Archiv der Kategorie: Medien

Kinder, vertragt euch!

„Kinder, vertragt euch!“ Mit diesem Gestus wendet sich Jens Jessen in der aktuellen Zeit unter der Überschrift Das Netz gehört uns an „Digital natives“, „Digital residents“ oder „Internetenthusiasten“ auf der einen sowie „Digital immigrants“, „Digital visitors“ oder „Internetkritiker“ auf der anderen Seite. Er mag dabei nicht so recht zugeben, dass es diese beiden Lager gibt. Ich denke schon, dass es sie gibt, man sieht das doch an den politischen Konflikten, die immer häufiger zwischen ihnen auftreten, bei Themen wie Netzsperren, Leistungsschutzrecht oder Jugendmedienschutz-Staatsvertrag. Jessen jedenfalls meint, beide Seiten müssten nur ein paar falsche Vorstellungen aufgeben, dann würde man sich ganz schnell wieder vertragen.

Dabei stilisiert er uns Internet-„Einheimische“ zu dem uralten Klischee von unverbesserlichen Anarchisten, die wollen, dass im Netz überhaupt keine Gesetze gelten. Die das Netz zum – jetzt kommt der zum unerträglichen idiotischen Kampfausdruck verkommene Begriff – „rechtsfreien Raum“ erklären wollen. So lautet sein erster Appell:

Ein Minimum an Rechtsschutz, wie er sonst von Staaten seinen Bürgern garantiert wird, muss auch im Internet geboten werden. Wenn man sich darauf einigen könnte, und das heißt auch darauf, dass geistiges Eigentum nicht beliebigem Diebstahl ausgesetzt wird, wären viele Streitpunkte zwischen Einheimischen und Einwanderern beseitigt (die sich verständlicherweise um ihr Gepäck sorgen).

Wenn man sich darauf einigen könnte? Dass Gesetze auch im Netz gelten, darüber besteht längst Einigkeit. Dass irgendjemand ernsthaft die politische Forderung erheben würde, im Netz ungestört Kinderpornos gucken, zu Gewalttaten aufrufen, Verleumdungskampagnen durchführen und das Urheberrecht brechen zu dürfen, ist eine völlig absurde Vorstellung. Zum Beispiel das Urheberrecht wird stark respektiert in der digitalen Kultur, wie z.B. die Richtlinien der Wikipedia oder der De-Facto-Standard für ausdrückliches Erlauben, Creative Commons, zeigen.

Aber wir wehren uns, wenn neue Gesetze gefordert werden, die die internetbezogenen Probleme einzelner Lobbygruppen auf Staat, Gesellschaft und Internetprovider abwälzen (ACTA, Leistungsschutzrecht) oder für ein wenig hohle Symbolpolitik Freiheit und Demokratie empfindlich einschränken wollen (Netzsperren). So wie es Bürger/innen in einer Demokratie halt machen, wenn Dinge, die ihnen wichtig sind, zur Zielscheibe lobbyistischer oder populistischer Attacken werden.

Das sind nämlich die interessanten Konfliktlinien zwischen „Einheimischen“ und „Einwanderern“ des Netzes. Jessen lässt sie unerwähnt, deutet sie allenfalls an. Sein zweiter Appell:

Und zweitens, damit zusammenhängend, müsste akzeptiert werden, dass Informations- und Gedankenware höherer Qualität auch im Netz nicht umsonst zu haben sein kann. (…) Namentlich der Streit um die Dignität journalistischer Angebote im Netz würde erlöschen, wenn man neben dem Gratissektor ungeprüfter Qualität (…) auch einen honorarpflichtigen Sektor kontrollierter Nachrichtengüte etablieren könnte. Und wunderbarerweise (…) hinge ein solches Angebot ganz allein von der Zahlungsbereitschaft der heute noch missvergnügten Internetkritiker ab.

Dieser Schwadronade kann ich nicht folgen. Mangelnde Zahlungsbereitschaft bei den Internetkritikern ist wohl kaum das Problem, sondern die bisherige Unfähigkeit der Medien, Angebote zu schaffen, die Internetznutzer/innen Geld wert sind. Eine Frage von Angebot und Nachfrage, die erst da zum politischen Streitpunkt wird, wo Medienvertreter unverhältnismäßige politische Maßnahmen zur Sicherung ihrer Pfründe fordern (Leistungsschutzrecht).

