„Kinder, vertragt euch!“ Mit diesem Gestus wendet sich Jens Jessen in der aktuellen Zeit unter der Überschrift Das Netz gehört uns an „Digital natives“, „Digital residents“ oder „Internetenthusiasten“ auf der einen sowie „Digital immigrants“, „Digital visitors“ oder „Internetkritiker“ auf der anderen Seite. Er mag dabei nicht so recht zugeben, dass es diese beiden Lager gibt. Ich denke schon, dass es sie gibt, man sieht das doch an den politischen Konflikten, die immer häufiger zwischen ihnen auftreten, bei Themen wie Netzsperren, Leistungsschutzrecht oder Jugendmedienschutz-Staatsvertrag. Jessen jedenfalls meint, beide Seiten müssten nur ein paar falsche Vorstellungen aufgeben, dann würde man sich ganz schnell wieder vertragen.
Dabei stilisiert er uns Internet-„Einheimische“ zu dem uralten Klischee von unverbesserlichen Anarchisten, die wollen, dass im Netz überhaupt keine Gesetze gelten. Die das Netz zum – jetzt kommt der zum unerträglichen idiotischen Kampfausdruck verkommene Begriff – „rechtsfreien Raum“ erklären wollen. So lautet sein erster Appell:
Ein Minimum an Rechtsschutz, wie er sonst von Staaten seinen Bürgern garantiert wird, muss auch im Internet geboten werden. Wenn man sich darauf einigen könnte, und das heißt auch darauf, dass geistiges Eigentum nicht beliebigem Diebstahl ausgesetzt wird, wären viele Streitpunkte zwischen Einheimischen und Einwanderern beseitigt (die sich verständlicherweise um ihr Gepäck sorgen).
Wenn man sich darauf einigen könnte? Dass Gesetze auch im Netz gelten, darüber besteht längst Einigkeit. Dass irgendjemand ernsthaft die politische Forderung erheben würde, im Netz ungestört Kinderpornos gucken, zu Gewalttaten aufrufen, Verleumdungskampagnen durchführen und das Urheberrecht brechen zu dürfen, ist eine völlig absurde Vorstellung. Zum Beispiel das Urheberrecht wird stark respektiert in der digitalen Kultur, wie z.B. die Richtlinien der Wikipedia oder der De-Facto-Standard für ausdrückliches Erlauben, Creative Commons, zeigen.
Aber wir wehren uns, wenn neue Gesetze gefordert werden, die die internetbezogenen Probleme einzelner Lobbygruppen auf Staat, Gesellschaft und Internetprovider abwälzen (ACTA, Leistungsschutzrecht) oder für ein wenig hohle Symbolpolitik Freiheit und Demokratie empfindlich einschränken wollen (Netzsperren). So wie es Bürger/innen in einer Demokratie halt machen, wenn Dinge, die ihnen wichtig sind, zur Zielscheibe lobbyistischer oder populistischer Attacken werden.
Das sind nämlich die interessanten Konfliktlinien zwischen „Einheimischen“ und „Einwanderern“ des Netzes. Jessen lässt sie unerwähnt, deutet sie allenfalls an. Sein zweiter Appell:
Und zweitens, damit zusammenhängend, müsste akzeptiert werden, dass Informations- und Gedankenware höherer Qualität auch im Netz nicht umsonst zu haben sein kann. (…) Namentlich der Streit um die Dignität journalistischer Angebote im Netz würde erlöschen, wenn man neben dem Gratissektor ungeprüfter Qualität (…) auch einen honorarpflichtigen Sektor kontrollierter Nachrichtengüte etablieren könnte. Und wunderbarerweise (…) hinge ein solches Angebot ganz allein von der Zahlungsbereitschaft der heute noch missvergnügten Internetkritiker ab.
Dieser Schwadronade kann ich nicht folgen. Mangelnde Zahlungsbereitschaft bei den Internetkritikern ist wohl kaum das Problem, sondern die bisherige Unfähigkeit der Medien, Angebote zu schaffen, die Internetznutzer/innen Geld wert sind. Eine Frage von Angebot und Nachfrage, die erst da zum politischen Streitpunkt wird, wo Medienvertreter unverhältnismäßige politische Maßnahmen zur Sicherung ihrer Pfründe fordern (Leistungsschutzrecht).
Indem er die wesentlichen Konflikte unter den Tisch fallen lässt, schafft Jessen es, so zu tun, als gäbe es nur ein paar Dickschädel, die zur Einsicht kommen müssten, und zwar bei „Einheimischen“ wie „Einwanderern“ gleichermaßen. Ich halte dagegen: Wir „Einheimischen“ haben unsere Hausaufgaben gemacht. Wir wollen gerade keine regellose Netzparallelgesellschaft, sondern fordern die Einhaltung demokratischer Grundwerte in der digitalen wie in der analogen Welt. Es ist das Lager der „Einwanderer“, aus dem immer wieder netzbezogener Lobbyismus, Populismus und Maßlosigkeiten kommen, die, wenn man sie nicht verhindert, einzelnen kurzfristig nützen und langfristig allen schaden.