Archiv der Kategorie: Sprache

Blogspektrogramm #2

Wie konjugiert man das Verb röntgen? Was ist von Rafael Wawers „sprachphilosophischer Spurensuche“ zu Plagiatsvorwürfen zu halten? Gibt es die Redewendung im selben Boot sitzen auch auf Englisch? Was hat das Wort Rudelgucken im Duden zu suchen? Welchen merkwürdigen Namen trug der Monat Juni früher? Dies und mehr in den Blogbeiträgen, die die Stars im zweiten Blogspektrogramm sind (wir erinnern uns)!

Wortschätzchen (2)

Was bisher geschah: Wortschätzchen

Berta war mit dem Memoziped nach Hause gefahren, um den Zeitgeiern zu entgehen, die an der Uni auf extravakanten Posten lauerten. Hier konnte sie ungestörter an ihrer Dessertation arbeiten. Sie streute etwas Hydrosilie auf den Gräuelbraten und schaute nach dem Senfspeiseeis in all its categlory. Es war schon spät, der Unruhu rief. Berta trank eine Stahlbrause gegen die Keltenkälte. Sie musste an Matthias denken. Diese Sprachbremse hatte auf ihrer Hämepage vierdeutige Bemerkungen gemacht, die Berta für eindeutig gegensächlich hielt. Aber das war nebensätzlich. Für solche Möchtegern-Albinos hatte sie eh nur Krötenschnörkel übrig.

Lieblingswörter (8)

Was bisher geschah: Schöne WörterLieblingswörterLieblingswörter (2)Lieblingswörter (3)Lieblingswörter (4)Lieblingswörter (5)Lieblingswörter (6), Lieblingswörter (7).

Der afterthought ist der kleine Bruder des Treppenwitzes. Ein ganz schön ausgefallenes Konzept für ein eigenes Wort, sollte man meinen, aber es scheint sehr häufig aufzutauchen in der englischsprachigen Literatur, die ich so lese. Die englischsprachigen Autoren, die ich so lese, lieben es nämlich, glaube ich, die Imperfektionen des menschlichen Erkenntnisprozesses aufzuspießen. Afterthoughts sind Äußerungen, die neue Sichtweisen beinhalten, meist etwas versteckt, sodass man nicht sicher sein kann, ob der Figur mit dem Afterthought wirklich bewusst geworden ist, was man als Leser schon seit einiger Zeit weiß. Meine Ausführungen schreien nach einem Beispiel, aber, liebe Leser, Sie kennen mich doch: Beispiele kann ich mir nie merken.

Ein anti-placeholder ist ein Element, das anzeigt, dass dieser Platz nicht reserviert ist. So etwas wie ein Schild, dass im Restaurant auf einem Tisch steht und verkündet: „Ab 19 Uhr für Fam. Müller nicht reserviert.“ So etwas macht natürlich nur in einem Universum Sinn, in dem man aufgrund anderer Umstände normalerweise darauf schließen würde, dass der Tisch ab 19 Uhr für Familie Müller reserviert ist. Die Phase beim Designen von Algorithmen und Datenstrukturen, in der man Elemente wie Anti-Placeholder einführt, ist normalerweise der Punkt, an dem man zusammenknüllt und von vorne anfängt. (Ja, zusammenknüllen ist jetzt ein intransitives Verb.) Sind die Datenstrukturen und Algorithmen bereits implementiert und im produktiven Einsatz, ist es der Punkt, an dem man sich bekreuzigt und seine Nachfolger um Vergebung bittet. Um an Verständlichkeit zu retten, was zu retten ist, führt man dann bildkräftige Benennungen wie eben anti-placeholder ein, und dieser kreative Prozess ist es wohl, der mich so für dieses real existierende Wort einnimmt. Ich bin mir aber sicher, dass seine Erfinder, die Designer des Penn-Treebank-Annotationsschemas für englische Syntax, gute Gründe dafür hatten, in Template-Gapping-Konstruktionen nicht die Lücken, sondern die Nicht-Lücken eigens zu markieren.

arguably! Ein großartiger Mogelausdruck! Wenn man sich nicht ganz im Besitz der nötigen Argumente für die Position wähnt, die man eigentlich vertreten will, kann man sich darauf zurückziehen, sie für vertretbar zu erklären. Heh, I see what you did there.

