Archiv der Kategorie: Sprache

Schöne Disjunktionen (1)

Als Zyniker kehrt man aus verheerenden Lebenssituationen, in denen man alleingelassen wurde, z.B. Kriegen oder Kindheiten, zurück.
Max Goldt, Mein Nachbar und der Zynismus

Umgekehrt würde unsere Unwissenheit uns selbst dann dazu zwingen, eine große Zahl wahrscheinlichkeitstheoretischer Modelle zur Untersuchung von Phänomenen auf anderen Ebenen, wie etwa die von Gasen oder Gesellschaften, einzuführen, wenn die grundlegenden physikalischen Gesetze absolut deterministisch wären.
Alan Sokal und Jean Bricmont, Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen

Lieblingswörter (7)

Was bisher geschah: Schöne WörterLieblingswörterLieblingswörter (2)Lieblingswörter (3), Lieblingswörter (4), Lieblingswörter (5), Lieblingswörter (6).

Meyers Konversationslexikon (1897) über den Illustrator Gustave Doré (zitiert nach Walter Moers, Wilde Reise durch die Nacht):

Der unerschöpfliche Reichtum seiner Phantasie und die Leichtigkeit seines Schaffens verführten ihn zuletzt zu Maßlosigkeiten und Bizarrerien, welche namentlich seine letzte größere Arbeit, die Zeichnungen zu Ariosts »Rasendem Roland«, entstellen.

Dass da nicht gleich jemand zur Stelle war und die Formulierung wegen Verstoßes gegen das Gebot des neutralen Standpunktes in eine tiefere Schicht der Versionshistorie verbannte, ist aus heutiger Sicht kaum noch verständlich. Es überkommt mich allerdings bisweilen eine heimliche Sehnsucht nach dieser Zeit mit ihrem naiven Kinderglauben, man könnte mit der Objektivität, die man von einem Konversationslexikon zu erwarten gewohnt ist, eine Weltordnung ermitteln, die einem dann feste Kriterien dafür an die Hand gibt, wann etwas maßlos oder bizarr ist. Bizarrerie zählt daher zu meinen Lieblingswörtern, ich denke es gerne, wenn mir irgendwas nicht passt und stark davon abweicht, wie ich es gemacht hätte. Etwa die Art der Darstellung in einem wissenschaftlichen Aufsatz oder eine Designentscheidung in einem Computerprogramm. Oh, Designentscheidung! Noch so ein Lieblingswort. Es nimmt so schön bündig die Erklärungslast auf sich, dass man etwas so oder so machen konnte, es war letztlich egal, aber man musste sich halt irgendwie entscheiden, und man hat es am Anfang so gemacht, und jetzt kann man es nicht mehr oder nur noch unter großen Mühen ändern. Ähnlich wie die Frage Linksverkehr oder Rechtsverkehr, wenn man ein Straßennetz baut und in Betrieb nimmt.

Weitere Lieblingswörter: Für Dinge, von denen ich nicht weiß, zu wie viel Prozent sie mich emotional berühren und zu wieviel Prozent intellektuell ansprechen, habe ich das schöne altmodische (aber womöglich nicht alte) Wort berückend hervorgekramt. Ebenso glänzt und funkelt in alltagssprachlichen Zusammenhängen hierzulande heutzutage das Gemach, sowohl als Studentenbude als auch als Verzicht auf Hektik. Das Wort Glyptothek war mir immer ein Faszinosum, vor allem bevor ich seine Bedeutung kannte und eher an Kryptisches und Glyphen als an Steine dachte. Lautmalerischen Charme verströmen die Adjektive morsch und schroff, emotional-phonästhemischen scheußlich, dessen Aufblitzen da, wo Takt und Professionalität sein Aufblitzen verbieten, mir regelmäßig Vergnügen bereitet, etwa bei dem Entenhausener Fernsehreporter, dem wohl Erika Fuchs in den Mund legte: „Dem Sieger winkt ein Pokal von ausgesuchter Scheuß… äh, Schönheit.“ Für das, was Kathrin Passig beim Bachmannpreis 2006 vortrug, hatte eine der Jurorinnen sogleich ein Label: Kontrollverlustüberkompensationstext. Die bloße Existenz des Wortes ist ein Trost dafür, dass man nicht häufiger so gute Kontrollverlustüberkompensationstexte lesen darf. Und ist es nicht schön, was für eine grazile Endung der volumniösen Pauke zum Paukisten verhilft? Einen nachhaltigen Lachkrampf im zarten Kindesalter bescherte mir einmal Josephine Siebe, indem sie in Kasperle auf Reisen schrieb, dass zwei Jungen „lachten, bis sie fast barsten“, und noch heute zählt bersten, insbesondere sein Präteritum, zu meinen Lieblingswörtern. Wie übrigens auch die gut gebauten, poetisch anheimelnden Komposita Liebesbezeigung und Weihezirkel.

