Der Knüller hier ist Beispielsatz (33). Wer schon weiß, wie Relativsätze im Deutschen funktionieren, kann direkt runterscrollen.
Die einschlägigen Grammatiken sprechen von einem „Einleitewort“ im Relativsatz, so auch die Canoo-Grammatik, der dieser Eintrag ansonsten viel verdankt. Dabei werden Relativsätze im Deutschen von einer ganzen Phrase eingeleitet, die nur in den typischsten Fällen aus genau einem Wort besteht. Kennzeichnend für diese „Einleitephrase“ sind zwei Dinge: Sie ist gegenüber der Nebensatz-Grundstellung nach vorne bewegt und hinterlässt eine unsichtbare Lücke, die ich im Folgenden als Unterstrich sichtbar mache: _. Außerdem enthält sie ein spezielles Wort, das die Verbindung zum Bezugswort des Relativsatzes herstellt. Im typischsten Fall ist dieses Wort eine Form des Relativpronomens der/die/das, wie in den folgenden Beispielen (ich setze die Einleitephrasen fett):
(1) der Mann, der _ das getan hat
(2) die Frau, deren/derer wir _ gedenken
(3) das Problem, dem wir _ nicht beikommen
(4) die Kinder, die wir _ gesehen haben
Es gibt noch das Relativpronomen welcher/welche/welches. Dem fehlen witzigerweise die Genitivformen, ansonsten funktioniert es genau so:
(5) der Mann, welcher _ das getan hat
(6) das Problem, welchem wir _ nicht beikommen
(7) die Kinder, welche wir _ gesehen haben
Dass die Einleitephrase hier nur aus einem Relativpronomen besteht, ist wie gesagt nur der typischste Fall. Die Einleitephrase kann auch ein Substantiv enthalten und ein Relativpronomen im Genitiv als Possessiv-Determinierer nutzen:
(8) das Bett, dessen Füße wir _ abgesägt haben
Oder die Einleitephrase kann eine Präpositionalphrase sein, in der das Relativpronomen das Komplement der Präposition ist:
(9) der Anblick, angesichts dessen ich _ erstarrte
(10) die Leute, bei denen wir _ vorstellig geworden sind
(11) die Sache, über die ich mich _ wundere
Die Einleitephrase kann auch ein zu-Infinitiv sein, in dem ein Dependent (Objekt oder Attribut, Argument oder Adjunkt, was auch immer) des Verbs das Relativpronomen ist – oder es enthält, denn all diese Einbettungsmöglichkeiten lassen sich fast beliebig kombinieren:
(12) das Auto, das zu fahren ich mich _ nicht traue
(13) der Mann, dessen Frau zu kritisieren ich mich _ nicht traute
(13) die Angelegenheit, über die zu sprechen mir _ verboten wurde
(14) der Mann, über dessen Frau zu sprechen mir _ unangenehm ist
(15) der Mann, über dessen Frau sprechen zu wollen mir _ gefährlich erscheint
Dieser Dependent hat die Eigenheit, in der Einleitephrase vorne stehen zu wollen (Sternchen bedeutet falsch):
(16) der Zwirn, mit dem sich anzuziehen er _ toll findet
(17) *der Zwirn, sich mit dem anzuziehen er _ toll findet
Altertümlicherweise gibt es auch Einleitephrasen, die nur aus dem Wort so bestehen; dialektalerweise gibt es welche, die nur aus dem Wort wo bestehen. Sie funktionieren wie ein Relativpronomen im Nominativ oder Akkusativ; ob es auch in Genitiv und Dativ geht, weiß ich nicht:
(18) der Mann, so _ sich Johann Albert Erzbischof von Magdeburg nennt
(19) das Schnitzel, wo ich _ gegessen habe
Im Schriftdeutschen kommt dieses wo nur vor, wenn es mit einer Präposition zu einem (interrogativen) Pronominaladverb verschmilzt und dann als Einleitephrase wie eine Präpositionalphrase verwendet werden kann:
(20) das, wofür sie _ gekämpft hatte
(21) vieles, woran ich _ geglaubt habe
(22) das Beste, womit wir _ rechnen können
Und zwar typischerweise dann, wenn das Bezugswort ein Demonstrativ- oder Indefinitpronomen oder ein substantiviertes Adjektiv im Superlativ ist, wie in den drei Beispielen. Hier Präpositionalphrasen zu verwenden, würde ein wenig ins Umgangssprachliche spielen:
(23) das, für das sie _ gekämpft hatte
(24) vieles, an das ich _ geglaubt habe
(25) das Beste, mit dem wir _ rechnen können
Umgekehrt ist es möglich, bei anderen Bezugswörtern Pronominaladverbien zu verwenden (auch nicht-interrogative), was dann aber altertümlich bis seltsam klingt, zumindest für mein Empfinden:
(26) der Wein, woran sie sich _ labten
(27) der Schlag, darob er _ ohnmächtig wurde
Eingeschobene Ergänzung 21:34 Uhr: Demonstrativ- und Indefinitpronomina sowie substantivierte Adjektive im Superlativ haben noch eine weitere Besonderheit: Besteht die Einleitephrase nur aus einem Relativpronomen im Nominativ oder Akkusativ, so ist dieses häufig nicht der/die/das oder welcher/welche/welches, sondern was. Wie seltsam das daneben klingt, hängt für mich vom Bezugswort und sogar vom weiteren Kontext ab (hat es etwas mit Definitheit zu tun?):
(A1) Hast du alles, was/??das du _ brauchst?