Das Verb impute (zuschreiben, unterstellen) begegnete mir zuerst und bisher ausschließlich in den verwinkelten Katakomben der linguistischen Pragmatik, wo ausgefuchste Theorien daran scheitern, dass sie Sprechern contradictory beliefs eindenken, denn genau dieses Verb möchte ich in solchen Zusammenhängen als neue Übersetzung vorschlagen. Was mir daran und am englischen Original so gut gefällt, ist die doppelte Beziehbarkeit des Denkereignisses, ist es doch sowohl der irregeleitete Sprachphilosoph, der etwas denkt, als auch der Sprecher in der von jenem für möglich gehaltenen Welt.

Logisch kompliziert und metaebig ist auch die Schönheit des Wortes insofar, das z.B. in diesem Satz aus Harry G. Frankfurts Essay On Bullshit sehr schön zum Einsatz kommt: „Insofar as [humbug] is humbug, the creation of this impression is its main purpose and point.“ Das Wort bedeutet nicht einfach in dem Maße, wie, wie man bei dem Versuch, seine Bedeutung auf die Bedeutungen seiner Bestandteile zurückzuführen, zu denken beginnen könnte. Um im Beispiel zu bleiben (nun also doch), die Eigenschaft einer Äußerung, Humbug zu sein, lässt sich nicht skalar quantifizieren. Vielmehr hat jede Äußerung eine Vielzahl von Fassetten und Eigenschaften, und an gewissen davon macht sich nach einer nicht näher spezifizierten Formel fest, ob sie Humbug ist. Diese Unterspezifiziertheit wird durch das Wort insofar absorbiert und in philosophische Superkräfte umgewandelt.

Beschwerden, bestimmte Wörter und Ausdrücke ergäben „keinen Sinn“ und zeigten den allgemeinen „geistigen Verfall“, werden von Sprachnörglern vorgebracht (meist in furchtbar unbeholfenem, hässlichem Stil) und sind offensichtlich Unfug. Ich führe ja immer den lockeren Spruch auf den Lippen, dass Sprache nun mal nicht logisch ist, sonst wäre ich ja auch arbeitslos. Trotzdem geht auch mir manche irreführende Bezeichnung gegen den Strich, vor allem, wenn sie innerhalb einer Terminologie auftaucht, die als solche ja schon eine strengere Zucht verdient hätte. Für solche Fälle hält die englische Sprache die schöne Anklage misnomer bereit. Zum Beispiel gibt es im WordPress-Code eine Funktion namens remove_accents. Das ist ein Misnomer, denn diese Funktion entfernt so ziemlich alle Diakritika, nicht nur Akzente. Ich weiß, diese Begriffsunterscheidung ist ein first-world problem. Ein schöner Euphemismus für Problemchen und Beschwerden, die in den Augen einer salienten Bezugsgruppe völlig egal sind – ein wohl universelles und sehr reales Phänomen. In meinem deutschen Idiolekt ist seit einiger Zeit das Wort Luxusproblem dafür eingebürgert.

Die Bedeutung der Präposition modulo (im Deutschen mit Genitiv) für natürliche Sprachen kann wohl nur mit der Bedeutung von Funktionen wie map für funktionale Programmiersprachen verglichen werden: Sie ermöglicht es immer wieder, sehr komplexe Bedeutung sehr elegant in sehr knackigen Code zu verpacken. Lange an der Beschreibung eines Verfahrens gefeilt und schließlich perfekte Prosa produziert, um dann festzustellen, dass ein wichtiger Schritt vergessen wurde? Kein Problem: Einfach eine adverbiale Ergänzung mit modulo reinhängen und schon ist ausgedrückt, was sonst das Auswalzen in mindestens einen zusätzlichen Satz erfordert hätte, samt neuen Anaphern und lästigen Konjunktionen, die nie genau das Richtige bedeuten.