Aschen

Intransitive Verben, die die Absonderung einer bestimmten Substanz durch das Subjekt beschreiben, beziehen sich fast immer auf Körperausscheidungen. Zu einer solchen adelt das Verb aschen quasi die Zigarettenasche, als wäre die Zigarette Teil des Körpers. Darin vermute ich den Grund dafür, dass ich das Verb lustig finde und auch viele der Sätze, die es enthalten:

Auf jeden Fall muß man den Gästen beizeiten einbleuen, daß sie auf keinen Fall jemanden mitbringen dürfen! Sonst hat man ein oder zwei Stunden lang die Wohnung voll mit Gestalten, die man überhaupt nicht kennt und auch nicht kennenlernen wird, die dafür aber so ungehemmter in die byzantinischen Bodenvasen aschen, (…)
Max Goldt, Die Mitgeschleppten im Badezimmer

Wenn ich Vermieter wäre, würde ich auch immer ne Stunde vor dem vereinbarten Termin kommen, damit ich sehe, wie meine Mieter in Müslischalen aschen oder den Herd nicht saubergemacht haben.
C.

Bitte mitzeichnen: Keine Aufnahme der deutschen Sprache ins Grundgesetz

Der CDU-Parteitag, der Verein deutsche Sprache, die Bildzeitung und andere fehlgeleitete Institutionen und Individuen wollen die deutsche Sprache als „Sprache der Bundesrepublik“, was auch immer das heißen soll, im Grundgesetz festschreiben.

Anatol Stefanowitsch vom Sprachlog hat beim Deutschen Bundestag eine Online-Petition gegen die Aufnahme der deutschen Sprache ins Grundgesetz eingereicht, die jetzt zur Mitzeichnung freigegeben ist. Ich habe sie mitgezeichnet und mache hiermit Werbung dafür. Ich rufe dazu auf, mir beides gleichzutun.

Text und Begründung der Petition sprechen für sich, weitere Hintergründe erläutert Stefanowitsch im Sprachlog. Ich möchte hinzufügen, dass Symbolpolitik mit xenophober Tendenz schon unerfreulich genug ist, ein Missbrauch des doch eigentlich sehr schönen, guten, klaren und aufs Wesentliche beschränkten Grundgesetzes für so einen Unsinn aber besonders schlimm wäre.

Vorfälle

Lange Zeit dachte ich, ein Bandscheibenvorfall hieße Bandscheibenvorfall, weil er eben ein unvorhergesehenes Ereignis ist, das die Bandscheiben betrifft. Dann las ich noch einige Zeit lang den roten Knopf Geschäftsvorfall abbrechen an Geldautomaten als Geschäftsvorfall, abbrechen! und hielt Geschäftsvorfall für einen Euphemismus für Maskierte mit Maschinengewehren, die in die Bankfiliale rennen, während man gerade was abheben will.

Schöne Bigramme

Wie wäre es also allso:

Das Bild vom Ruhrgebiet in den Köpfen der Menschen ist weithin weiterhin von Zechen und Hochöfen geprägt.

Der ehemals so genannte „Große Administrator“ trägt von nun an und vorerst immerdar den Titel „Geliebter Sprachführer“! (amarillo)

Die Menüs können Sie durch Anklicken aufklappen.

Ich schlage vor, dass wir uns auf die Podiumsdiskussion konzentrieren und das Tamtam drumrum ingorieren.

