, die von vielen als störend oder beunruhigend empfunden werden, und dieses Empfindens wegen gibt es die Debatte. Leider werden die beiden Probleme nur selten sauber voneinander unterschieden.

1) Der freie Wille ist eine Illusion. Das geht auf Experimente des Hirnforschers Benjamin Libet aus den siebziger Jahren zurück. Er fand anscheinend heraus, dass Entscheidungen (z.B. einen Knopf zu drücken) neurophysiologisch unumkehrbar werden, bevor sie der Person, die entscheidet, bewusst werden. Das Gehirn setzt eine Ereigniskette in Gang, die zum Senden von Impulsen durch Nerven, zum Bewegen von Muskeln, kurz: zum Ausführen von Handlungen führen, und das Bewusstsein weiß erst Sekundenbruchteile später davon. Legt man die gängigen Vorstellungen von Raum und Zeit zugrunde, kann das Bewusstsein also keine Macht über Entscheidungen haben. Kommt es uns also so vor, als würden wir Entscheidungen bewusst treffen, muss das eine Illusion sein. Kann man trotzdem noch sagen, dass man selbst sein Handeln bestimmt? Wer oder was ist man selbst?

2) Der freie Wille ist nicht frei. Diese These basiert nicht auf irgendwelchen konkreten Erkenntnissen der Hirnforschung, sondern man muss das eigentlich als Annahme voraussetzen, wenn man Hirnforschung überhaupt betreibt. Denn Naturwissenschaft bewegt sich grundsätzlich innerhalb eines naturalistischen Weltbildes. Welche Ursachen man also auch immer für menschliches Verhalten und Empfinden findet, ob das Bewusstsein eine entscheidende Rolle spielt oder nur machtloser Zuschauer ist – letzten Endes wird man alles auf die Positionen und Bewegungen von Elementarteilchen zurückführen, der Mensch wird also physikalisch determiniert sein. Die Menschen neigen dazu, Erkenntnisse wie diese nicht schmeichelhaft zu finden. Manche wehren sich dagegen, von Teilchenbewegungen bestimmt zu sein, wie andere sich dagegen wehren, vom Affen abzustammen. Die Quantenmechanik liefert einen Ausweg: Ihr zufolge ist, so weit ich weiß, bei allen Teilchenbewegungen eine Menge objektiver Zufall im Spiel, der sich wissenschaftlichen Vorhersagen entzieht. Statt nun aufzubegehren, zufallsgesteuert wolle man schon gar nicht sein, sollte das gekränkte Individuum m.E. berücksichtigen, dass nicht alles, was Zufall heißt, auch profan sein muss – hinter dem Unvorhersagbaren kann man ein metaphysisches Selbst oder einen Gott vermuten, wenn man möchte.

Noch habe ich nicht herausgefunden, um welches dieser beiden Probleme sich die Debatte in den letzten Jahren hauptsächlich gedreht hat. Vielleicht ging es immer nur munter durcheinander. Gemeinsam ist beiden Problemen, dass sie gängigen Vorstellungen vom „freien Willen“, von Schuld und Verantwortlichkeit die Grundlage zu entziehen scheinen. Damit lassen sich trefflich Schlagzeilen machen. Ich finde aber, bevor wir uns aufregen, müssen wir uns erst mal darüber klar werden, was das überhaupt für Grundlagen gewesen sein sollen. Worauf haben unsere Vorstellungen von Schuld, Verantwortlichkeit, gerechter Strafe usw. denn vorher basiert? Wie haben wir uns den freien Willen vorgestellt, bis er als Illusion entlarvt wurde? Frei wovon wollen wir unseren Willen haben?

Neben mir liegt das Buch mit demselben Titel wie dieser Blogeintrag. Es enthält ein gelesenes Vorwort und 31 ungelesene Aufsätze. Ich hoffe für die nächste Zeit auf Erkenntnisgewinne, die die Wände wackeln lassen. Wenn ich das Gefühl habe, dass es sich lohnt, werde ich Sie, liebe Leser, an meinem Erkenntisprozess teilhaben lassen.