Indem er die wesentlichen Konflikte unter den Tisch fallen lässt, schafft Jessen es, so zu tun, als gäbe es nur ein paar Dickschädel, die zur Einsicht kommen müssten, und zwar bei „Einheimischen“ wie „Einwanderern“ gleichermaßen. Ich halte dagegen: Wir „Einheimischen“ haben unsere Hausaufgaben gemacht. Wir wollen gerade keine regellose Netzparallelgesellschaft, sondern fordern die Einhaltung demokratischer Grundwerte in der digitalen wie in der analogen Welt. Es ist das Lager der „Einwanderer“, aus dem immer wieder netzbezogener Lobbyismus, Populismus und Maßlosigkeiten kommen, die, wenn man sie nicht verhindert, einzelnen kurzfristig nützen und langfristig allen schaden.

Microblogging

Ein wiederkehrendes Thema in meinem Geistesleben ist die universelle Ausdrucksmächtigkeit der Sprache unabhängig von formalen Bedingungen.

Dazu zählt die von mir ziemlich stark verinnerlichte radikale Gegenthese zur Sapir-Whorf-Hypothese. Sie (also die Gegenthese) besagt, dass alle Inhalte, die in menschlicher Sprache ausgedrückt werden können, in jeder menschlichen Sprache ausgedrückt werden können, und zwar – modulo eventueller Erweiterung um das jeweilige Fachvokabular – gleich gut, gleich elegant, gleich verständlich, gleich schön etc. Eine Sprache zu entwickeln zähle zu den biologischen Eigenschaften des homo sapiens, keine Sprache sei für eine bestimmte Kultur „gemacht“, Wechselwirkungen zwischen Sprache und Kultur seien natürlich vorhanden, aber schwach, oberflächlich und von keiner Bedeutung für die Ausdrucksmächtigkeit der Sprache.

Unausgesprochene Grundannahme so einer These ist, dass sprachliche Äußerungen so etwas wie einen „Inhalt“ haben, der von der „Form“ isoliert werden könne. Diese Isolierung philosophisch oder gar formal-linguistisch präzise zu fassen ist ein hoch komplexes, odysseskes, wenn nicht sogar quijotäres Unterfangen, aber eine intuitive Vorstellung von so einer Trennung zwischen Form und Inhalt haben wohl die meisten Menschen.

Neben der Frage, ob alle natürlichen Sprachen (und Dialekte) gleich ausdrucksmächtig sind, kann man sich die Frage stellen, welche literarischen Varietäten einer Sprache für eine Autorin und ihre Leserinnen die gleichen Funktionen erfüllen können, spezifischer: unter welchen formalen Beschränkungen ein Text bestimmte Funktionen noch genau so gut erfüllen kann wie ohne sie. Formale Beschränkungen gibt es zuhauf: Textlänge, verständliches Schreiben, Schreiben in einem bestimmten Stil, Schreiben nur im Präsens, Unzulässigkeit des Anpassens von Flexionsendungen in Zitaten an den eigenen syntaktischen Kontext, Text muss genau sechs Wörter haben, Text muss in Palindromform sein, Text muss ein gültiges Perl-Programm und überdies ein Quine sein, Text darf kein E enthalten… man könnte sich hinstellen und sagen: So verrückten Beschränkungen ein Text auch unterworfen sein mag, eine gut genuge Autorin wird auf anderen Ebenen so geschickt sein, dass sie inhaltlich genau dasselbe rüberbringen kann wie ohne sie. In der Literatur als Kunstform, die vom Wechselspiel, der Untrennbarkeit von Form und Inhalt besonders stark lebt, natürlich eine verwegene Behauptung.