Die neuen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nahmen gerade Fahrt auf, da fand sie die Tat, der sie auf der Spur war, durch eine unvorhergesehene Gesetzesänderung jäh verjährt.

So geschehen schon neulich in Bochum und gestern ebenda erneut.

Like/Gefällt mir/Мне нравится

In a recent blog post, Geoffrey K. Pullum writes:

Twitter merely coined a verb meaning “send a message via Twitter”, but they didn’t specify what linguists call its subcategorization possibilities. They added the verb to the dictionary, but they didn’t specify its grammar. The verb tweet is gradually developing its own syntax according to what it means and what its users regard as its combinatory possibilities. That is a really interesting, though unintended, large-scale natural experiment in how syntactic change works. And it is running right now, every minute of every day.

If Facebook has, similarly to Twitter, coined a new verb, it’s probably like. Sure, that word existed before, but the way it’s employed on Facebook, it has developed an altogether new meaning. When you “Like” something on Facebook – i.e. you click the “Like” button – you thereby do not “like” it in the old sense – rather, you already liked it before and you now announce this to your friends. In the old sense of the verb, you are the experiencer of an affection. In the new sense, you are an agent, a deliberate performer of an action. The subject of the verb has a different thematic role in each case.

In the German translation of Facebook, the verb gefallen was chosen to translate like. This captures the old sense of like very well, much better than the perhaps more direct translation mögen. On the other hand, gefallen is having difficulties assuming the new sense, that of clicking a button to display one’s approval or enjoyment of something.

I think this is because gefallen assigns the experiencer role to its (dative) object rather than to its subject. For illustration, consider the English verb strike which does the same thing in sentences like “It strikes me that you are losing weight”: the verb is used to describe a situation where somebody experiences something, e.g. the striking perception that another person is losing weight, and the experiencer is described by the object of the sentence, e.g. me. Like is different; here, the experiencer is described by the subject of the sentence. Thus, when translating English like to German gefallen, the syntactic arguments need to be swapped: “I like this” becomes not “Ich gefalle das”, but “Das gefällt mir.”

Why does this prevent gefallen from assuming the new sense of its English counterpart like? Couldn’t “I recently liked that park on Facebook” analoguously translate to “Dieser Park hat mir neulich auf Facebook gefallen”? This sounds very weird to me, and I think the reason is a restriction on the mapping between thematic roles and syntactic arguments. Remember that the syntactic argument that was assigned the experiencer role in the old sense is assigned the agent role in the new sense. And to my knowledge, agent roles are only assigned to subjects in German (and also in English).1

If this were to change by gefallen acquiring a new sense where the dative object fills an agent role, this would pose many syntactic problems. How would you translate “Like this on Facebook!” or “I decided to like the park on Facebook” to German? Imperatives are always addressed to the (invisible) subject, and control always identifies the (invisible) subject of the embedded clause (“to like this park on Facebook”) with the subject or object of the embedding clause (“I decided”). One could construct “Der Park hat sich entschieden, mir auf Facebook zu gefallen”, but that would mean the park decided, not I.

So how do German speakers deal with the challenges posed by grammatically strenuous gefallen being the official translation of Facebook’s ubiquitous like?

First of all, as Facebook’s UI itself is concerned, “Like” and “Unlike” are translated quite freely with “Gefällt mir” (“I like”) and “Gefällt mir nicht mehr” (“I don’t like anymore”). This avoids using a new sense of the verb and rephrases things to use the old sense, by allowing the user to describe herself as an experiencer rather than explicitly offer her the possibility to become an agent. The description does not match reality perfectly, of course, for when I unlike something, that does not imply I don’t like it anymore, it just means I no longer want to commit to that on my Facebook profile.

In status updates about liking pages or links, the issue does not arise, as the English original itself talks about liking in the old sense, as an affectional state rather than an action. After all, it says “Peter Schwarz likes Conny Fuchs’s link”, not “Peter Schwarz liked Conny Fuchs’s link.” Interestingly, the relatively free word order of German makes it possible to keep the structure of such messages using gefällt, putting the dative object before the verb: “Peter Schwarz gefällt Conny Fuchs’ Link.”