Wir treten in die zweite Hälfte des Alphabets ein, verlassen zufällig gleichzeitig die sprachtheoretischen Meta-Hyperebenen und kehren zurück in die leichter zu atmende Atmosphäre der schönen Lautmalerei. Wir finden sie bei großartigen Wörtern wie nozzle (Düse), oaf (Vollpfosten, man hört sehr schön die Laute der britischen Verwandten des Neanderthalers raus) und pristine (makellos, das wortgewordene Putzmittelwerbungsglanzsternchen, aber noch etwas spiritueller).

Und ist es nicht schön, wie man auf Englisch zu einem Saugnapf sagt, suction cup? Wie der erste Bestandteil mit seiner latinaten Endung etwas zu fein zu sein scheint für so einen banalen Gegenstand, dann aber wiederum für ein Wort auf -ion auffällig wenigsilbig ist und etwas gedrungen wirkt? Wie er sich dann überdies mit dem harten männlichen Reim cup vermählt, wie wenn ein elastischer Saugnapf aus einiger Höhe auf eine Glasscheibe fällt und sich plötzlich – pfrrropf! – festsaugt, dass man von seiner Elastizität gar nichts mehr merkt? Doch, das ist schon sehr bestrickend.

Ob man den Saugnapf je wieder unstuck kriegt? Die exotische Faszination, die dieses Wort auf mich ausübt, hängt wohl irgendwie damit zusammen, dass es in meiner Muttersprache reiche, aber ziemlich disjunkte Mengen von Verbstämmen für das Festmachen (drücken, kleben, stecken…) und das Abmachen (ziehen, reißen, kratzen, lösen…) gibt und kaum etwas, das sich durch eine negative Vorsilbe in ein sauberes Gegenteil verkehren ließe.

Mein letztes Lieblingswort für heute ist thwart (vereiteln). Ich könnte mir keinen passenderen Klang vorstellen für ein Ereignis, bei dem ein Hexenmeister, von Sadismus und Schadenfreude erfüllt, mit einem rußgeschwärzten Zauberwerkzeug stellvertretend für die Pläne seines Feindes irgendein zäh in Stücke fallendes Artefakt zerstört.

Blogspektrogramm #1

Die deutschsprachigen Blogs über Sprache beginnen sich zu vernetzen und auch das Texttheater hat die Ehre, dazu eingeladen worden zu sein. Das Blogspektrogramm ist eine wandernde „Presseschau“ der deutschen Sprachblogszene, die in Zukunft jeden Monat in einem anderen Blog stattfinden soll. Die erste Ausgabe findet sich im Sprachlog von Initiator Anatol Stefanowitsch.

Mitmachen darf übrigens jede/r Blogger/in mit Studium der Sprachwissenschaft oder eines verwandten Faches, ob andauernd ober abgeschlossen, Einsendungen erwünscht!

Plagiatsapologie ohne Sinn und Bedeutung

Selten las ich solchen Schwachsinn wie die „sprachphilosophische Spurensuche“ zu Plagiatsvorwürfen, die Rafael Wawer gestern in das Redaktionssystem von Zeit Online gerotzt hat:

[A]ngenommen, Google oder Stephan Wolfram [sic] brächten demnächst eine öffentliche Plagiatssuchmaschine heraus, die das heutige Internet als „text corpus“-Basis (Fachbegriff der Computerlinguistik) verwendet.

Man nehme amüsiert zur Kenntnis, dass er das wahrscheinlich den meisten seiner Leser unbekannte Wort Computerlinguistik verwendet und großspurig darauf hinweist, dass Textkorpus (aus irgendwelchen Gründen als englisches Wort geschrieben) ein Fachbegriff dieser Disziplin sei, ohne sich damit aufzuhalten, ihn zu erklären. Geschenkt. Weiter:

Diese Maschine könnte Abermillionen Bücher anhand eines Buches vergleichen wie das bereits „text merge“-tools (Textvergleiche) im kleinen Rahmen tun.