Kronloyal (Remastered)

Eine verbesserte Neuinszenierung des Publikumsrenners Kronloyal

Im StudiVZ, dem deutschsprachigen sozialen Netzwerk für Studenten, kann man seine politischen Überzeugungen wie folgt angeben: unpolitisch, Kommunist, sehr links, links, Mitte links, grün, liberal, Mitte rechts, rechts, konservativ oder kronloyal. Kronloyal! Dieses Wort in die Liste aufzunehmen ist ein lustiger Scherz, aber auch ein erstklassiger Schnappschuss vom Zeitgeist.

Ein paar subjektive Beobachtungen: Gar nicht wenige Studenten heften sich das Prädikat „kronloyal“ mit Begeisterung an die Brust. Kronen, also feudale Insignien, zieren Gesäßtaschen und Tops von Jugendlichen. Jugendliche bitten darum, an die Kandare genommen zu werden und die Zahl der Pädagogen, die bereit sind, das zu tun, wächst. Diese sind dann „modern“ Es läuft unter Schlagwörtern wie „Disziplin“ und „Manieren sind wieder ,in‘“. Sich Autoritäten zu unterwerfen ist einfacher, als in Eigenverantwortung dafür zu sorgen, ein guter Mensch zu sein. Uncool ist das auch nicht, denn die zugehörige Elterngeneration ist im Großen und Ganzen liberal. Indem man konservativer ist als konservativ – kronloyal eben – kann man also ein echter Rebell sein, ein Lehrerschreck (wenn man nicht an einen „modernen“ Lehrer gerät).

Ist es okay, konservativ zu sein? Was bedeutet „konservativ“ eigentlich? Ich verstehe darunter die Grundhaltung, am Bestehenden festzuhalten. Wenn jemand an sich bemerkt, dass seine Ansichten oft dazu tendieren, dann darf und soll er sich als konservativ bezeichnen, so denke ich. Wie man sich den Begriff allerdings auf die Fahnen schreiben kann, habe ich nie verstanden. Am Bestehenden hält man fest, weil es entweder nichts Besseres gibt – dann kommt die Frage überhaupt nicht auf, es wird nicht politisch – oder aus Faulheit. Faulheit, einschließlich Denkfaulheit und Lernfaulheit, ist ohnehin eine Haupttriebfeder menschlichen Tuns und vor allem Lassens. Das ist auch richtig so, denn Zeit und Energie sind knapp. Aus dieser Selbstverständlichkeit ein politisches Bekenntnis zu machen, halte ich für dumm bis bedenklich. Denn der Begriff bemäntelt die tatsächlichen definierenden Eigenschaften der so genannten Konservativen. Die sind meist treffender als Wirtschaftsliberale, Religiöse oder Autoritäre zu beschreiben. Wenn Jugendliche so drauf sind, fühle ich mit dem Lehrer, der darüber erschrickt.

Manche sind auch einfach starrsinnig, und für die klingt ein Begriff wie „konservativ“ zu freundlich. Wer das Bewährte verteidigt, ist freilich noch nicht gleich starrsinnig. Wenn etwas bewährt ist, also seit langer Zeit erfolgreich im Einsatz, ist das ein Hinweis auf seine Qualität, den es zu berücksichtigen gilt. Starrsinnige machen jedoch den Fehler, Bewährtheit als eine Komponente der Qualität anzusehen: Für sie ist etwas gut, weil es alt ist. Gegen solche Scheinargumente hat das Neue nie eine faire Chance. Mein Lieblingsbeispiel für Starrsinn, bemäntelt mit bemerkenswert schlechten Sachargumenten, ist Prof. Dr. Ch. Meiers Essay für Beibehaltung und Wiedereinführung der „bewährten Rechtschreibung“. Die Tugend der Faulheit vom Laster des Starrsinns säuberlich zu unterscheiden, das sollte Schulfach sein.