Before the verb is even the preferred position for the experiencer in most contexts. Nevertheless, the prototypical main clause word order in German still starts with the subject. And person names are not marked for dative case.2 So the above could also be read with Peter Schwarz as the subject and Conny Fuchs’s link as the object. When Facebook’s “Gefällt mir” button started becoming ubiquitous on the German-speaking Internet, I actually expected people to start using gefallen exactly like like in the new sense, with an agent subject and a theme accusative object. It is not unusual for German verbs to assume semantic and syntactic argument structures from English counterparts, which is then bemoaned as an Anglicism once it has irreversibly settled in. An example is the verb erinnern (remember). The standard way to say “I remember this” in German is “Ich erinnere mich daran”, with an accusative reflexive pronoun and a prepositional object. However, recently “Ich erinnere das”, with the same structure as in English, is also frequently heard. Or maybe this non-standard usage has been around forever and I’m just interpreting it as a new Anglicism. (See johannes’s comment below.) To come back to my point, no, I haven’t seen or heard gefallen used with the argument structure of like yet. The new sense of like doesn’t seem to have a lexical counterpart in German yet.

Instead, gefallen is used with a slightly different sense in the context of Facebook – “Mir gefällt das” not meaning that I like it but that I made liking it part of my Facebook profile – but with the same argument structure (experiencer subject, theme dative object, no agent), still describing a state, not an action. As long as the context does not absolutely require an agent, gefallen in this sense is used rather consistently, as some of tonight’s first Google hits for „auf facebook gefallen“ show:

  • Wenn dir beispielsweise etwas wie ein Buch, ein Film oder jemand wie ein Sportler gefällt, wird diese Verbindung genauso Teil deines Profils wie dies der Fall ist, wenn dir Seiten auf Facebook gefallen. (Facebook Help Center)
  • High Live  würde sich freuen, wenn noch mehr Leuten „High Live“ auf Facebook „gefallen“ würde… (High Live’s page)
  • Die Seiten oder Produkte, die Mitgliedern auf Facebook gefallen, generieren automatisch entsprechende Vorschläge auf Amazon. (Social Media Pro)
  • Wir haben für euch auf Facebook eine einige Seiten erstellt, die für Spieler gedacht sind, denen unsere Seiten zu Blizzard, Diablo, StarCraft und Warcraft auf Facebook gefallen. (BlizzCon 2010)

There are some bewitchingly creative variations:

  • Gaggle ist auf diversen Plattformen präsent, über YouTube gibt es Gaggle-Videos, über Facebook werden neueste Nachrichten aus dem Gaggle-Kosmos ausgetauscht, 1253 Personen gefällt das. (Die Zeit)
  • 313’000 Personen finden auf Facebook gefallen an Swarovski. (fuellhaas.com)

And the ultimate solution to the problem that the one who clicks “Like” is not a subject in such constructions has been found by YouTube user Clixoom. He uses a “causative” construction with lassen, enabling him to use gefallen in an imperative statement:

  • lasst euch Clixoom auf FACEBOOK „gefallen“

This is also a creative new use of the phrase “sich etwas gefallen lassen”. The above invitation to like Clixoom on Facebook can also be read as a self-mocking invitation to put up with Clixoom on Facebook.

1 If you don’t count “logical subject” phrases in passive as objects of the verb, which you shouldn’t.

2 In Russian they are, and Facebook doesn’t seem to know how to do that yet even for Russian names written in Cyrillic, which is kind of lame and leads to lots of grammatically incorrect status updates, since the Russian like, нравиться, works pretty much exactly like gefallen.

Wort des Tages: Zwei-Komponenten-Tauschratte

Eine Tauschratte ist ein Nagetier, das Gegenstände mitnimmt und dafür manchmal andere hinterlässt.

Im übertragenen Sinne ist eine Tauschratte auch irgendjemand oder irgendetwas, der/die/das etwas wegnimmt und etwas anderes an dessen Stelle setzt.

Dieser Begriff ist z.B. auch dann anwendbar, wenn eine Person etwas wegnimmt und eine andere Person zeitnah etwas anderes an dieselbe Stelle setzt. Diese beiden Personen bilden dann eine Zwei-Komponenten-Tauschratte.