Kann diesen Noob bitte mal jemand LARTen? Weder ist ein Merge-Tool ein Vergleichs-Tool noch ist eins dieser beiden Werkzeuge allein zur Plagiatssuche geeignet. Und so viel kleiner ist der Rahmen gar nicht, gängige Plagiatsdetektorsoftware benutzt doch Google und damit das Internet als Textkorpus.

Jede Suchabfrage hätte als Ergebnis den prozentualen Anteil der Plagiate am Gesamttext. Ganz oben rangierte vermutlich Guttenberg, gefolgt von – vielleicht Journalisten, Schriftstellern, Herausgebern, Nobelpreisträgern? Es gäbe einen Aufschrei.

Was wäre daran vorschnell? Plagiate kommen nicht einfach durch buchstabengetreue Übereinstimmung zustande.

Dieser Satz hat es in sich. Ich werde darauf zurückkommen, wie er das meint.

In Rom galt nicht die unerlaubte Vervielfältigung als moralisch verwerflich, sondern die Bereicherung daran. Noch zu Zeiten Shakespeares galt das originalgetreue Plagiat als Zeichen der Verehrung.

Beim Plagiat im wissenschaftlichen Sinne geht es weder um den Aspekt der Vervielfältigung noch um den der Bereicherung noch um den der Originalgetreuheit, also dient diese Ausführung nur der Verwirrung.

Im Allgemeinen verstehen wir aber unter Plagiat, von lateinisch plagium, so viel wie „Raub der Seele“. Dieb ist, wer fremde Gedanken stiehlt, seins nennt oder verkauft.

Das Stehlen fremder Gedanken ist also schlimm, das Stehlen fremder Wortlaute nicht so sehr? Aber stiehlt, wer fremde Wortlaute stiehlt, damit nicht automatisch auch fremde Gedanken? ACH, HÄTTE ICH DOCH NICHT GEFRAGT! Wawer holt Luft und doziert:

Nun beziehen sich die meisten Plagiatsvorwürfe auf Platon (428-328 v. Chr.) und erben damit seine Fehler. Platon hat die Seele mit Wachs verglichen. Eindrücke der Wirklichkeit würden zu Abdrücken auf der Seele. Erkennen wir etwas, das uns bekannt scheint, suchen wir im Schrank der Seele nach genau diesem Eindruck. Wir legen Eindruck und Abdruck übereinander. Passt etwas, rufen wir: Ah! Viele aktuelle technische Erkenntnistheorien gehen nach diesem Muster vor, ebenso neuronale Netzwerke.

Strukturen werden miteinander verglichen, indem man nach identischen Unterstrukturen sucht, ja. Man kann nicht nur zwischen identisch und nicht identisch unterscheiden, sondern in einem gewissen Maße auch ähnliche Eindrücke zueinander in Beziehung setzen. So konkret hat Platon sich das vielleicht noch nicht vorgestellt, aber er war nicht so sehr auf dem Holzweg, wie Wawer es klingen lässt:

Aber dann kam Gottlob Frege (1848-1925) und erinnerte an den „Morgenstern“. Wie sieht der Abdruck eines Morgensterns schon aus, wenn wir darunter den Planeten Venus, eine Waffe, selbst Jesus Christus und vieles weitere verstehen? Hiermit war die moderne Formalisierung von Sinn, Bedeutung und Referenz geboren – und damit die moderne Logik, die Computerwelt, das Internet. Mit Ludwig Wittgenstein (1889-1951), Bertrand Russell (1872-1970) und Jan Łukasiewicz (1878-1956) wurde sie erweitert und formalisiert. Łukasiewicz haben die Unix-Anhänger zum Beispiel zu verdanken, dass sie anstatt „8 + 5“ eher „+ 8 5“ schreiben.

Uuuffff!!! Was war das denn für ein Stunt? Einmal von Frege über das Internet zu polnischer Notation wie mit dem Dirtbike durch einen Supermarkt, viele Kenntnisse, null Zusammenhang und kaum Relevanz.