Aber Leute haben es ausprobiert, haben experimentiert, haben Literatenzirkel zum Erfinden neuer formaler Beschränkungen und Verfassen von Literatur darunter gegründet (Oulipo). Georges Perec hat auf Französisch einen Mystery-Roman ohne ein einziges E geschrieben. Dass dessen Hauptperson nicht Grégoire Clément heißt, kann man sich denken. Abgesehen von solchen Oberflächlichkeiten fragt sich die Leserin: Wie viel von der Handlung, von der Ausgestaltung ist ein Zugeständnis an die E-Beschränkung? Hätte Perec in groben Zügen denselben Roman geschrieben ohne die Beschränkung?

Abgesehen von metaliterarischen Wonnen haben formale Beschränkungen den Vorteil, dass der Autorin Entscheidungen abgenommen werden und sie sich auf das Wesentliche konzentrieren kann. Auf den Inhalt. Auf die Originalität. Auf die Schönheit. Im Korsett einer formalen Beschränkung kommen Autorin und Leserin dem Gefühl viel leichter viel näher, dass alles Menschenmögliche getan wurde, um einen Text so gut wie möglich zu machen.

Wie zum Beispiel die berühmteste formale Beschränkung des letzten Jahres: Nur 140 Zeichen pro Text. Der Text wird dann Tweet genannt, das Verfassen und Veröffentlichen solcher Texte im Internet twittern oder microbloggen. Die Website Twitter macht so gut wie nichts anderes, als ihren Benutzerinnen das Veröffentlichen von bis zu 140 Zeichen langen Texten zu ermöglichen und miteinander in ein gerichtetes soziales Netzwerk einzutreten, das bestimmt, wem wessen Tweets gezeigt werden. Mit diesem ultrasimplen System ist das Microbloggen in kurzer Zeit waaahnsinnig beliebt geworden.

Ich kann das mittlerweile gut verstehen. Freilich, eine klassischer Bloggerin darf beim Schreiben ganz frei entscheiden, wann sie aufhört. Aber sie muss es eben auch. Sie muss inhaltlichen Umfang, Textdichte und ihren Wunsch, eine bestimmte Anzahl von Leserinnen bis zum Ende durchhalten zu lassen, austarieren. Bei Twitter dagegen gibt es einen Zeichenzähler, der eine realistische Normleserinaufmerksamkeitsspanne simuliert. Wenn er rot und negativ wird, ist das eine klare Ansage: Jetzt ist Kürzen angesagt und ggf. Auslagerung des nächsten Gedankens in einen eigenen Tweet.

Es ist auch eine große Wohltat, dass Twitter technisch minimalistisch ist und einen nicht mit allen möglichen Zusatzfunktionen zuballert wie ein klassisches Blogsystem. Wer Zusatzfunktionen will, muss ein ganz klein wenig zur Programmiererin werden. Die Twittergemeinde schafft sich ihre Werkzeuge selbst, hier kann man Kulturevolution im Fruchtfliegentempo beobachten. Tweets kategorisieren? #Raute vor ein Wort im Text. Benutzerin verlinken? @ vor den Namen. Lange Sätze posten? Abk. verw., notf. exz. Link mit langem URL posten? Bemühe einen Adresskürzdienst. Die Adresskürzdienste, deren einzige Daseinsberechtigung ursprünglich so weit ich weiß in den Unzulänglichkeiten bestimmter E-Mail-Programme bestand, haben durch Twitter eine Blütezeit sondergleichen erfahren. Jede bessere Website rollt ihren eigenen, ich persönlich mag aber u.nu am liebsten, weil der die URLs wirklich so kurz wie technisch möglich macht, das auf wunderbar bogus-informationstheoretische Weise erklärt und einmal klanglich sehr gut zu einem meiner Tweets passte. Natürlich wandern auch andere technische Krücken sofort in das literarische Gerätearsenal, so werden Hashtags längst nicht mehr nur zur Kategorisierung verwendet, sondern auch, um nachgeschickte Einwortkommentare formal dem Genre entsprechen zu lassen, es vielleicht zu parodieren.

Gelegentlich weiß ich auch das Opulente zu schätzen, aber insgesamt bin ich ein großer Freund der reduzierten Form, das heißt in der Literatur der kurzen Form. Zugespitzt: Ja zu Gedichten, Szenen, Kurzgeschichten und Aphorismen, nein zu Gesängen, Dramen, Romanen und Essays. Dieser Appeal des Kurzen hat auch seine problematischen Seiten. Es liegt in meinem Wesen, alles zergliedern zu wollen, die Dinge einzeln abzuspeichern wie Schmetterlinge hinter Glas, zu atomisieren. Mit dem Erkennen und Spannen großer Bögen tu ich mich schwer.