(A2) Hier ist alles, was/?das ich _ brauche.
(A3) etwas, was/das _ mich beunruhigt
(A4) vieles, was/?das ich _ nicht weiß
(A5) das Beste, was/??das _ mir je passiert ist
Entsprechend kann statt dessen wessen stehen, dessen finde ich hier aber natürlicher:
(A6) etwas, dessen/?wessen man sich schämen muss
Dialektal/umgangssprachlich kann was/wessen auch nach sächlichen Substantiven stehen:
(A7) das Kleid, was ich mir _ gekauft habe
(A8) der Sitz, wessen ich mich _ vergewissert hatte – Ergänzung Ende.
Verwandt mit der Verwendung von interrogativen Pronominaladverbien als Einleitephrasen ist die entsprechende Verwendung der normalen Interrogativadverbien wo und warum. Wenn ich meinen pingeligen Hut aufsetze, finde ich das unschön, aber es ist sehr real:
(28) die Stadt, wo ich _ gewesen bin
(29) der Grund, warum ich mich _ nicht daran erinnere
Bei wo muss das Bezugswort einen Ort denotieren, bei warum kommt eigentlich nur Grund als Bezugswort in Frage, vielleicht noch Synonymoide wie Ursache. Der folgende Satz erscheint mir jedenfalls eindeutig falsch, obwohl er Sinn ergibt – man kann den Materialfehler ja als Grund betrachten:
(30) *der Materialfehler, warum ich _ jetzt im Krankenhaus liege
Das Phänomen ist interessant – um zum Beispiel ein Substantiv als Ortsangabe in einen Satz einzubinden, braucht man normalerweise eine Präposition. Welche, hängt stark von dem Substantiv ab: man ist in einer Stadt, auf dem Strand, an einer Universität… wo als Relativsatz-Einleiter hingegen umgeht diesen Zwang zur Präposition. Ganz entsprechend wo und warum fungieren die Konjunktionen wenn (für Gegenwart und Zukunft) und als (für die Vergangenheit), wenn das Bezugswort einen Zeitpunkt oder einen Zeitraum denotiert:
(31) die Zeit, wenn das Öl _ aufgebraucht ist
(32) der Sommer, als wir uns _ kennengelernt haben
Zuletzt ein Typ Einleitephrase, von dem ich neugierig wäre, ob er irgendwo schon beschrieben ist: eine Nominalphrase mit dem Determinierer welch, normalerweise darauf beschränkt in Ausrufen („Welch liebliches Antlitz dieser Morgen zeitigt!“) und indirekten Fragesätzen („Er wusste wohl, welch liebliches Antlitz der Morgen gezeitigt“) satzinitial vor sich hin zu altertümeln, scheint zumindest Gisbert Haefs in dem Krimi Mord am Millionenhügel auch als Relativsatzeinleitephrase zu taugen. Da heißt es gegen Ende:
(33) Nach dem armen Versehrten und dem aufopfernden Kameraden kam nun eine heimatduselige Schilderung des Waldes und des zarten Emil M., Sohn des rechtschaffenen Pflegers im Krankenhaus, welch zartes Knäblein _ am nämlichen Tage im Wald zu lustwandeln sich nicht enthalten mochte.
Faszinierend ist hier vor allem die ganz und gar ungewöhnliche Möglichkeit, dem Bezugswort vermöge Adjektiv und Nomen noch in der Einleitephrase eine weitere Beschreibung zu verpassen. Ist das etwas Altertümliches und ich habe es nur bei Haefs zum ersten Mal bewusst gesehen? Oder hat Haefs selbst die Möglichkeit, bestimmte Einleitephrasen von indirekten Fragesätzen (wo, warum) auch für Relativsätze zu verwenden, auf Nominalphrasen mit welch-Begleiter übertragen?