Kennte Wawer Frege, wüsste er, dass ihm das Wort Morgenstern als Beispiel für den Unterschied zwischen Sinn und Bedeutung diente – Morgenstern und Abendstern haben nämlich laut Frege verschiedene Sinne, aber dieselbe Bedeutung (den Planeten Venus). Darin steckt unter anderem das Phänomen der Synonymie, verschiedener Wörter mit gleicher Bedeutung, und das hätte Wawer brauchen können, um richtig darauf hinzuweisen, dass man ungekennzeichnete fremde Gedanken auch so umformulieren kann, dass die oben erwähnten, Wörter vergleichenden Suchmaschinen das Plagiat nicht entdecken, wie er es an anderer Stelle am Beispiel einer möglichen Umformulierung von Einsteins Relativitätstheorie auch kurz tut. Hier hebt er stattdessen auf das Phänomen der Homonymie ab, dass nämlich ein Wort – wie Morgenstern – verschiedene Bedeutungen haben kann: Venus, Waffe, Jesus usw.

Was will er uns bezüglich der Plagiatsvorwürfe damit sagen? Dass die folgende Passage, von Silvana Koch-Mehrin laut VroniPlag ungekennzeichnet und wörtlich aus Lothar Galls Buch Europa auf dem Weg in die Moderne 1850-1890 in ihre Dissertation übernommen, vielleicht gar kein Plagiat darstellt, weil sie dank der Homonymie der darin vorkommenden Wörter ja etwas ganz anderes bedeuten könnte?

„Konkret hieß das, daß sich nach England und Frankreich nun auch die meisten Staaten Mittel- und Südeuropas entschlossen, alle noch bestehenden Hindernisse für die Entfaltung des Handels und der gewerblichen Wirtschaft auf rechtlichem, finanz- und handelspolitischem Gebiet mehr und mehr abzubauen und sich künftig auch in ordnungspolitischer Hinsicht ganz auf den Markt und die Initiative des einzelnen zu verlassen.“

Natürlich nicht, eine solches Argument wäre selbst Wawer zu albern. Stattdessen schließt er aus seinem sprachphilosophischen Mäander pauschal, „dass man mit einfachen Abdruckvergleichen nicht weiterkommt“, weil menschliche Sprache „zu variationsreich“ für eine Entscheidung durch „crowd-Tribunale“ sei.

Er impliziert damit, die Bemühungen von GuttenPlag, VroniPlag und Co. hätten keine Gültigkeit. Natürlich können sie nicht alle Plagiate aufspüren. Aber wenn sie denn eine schlichte wörtliche Übernahme wie oben aufspüren, ist das dann nicht ein über jeden Zweifel erhabener Nachweis eines Plagiats, um meine schnell bereute Frage von oben zu wiederholen?

Wawer sagt nein. Er behauptet allen Ernstes, die oben zitierte Passage bedeute nichts weiter als „Mittel- und Südeuropa orientieren sich an der Marktwirtschaft“ und dass das eine Trivialität sei. Wortlaute ungekennzeichnet zu übernehmen, die Gemeinplätze formulieren, ist für Wawer noch kein Plagiat (und diese bornierte Privatmeinung erhebt er Ursula-März-mäßig zur „Regel“):

Die Regel lautet: Wer neuartige Bedeutungen und Sinnzusammenhänge stiehlt, der ist ein Dieb, also wer zum Beispiel dem nächsten Einstein beim Reden im Schlaf zuhört. Denn die Wissenschaft lebt vom Neuen. (…) Wer Allgemeines wörtlich kopiert, ist doof, aber kein Verbrecher. Dass Regen vom Himmel fällt, braucht nicht bewiesen zu werden.