Twitteratur kommt meinen so hübschen wie zweifelhaften Vorlieben daher entgegen. Gab es das eigentlich vor Twitter, dass etwas unter 141 Zeichen als eigenständiger literarischer Text gelten konnte? Es wurde versucht, aber meines Wissens nie die perfekte Form dafür gefunden. So etwas wie einen Aphorismus, ein Wortspiel (in Form eines Minimalbeispielsatzes) oder ein Ultrakurzgedicht auf eine Buchseite zu packen und sie ansonsten weiß zu lassen, wirkt prätenziös. Aphorismensammlungen wirken staubig und stickig. Listen finde ich okay, aber erst ab einer gewissen Länge, die Sofortveröffentlichung jeder neuen Schöpfung ausschließt. Blogeinträge leiden darunter, eine Überschrift haben zu wollen, die dann in den meisten Blogdesigns mehr Bildschirmfläche bedeckt als der Text – und überhaupt, bei Kurztexten wirken Überschriften eher störend, sie müssen unter Verrenkungen dazuerfunden werden.

Twitter hat das Layoutproblem gut gelöst; der jeweils neueste Tweet auf einer Mitgliedsseite erscheint in großer Serifenschrift, der Rest in normalgroßer serifenlosen. Entscheidend finde ich, wie Twitter als Literaturplattform das Prätenziositätsproblem löst: dadurch, dass es nicht nur eine Literaturplattform ist, sondern vor allem eine Kommunikations- (banale Statusmeldungen) und Nachrichtenverteilungsplattform (Schlagzeile + Link). Die Grenze zwischen banalen Tweets und denen, denen ich literarischen Wert würde zusprechen wollen, ist fließend. Die Technik macht auch da keinen Unterschied: Jeder Tweet kriegt seinen URL und seine Zeitleistenposition. Die ideale Mischung aus Normalität und Präsentierteller. Die Perlen glitzern zwischen den Kieselsteinen und das Glitzern liegt im Auge des Betrachters.

Sick of Sickbashing

Dass Sprachblogger Anatol Stefanowitsch in seinem neuesten Beitrag mehrere Aussagen von Bastian Sick zitiert und ihnen ohne jede Kritik zustimmt, Sick aber trotzdem in eine Reihe mit den Sprachnörglern vom „Verein Deutsche Sprache“ stellt und ihn sogar als „Chefnörgler“ bezeichnet, als wäre das eine allgemein ausgemachte Tatsache, bringt bei mir ein Fass zum Überlaufen. Ich habe Sicks Kolumnen zur deutschen Sprache oft als langweilig, gekünstelt und uninformiert empfunden, jedoch nie als wertend oder gar präskriptiv. Meine Geduld mit der immer aufs Neue wiederholten und nie begründeten Abstempelung Sicks als Nörgler, Pedant, Schulmeister, Sprachbremse (Tippfehler bemerkt und stehengelassen) und Feind kreativen Sprachgebrauchs geht daher allmählich zu Ende.

Das Sick’sche Frühwerk ging aus seiner Tätigkeit als Korrektor bei Spiegel Online hervor. Gewisse Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler sowie sprachliche und stilistische Unsauberkeiten kamen bei den Redakteuren dort wohl häufiger vor, sodass Sick begann, Memos zu solchen Fehlerquellen zu verschicken. Niemand wird bestreiten wollen, dass es für ein Presseerzeugnis normal und zu begrüßen ist, dass eine „kontrollierte Sprache“ gepflegt wird, die leicht zu verstehen ist, mit Innovation geizt und sich ganz bestimmten stilistischen und grammatischen Konventionen unterwirft. Sicks Unterfangen war also dankenswert und seine Memos glänzten wohl durch zwei besondere Qualitäten: Erstens stellte er vorhandene sprachliche Normen und sprachgeschichtliche Zusammenhänge leicht verständlich dar, zweitens tat er das auf humorvolle, kreative, formenreiche Weise. Auf diese Weise ließen sich die Spiegel-Online-Mitarbeiter wohl so gern korrigieren, dass die Memos in Form der Kolumne Zwiebelfisch irgendwann das Licht der Öffentlichkeit erblickten.

Als Zwiebelfisch-Leser früher Stunden und mittlerweile studierter Linguist verstehe ich überhaupt nicht, wie Stefanowitsch und viele andere Stimmen, die ich so höre, zu der Einschätzung kommen, Sick sei ein Pedant und Verfechter unbedingt regelkonformen Sprachgebrauchs. Er verfasst ja keine Regelwerke wie Wolf Schneider oder erzürnte Pressemitteilungen wie der VDS, sondern Kolumnen, humorvolle und oft vor Ironie strotzende Kurztexte, die sich Fragen des Sprachgebrauchs von verschiedenen Seiten annehmen. Er klamüsert Zweifelsfälle auseinander, erklärt, was verwirrt und was Sprachkritiker stört und gibt sicherlich pointierte, aber selten unqualifiziert schulmeisterliche Empfehlungen ab. Wenn wirklich einmal abgehobene und alltagsuntaugliche Klugscheißerei den Inhalt einer Kolumne bestreiten soll, übernimmt die Figur „mein Freund Henry“, der in mehreren Kolumnen auftritt, diesen Part. Der Zwiebelfisch ist keine Doktrin, er ist Infotainment.

Dessen Qualität im Laufe der Jahre deutlich abgenommen hat, das muss man natürlich sagen. Dass Sick es nicht geschafft hat, den Witz und die thematische Relevanz seiner frühen Memos in einer regelmäßigen Kolumne zu bewahren, ist keine Schande. Schon etwas schändlicher ist es, dass er trotzdem nicht aufgehört hat und seinen ursprünglich unerwarteten kommerziellen Erfolg wohl auf Teufel komm raus möglichst vollständig ausschlachten will. So entstanden Privatfernsehmonstrositäten wie die „größte Deutschstunde der Welt“, Bühnenauftritte ohne Bühnentalent, Buchveröffentlichungen mit stetig nachlassender Qualität, gekünstelte Witzigkeit und verstohlener Ideenklau. Man vergleiche z.B. zwei Zwiebelfische zum Thema starke und schwache Verben, Die Sauna ist angeschalten von 2005 und Heute schon gekrischen? von 2008. Dasselbe Thema, in beiden Fällen zahlreiche gestorkene Verben von der Website der Gesellschaft zur Stärkung der Verben übernommen, nur in dem einen Fall mit Quellenangabe und in dem anderen Fall ohne, worüber wir uns erbosten. Zusätzlich ist der frühe Artikel informativ und man lernt was, im späten wird nur rumgeclownt und hingerotzt.

Sick ist also ein Fall für den freundschaftlichen Rat, es gut sein zu lassen, den Setzkasten zuzuklappen und sich journalistisch oder literarisch verdienstvolleren Tätigkeiten zuzuwenden als dem Fortschreiben einer überlebten Kolumne. Wer indes für einen vernunftgeleiteten Diskurs über Sprache in der Öffentlichkeit eintreten will, hat wenig Grund, ausgerechnet Sick zu bashen. Für die böse Fratze des Sprachnörglers bzw. den Heiligenschein des Sprachretters ist er lediglich Projektionsfläche.

Yo da standard fa me, baby

Mein Preis für Witz und sprachliche Kreativität geht in dieser Dekade an die österreichische Tageszeitung Der Standard, die ihrer Online-Ausgabe derStandard.at vor zehn Jahren eine Ausgabe mit Frauenthemen an die Seite gestellt hat. Ihr Name: dieStandard.at. Doch es wird noch besser. Im Februar 2010 ist eine weitere Variante gelauncht, mit Migrantenthemen, genannt daStandard.at. Offiziell ist das „da“ da das „da“ aus „Wir sind da.“ Aber man muss kein Schelm sein, um an einer Stelle, an die ein Artikel gehört, auch einen Artikel zu hören. Nur halt etwas krass-korrekter ausgesprochen.