Damit verkennt er total, was den Guttenbergs und Koch-Mehrins dieser Welt eigentlich vorzuwerfen ist. Das Stehlen von neuen Ideen wäre an sich ja gerade kein Problem, denn insofern die Wissenschaft vom Neuen lebt, ist es wichtig, dass, aber nicht, von wem es unters Volk gebracht wird. Plagiate sind hingegen deswegen schlimm, weil sie erstens das Urheberrecht der Autorinnen verletzen, zweitens (wichtiger) das wissenschaftliche Arbeiten der gesamten Disziplin sabotieren, indem Quellen verschwiegen werden und dadurch das Nachvollziehen von Entwicklungen und Zusammenhängen erschwert wird, drittens und wichtigstens jedoch zum Erwerb eines Titels eine Leistung vorgetäuscht wird, die nicht erbracht wurde, nämlich eine ganze Dissertation nach den Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens zu schreiben. Dazu gehört nicht zuletzt, alles genau zu durchdenken und mit eigenen Worten zu formulieren bzw. korrekt als Zitat zu kennzeichnen, um eine klare, lesbare und nachvollziehbare Darstellung zu erhalten. Neue Ideen hat man oder hat man nicht, das ist keine Frage des Anstandes und nur begrenzt eine des Fleißes. Die Knochenarbeit, an der sich das wissenschaftliche Ethos meiner Ansicht nach erweist, steckt im korrekten Aufschreiben und in der Literaturrecherche – hierzu gehört auch, nach Kräften zu versuchen, herauszufinden, ob eine Idee, die man selbst hat, nicht jemand anders schon vorher veröffentlicht hat.

Ich werde den Verdacht nicht los, dass Wawer das deshalb nicht weiß, weil er in seinem eigenen Philosophiestudium nie so gearbeitet, sondern sich immer nur Wissensbrocken angelesen und zu irgendwelchem zusammenhanglosen Rhabarber verleimt hat. Nur so eine Vermutung.

Im Relativismuskoma

Jaja, Wörter, die es nur in einer Sprache gibt und die in anderen Sprachen einfach kein passendes Äquivalent haben, ja die sich womöglich noch nicht einmal adäquat übersetzen lassen. Dieses oft falsche Gerede kann manchmal etwas ermüdend sein:

There are also great new German words without an appropriate equivalent in English: Fressnarkose (difficult to translate, but it describes feeling tired after lunch/dinner) (…)

Die Reaktion war nicht konstruktiv, aber sehr erfrischend:

I say, not really, Shakespeare (Measure for Measure 3.1.32) (reprised by Eliot in Gerontion) wrote:

“Thou hast nor youth, nor age:
But as it were a Fressnarkose
Dreaming on both.”

Signifikant

Als Vorbereitung auf eine letztlich doch nicht besuchte Sommerakademie der Studienstiftung las ich einmal The Emergence of Probability: A Philosophical Study of Early Ideas about Probability, Induction and Statistical Inference von Ian Hacking. Am nachhaltigsten faszinierte mich an dieser Lektüre der Gedanke, wie sich der Zeichenbegriff im Laufe der Jahrhunderte erweitert habe. Früher, so hieß es sinngemäß, kannte man nur Zeichen im semiotischen Sinne. Sah man beispielsweise in der Farbe und Gestalt einer Beere ein Zeichen dafür, dass sie giftig sei, so glaubte man, dieses Zeichen stamme von Gott, er bediene sich eines Zeichensystems, eines Codes, den es zu entschlüsseln gelte. Heute kenne man auch Zeichen im Sinne von Anzeichen, Indiz: Wenn ich im Laufe meines Lebens genug Daten über Beeren gesammelt habe, kann ich aus der Farbe und Gestalt einer Beere mit Hilfe probabilistischer Inferenz auf ihre Giftigkeit schließen, ohne in dieser Erkenntnis einen Akt gelungener göttlicher Kommunikation zu sehen. Daran fühlte ich mich erinnert, als ich gestern im Language Log las, die Schöpfung des Begriffes statistisch signifikant (von lat. signum: Zeichen!) sei der größte PR-Geniestreich des Statistikers R.A. Fisher gewesen.

Lexik, Objektebene und Metaebene

Wie doch die Objektebene die lexikalische Auswahl auf der Metaebene beeinflusst! Heiterkeit folgt.

  • tasting is perceived by FrameNet as PERCEPTION_ACTIVE. (A.)
  • Wir müssen die paint()-Methode dieser Klasse übermalen. (J.)
  • Der Begriff Sentiment Analysis ist im Moment relativ positiv besetzt. (M.)