Why I Love Wikipedia (#587)

“Disgustipated” is track 69 on most pressings in North America (causing most CD players upon reaching the end of track 9 to advance through tracks 10-68, which contain no data, at a rate of about 2 per second until track 69 is reached). It also appears as track 39, track 10 (mostly in Europe) or as a hidden track following “Flood” on track 9. On certain Japanese imports, “Disgustipated” is track 70, with a short live version of “Flood” as track 71.

Undertow (album)

Geistiger Diebstahl

Das Urheberrecht ist eine achtenswerte Sache, wiewohl ich glaube, dass die Welt auch ganz ohne es nicht unterginge. Plagiate sind böse, einverstanden. Man merke aber auch: Zitate sind keine Plagiate, sondern legitim. Und in der Literatur müssen Zitate nicht explizit gekennzeichnet sein, zumindest nicht im Text. Sie müssen nur erkennbar sein. Aber Erkennbarkeit hängt natürlich vom Leser ab, deswegen sind solche Zitate von Plagiaten im Zweifel schwer zu unterscheiden.

Der Fall Hegemann bewegt sich offensichtlich in einer Grauzone. Unter den Quellen, die in dem jetzt veröffentlichten sechsseitigen Verzeichnis aufgeführt sind, sind wahrscheinlich beide Sorten von Textübernahmen dabei. Weil es eine Grauzone ist, verstehe ich nicht, wie alle Welt so eindeutige Meinungen dazu haben kann. Eine eindeutige Meinung habe ich in dieser Sache mal wieder hauptsächlich über Leute, die Phrasen wie diese dreschen: „Geistiger Diebstahl ist und bleibt Diebstahl.“ Nein, ist er nicht.

Geistiger Diebstahl ist kein Diebstahl

Ein angeblicher Mörder ist nicht unbedingt ein Mörder. Ein elektrischer Straßenbahnschaffner ist nicht elektrisch. Ein kalter Hund ist kein Hund. Und geistiger Diebstahl ist kein Diebstahl. Ein Diebstahlopfer hat sein Eigentum nicht mehr, ein geistiges Diebstahlopfer sieht sich „nur“ in einem komplizierten Recht auf Selbstbestimmung über das Selbstverfasste verletzt.

Josef Joffe, der uns in der aktuellen Zeit mal wieder einen atemberaubenden Schrott zusammenschreibt, fängt insofern eigentlich ganz vielversprechend an: „Seitdem die Menschheit erzählt, »borgt« und »stiehlt« sie. Aber dann entstand die Idee des »geistigen Eigentums« und des »Plagiats«. (…) Vom 18. Jahrhundert an (…) waren Worte nicht mehr umsonst zu haben; sie gehörten dem Autor, und so entstanden Copyright und Urheberrecht.“

Wir lernen: Das Urheberrecht ist erst kürzlich entstanden, und „entstanden“ bedeutet natürlich: Es wurde von Menschen aus Gründen erfunden und durchgesetzt. Ohne auf diese Gründe irgendwie einzugehen, biegt Joffe, ganz Polemiker, schon im nächsten Satz umstandslos in die kategorische Verteidigung des Urheberrechts ein: „Den Chinesen werfen wir zu Recht das Raubkopieren vor – und Google das Scannen von Millionen von Büchern.“ Zu Recht? Zu welchem Recht?

Und jetzt kommt die entscheidende falsche Behauptung. Sie wird immer wieder gern gemacht, um über die Hintertür des allgemein verbreiteten Respekts vor dem Privateigentum auch die Akzeptanz des Urheberrechts zu steigern. Oder aus Dummheit nachgeplappert: „Worte sind Eigentum – wie Patente und Häuser.“ Nein, sind sie nicht.

Das Eigentum an einem Patent oder einem Haus besteht grob gesagt darin, dass es in den zuständigen Ämtern auf meinen Namen eingetragen ist. Die Tatsache einer solchen Eintragung kann man nicht wie Worte einfach kopieren. Es sind beim Diebstahl wie beim Schutz von Eigentum und geistigem Eigentum völlig verschiedene Vorgänge und Gesetze am Werk, und jeder tut gut daran, auch in seinem persönlichen Rechtsempfinden unterschiedliche Empörungen dafür zu reservieren.

Bei Joffe folgt nun eine Passage, die keinen allzu krassen Unsinn enthält, wenn man davon absieht, dass er Literaturkritikern Vorhaltungen dafür macht, dass sie die Causa unter literarischen Gesichtspunkten bewerten und nicht unter rechtlichen.

Fremde Federn

Was man Hegemann am ehesten vorwerfen kann, bezeichnet Joffe mit „verweislose Aneignung“ sehr gut, wobei ich den Aspekt der Aneignung entscheidend finde. Dass die Verweise fehlen, ist das eine. In der Wissenschaft sind Zitate ohne Verweis per Konvention und sinnvollerweise verboten. In der Kunst ist das nicht so, jedenfalls nicht für mein Kunstempfinden. Viele, die man heute als literarische Größen feiert, wären womöglich nie entdeckt worden, wenn sie so uncool gewesen wären, ihre Textquellen zu listen. Manchmal besteht der literarische Wert einer Übernahme ja auch darin, den Leser die Quelle selbst finden zu lassen. Stichwort Anspielung, Stichwort Verweis, Stichwort Insider, Stichwort soziale Dynamik innerhalb von geistigen Milieus, Stichwort Knuffen in die Seite. Ich benutze variierend auch andauernd Formulierungen, die ich von anderen habe, z.B. Max Goldt, ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen. Schon der Übergang zwischen Inspiration und Textübernahme ist fließend. Auf der Ebene kurzer Textfragmente wie Sätzen, Idiomen oder Wörtern ist sogar der Übergang zwischen Textübernahme und ganz normalem Sprachwandel fließend.

Das alles ist eben keine Aneignung. Um statt „Aneignung“ eine Formulierung zu wählen, die ohne Eigentumsmetapher auskommt: Man schmückt sich nicht mit fremdem Federn. Man geht von einer Leserschaft aus, die die Fähigkeit hat, die Quellen zu erkennen, und schmückt sich im Falle von Zitaten nicht mit Worten, sondern mit deren Kenntnis. Nun kann man sagen, Hegemann hätte von keiner Leserschaft ausgehen dürfen, die Airens Blog kennt. Aber es ist nicht klar, ob sie wissen konnte, dass ihr Buch für ein paar Wochen außerhalb der entsprechenden Kreise deutlich bekannter sein würde als Airens Schriften.

Selbst einen Roman, der völlig aus Schnipseln fremder Werke besteht, würde ich nicht als Plagiat bezeichnen, wenn der Autor zwar das Gesamtwerk, nicht aber die einzelnen Schnipsel als seine eigenen ausgibt. Wenn er zu seinen Methoden steht. Es ist der Eindruck entstanden, dass Helene Hegemann nicht zu ihren Methoden stehen, dass sie sie verbergen wollte, bevor die Textübernahmen publik wurden. Wenn das stimmt, ist es wirklich ein Makel. So oder so ist sie mit der Situation nicht gut umgegangen, da stimme ich Joffe sogar mal zu: „Von der Autorin wünscht man sich ein Quantum an Zerknirschung oder, wie es früher hieß: »Wohlanständigkeit«.“

Worte sind kein Eigentum

Wendet sich Joffe nun also der menschlichen Seite zu und ist mit der Zurschaustellung verbreiteter mangelnder juristischer Intelligenz fertig? Leider nein, zwei Sätze später muss ich mir wieder schreiend aufs Hirn greifen: „Sie empfinde es nicht als »geklaut, weil ich ja das ganze Material in einen völlig anderen und eigenen Kontext eingebaut habe«. Ist der Vergaser nicht geklaut, wenn ich ihn in mein Auto einbaue?“ Tja… was soll man dazu noch sagen. Als ich zuletzt nachgeguckt habe, waren zumindest in meinem Exemplar von Strobo alle von Hegemann „geklauten“ Passagen noch vorhanden. Was ich von dem Vergaser, der mir letztes Jahr geklaut wurde, leider nicht behaupten kann. Danke, Herr Joffe, Sie haben gerade selbst demonstriert, wie unsinnig es ist, „geistiges Eigentum“ wörtlich zu interpretieren.