Weitere Beispiele werden gern entgegengenommen.

So She Poons That

Ah, Snow Crash von Neal Stephenson! Neulich bei XKCD erwähnt, vom Language Log aufgegriffen und prompt von mir gelesen. Ein Cyberpunk-Roman mit Schlachten, die parallel in realen und virtuellen Welten ausgetragen werden. Mit bemerkenswerten Voraussagen über viele Aspekte der Entwicklung des Internets. Mit vielen Spielereien über Themen der Linguistik, von neuronaler Grammatik bis zu den Grenzen natürlichsprachlicher Expertensysteme. Mit vielen Seitenhieben auf die Gegenwart (1992). Der Roman spielt in einer dystopischen Welt in naher Zukunft, in der es keine Gesetze mehr gibt und in der Staaten zwar noch existieren, aber auf einer Stufe mit Firmen stehen, die an verschiedenen Orten ihre Franchises (bzw. Botschaften) eröffnen und Dienstleistungen anbieten, wie übrigens auch die Mafia. Alles ist privatisiert in dieser Welt, selbst Polizeien und Gefängnisse.

Mehr noch als nerdig und gesellschaftskritisch ist der Roman jedoch witzig. Da gibt es eine Stelle, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Die 15-jährige Skateboardkurierin Y.T. hat gerade einen Mercedes gepoont, also sich zum Ärger und zur Hilflosigkeit des Fahrers mit einer magnetischen Harpune ans Heck gehängt, um gezogen zu werden:

She gets the impression that this Mercedes is sandbagging – driving real slow so she’ll poon something else – so she poons something else, an outgoing delivery truck. Judging from the way it’s riding high on its springs, it must be empty, so it’ll probably move along pretty fast.

Ten seconds later, predictably, the Mercedes blasts by in the left lane, so she poons that and rides it nice and hard for a couple of miles.

Warum finde ich die Stelle so witzig? Es stecken Wiederholungen darin und der Autor weigert sich, die üblichen sprachlichen Kennzeichnungen von Wiederholungen anzuwenden. driving real slow so she’ll poon something else – so she poons something else, nicht etwa so she does that. Und: the Mercedes blasts by in the left lane, so she poons that, nicht etwa: so she poons it again.

Versuch einer Analyse: Es handelt sich nicht um einen, sondern um zwei miteinander verflochtene Texte, die dieselbe Szene aus zwei Perspektiven schildern, etwa so:

She gets the impression that this Mercedes is sandbagging – driving real slow so she’ll poon something else – so she poons something else, an outgoing delivery truck. Judging from the way it’s riding high on its springs, it must be empty, so it’ll probably move along pretty fast.

Ten seconds later, predictably, the Mercedes blasts by in the left lane, so she poons that and rides it nice and hard for a couple of miles.

Rot ist die Teenage-Rebellin, die sich ein Kämpfchen mit der Erwachsenenwelt liefert und es gewinnt. Sie weiß, was der Mercedes-Fahrer gegen sie im Schilde führt und sie triumphiert, als sie ihm seinen vermeintlichen Sieg wieder wegschnappt. Blau ist die eiskalte Profi-Kurierin Y.T., der dieses Spielchen nicht egaler sein könnte. Sie poont einfach immer das schnellste Fahrzeug in Reichweite, das in die richtige Richtung fährt. Beider Schilderungen laufen unabhängig voneinander und sind nur unvollständig zu einem einzigen Text verwoben, daher treten an den Nahtstellen diese seltsamen Wiederholungen auf. So schön hier mit sprachlichen Mitteln die verschiedenen Seiten der Y.T. zwischen kindischer Rebellion und erwachsener Geschäftssinnigkeit ausgedrückt werden, zwei grundverschiedene Herzen schlagen in ihrer Brust nicht: Was könnte den blöden Mercedesfahrer in einem Kräftemessen mit einer frechen Göre mehr ärgern als Opfer gerade des mechanischen Prinzips „Poon den Schnellsten“ zu werden…