Doch Joffe lässt sich ja von niemandem belehren, auch nicht von sich selbst: „Warum dann zwischen geistigem und materiellem Eigentum unterscheiden? (…) Die Trennung lässt sich nicht durchhalten, nicht in einer Welt, in der die Leistung einer Wirtschaft nur noch zu zwanzig Prozent aus »Dingen« – Autos, Äpfeln, iPods – besteht. Die anderen achtzig Prozent im weitesten Sinne »geistiges Eigentum« sind, die Hauptwertschöpfer des 21. Jahrhunderts.“ Mich würde interessieren, woher er diese Zahlen hat und ob er, bevor er diese Tatsache auf dem Altar der Polemik opferte, wenigstens daran gedacht hat, dass die „zwanzig Prozent“ aus der Übertragung von Eigentum bestehen, die „achtzig Prozent“ hingegen ganz bestimmt ganz überwiegend aus der Gewährung von Nutzungsrechten an geistigem Material. Auch wenn ein Patent verkauft wird, wird nicht die Idee verkauft – die ist vor wie nach dem Kauf in beiden Köpfen – sondern ein exklusives Nutzungsrecht. Entsprechend lassen sich auch keine Worte besitzen, sondern höchstens das Recht, bestimmte Kombinationen von Worten in bestimmter Weise öffentlich zu verwenden. Wenn die Hauptwertschöpfer des 21. Jahrhunderts tatsächlich geistiger Natur sind, ist es umso wichtiger, den Unterschied zwischen Eigentumsrecht und Urheberrecht zu kennen.

Und andere Unterschiede auch, wie den zwischen Urheberrecht und Copyright, auf den ich hier jetzt mal nicht eingegangen bin.

Zum Minarettverbot

Ach du Scheiße. Ich hatte gehofft, dieses Unargument nie wieder an so prominenter Stelle lesen zu müssen. Jedoch:

Die Schweizer sind die erste europäische Nation, die sich in einer freien Abstimmung gegen die Islamisierung ihres Landes entschieden hat. Nicht gegen die Religionsfreiheit, nicht gegen Lokale, in denen halal gegessen wird, nicht gegen den Islam als Religion. Nur gegen eine Asymmetrie, die auch in anderen Ländern als naturgewollt hingenommen wird.

Moslems dürfen in Europa Gebetshäuser bauen, Christen in den arabisch-islamischen Ländern dürfen es nicht (von den Juden und anderen Dhimmis nicht zu reden).

Henryk M. Broder, Einer muss den Anfang machen

Und wenn man da nicht folgen mag, gehört man zu den „Gutmenschen, die eine andere Kultur immer verteidigenswerter finden als die eigene“ (Broder)? Von wegen. Zu meiner Kultur gehört verdammt noch mal Religionsfreiheit. Einer der Gründe, aus denen sie verteidigenswert ist. Was für eine Kultur Broder verteidigen will, möchte ich lieber nicht wissen.

Sprachkurs Phrasisch I

Phrasisch ist gar nicht so schwer zu verstehen, liebe Kinder, passt mal auf: Ein Buch wird mir als konsequente Fortsetzung eines beliebten Klassikers angepriesen – da ist klar, es handelt sich um einen billigen Abklatsch. Es sei unentbehrlich, heißt es, sowohl für leichte Partyunterhaltung als auch für seriöse Information. Das heißt: Es kann möglicherweise dazu beitragen. Ein andermal lese ich, dass ein Theaterstück sich jeder narrativen oder logischen Auflösung verweigert. Aha, da ist mit chaotischen Szenen zu rechnen, die am Ende auf nichts hinauslaufen! Die taz bezeichnet die Antiquitätenshow „lieb & teuer“ als einen Seismografen der Krise des deutschen Bildungsbürgertums. Gemeint ist natürlich, dass die Sendung ein gutes Beispiel für diese Krise abgibt, weiter nichts. Schließlich die Amazon-Kurzbeschreibung, die uns mitteilt, Franz Kafka habe die Physiognomie des 20. Jahrhunderts entworfen. Das, liebe Kinder, bedeutet – überhaupt nichts. Es ist ein Füllwort, das im Deutschen unübersetzt bleibt.