Archiv der Kategorie: Welt

Zugegebenermaßen aus dem Kontext gerissen

Die aktuelle Zeit interviewt die grüne NRW-Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann:

ZEIT: Wenn man Politik für Nordrhein-Westfalen macht, segelt man da nicht immer hart an der Depression vorbei? Hier eine geschlossene Zeche, da eine Stahlruine, überall Zeichen früherer Größe?

Löhrmann: Nein, Nordrhein-Westfalen lebt und schillert. Zum Beispiel in Recklinghausen, da gibt es jetzt einen Wanderweg auf einer ehemaligen Kohlehalde.

Einen Wan… na, dann muss man sich um die Zukunft NRWs ja keine Sorgen mehr machen.

Wülste

Wissen Sie noch, die Bauchfrei-Mode? Jaja, einerseits fand ich es natürlich auch schlecht, wenn Mädchen sich diesem Mode-Diktat beugten. Andererseits fand ich es immer gut, dass dick zu sein für viele anscheinend kein Grund war, es nicht zu tun. Ich musste mir immer an den Kopf fassen, wenn es ausgerechnet das war, was die Leute aufregte. Ist es dieselbe Toleranz für Wülste, die mich den Fiat Multipla für ein ganz schönes Auto halten lässt?

Die Schrecken der Facebook-Timeline

Wenn Walter Jens Boris Jelzin lila Lutschmobil genannt hätte, dann hätten die Menschen gesagt: »Welch meisterliche Rhetorik!«, wenn ich Jelzin so bezeichnen würde, würde es heißen: »Was für eine skurrile Alltagsbeobachtung!«, und wenn Reinhold Messner über Boris Jelzin gesagt hätte, er wäre ein lila Lutschmobil, hätten alle gerufen: »Was für ein schönes Gebirgsvideo!« Aber wenn Helmut Kohl so etwas sagt, hinterläßt er angeblich einen Scherbenhaufen.

Max Goldt, Warum Dagmar Berghoff so stinkt, Die Kugeln in unseren Köpfen, Haffmans 1995

Und wenn Facebook Boris Jelzin ein lila Lutschmobil nennt (oder die Timeline einführt, oder die Schriftart ändert, oder den Blauton…), sagen alle: „Was für ein dreister Angriff auf meine Privatsphäre!“

Technischer Rückschritt

Wehmütig blicke ich auf manche technische Errungenschaft vergangener Jahrzehnte zurück, die die Menschheit inzwischen schon lange verloren hat und vielleicht nie wieder zurückerlangen wird. Da ist zum Beispiel die Möglichkeit, am Anrufbeantworter (heute: Voicemail) einzustellen, wie oft er es klingeln lässt, bevor er drangeht. Oder Audiodatenträger (bzw. Abspielvorrichtungen dafür), die sich über beliebig lange Hörpausen hinweg die Abspielposition merken. Vorbei, vorbei.

Eine kleine Taxonomie der Funktionen von Twitter-Hashtags in meiner Timeline

Hashtags dienen dazu, Tweets zu gruppieren:

  • Tweets zu einem Thema, dass für einen relativ engen, wohldefinierten Personenkreis interessant ist, z.B. für die Teilnehmer einer bestimmten Veranstaltung wie #28c3 oder #spack0.
  • Tweets, die eine Serie bilden, ein bestimmtes Mem instanziieren, das für alle interessant ist, die daran Freude haben, z.B. #lessambitiousbooks oder #ThingsWhitePeopleInvented. Ähnlich wie eine Kolumne oder regelmäßiger Cartoon in einer Zeitschrift, mit dem Unterschied, dass alle mitmachen können. Auch Werbekampagnen werden in diesem Format betrieben, z.B. #ProgressIs von Audi.
  • Tweets zu einem aktuellen, das Interesse großer Teile der Twitteröffentlichkeit auf sich ziehenden Thema, wie z.B. #Wulff oder #kuerschnergate.

Hashtags dienen dazu, nicht ausformulierte Neben-Kommentare zu einem Tweet hinzuzufügen:

  • Sie enthalten kurze, oft emotionale Reaktionen auf den Gegenstand des Tweets, etwa #happy, #fail, #wtf oder #iwouldratherhaveamoose. Dieser Typ wird in einem Language-Log-Artikel, insbesondere in jk’s Kommentar, sowie im New Yorker ausführlicher auseinandergenommen. Er ist auch der Typ Hashtag, der es am stärksten schon in den mündlichen Sprachgebrauch geschafft hat.
  • Sie geben an, worauf sich der Tweet bezieht. Beispiel bei @kathrinpassig: Auch immer schön: Der Vorwurf alter gebildeter Männer, das Internet biete nur Partizipationsmöglichkeiten für junge gebildete Männer. #boell. Und bei @dnaberDas Android „Sicherheits“-Update von neulich sorgt für deutlich längere Akkulaufzeiten. Hatten bisher Hacker meinen Strom gestohlen? #G1.
  • Sie erklären unauffällig einen Witz oder eine Anspielung, damit die Gebildeten nicht Duh und die Ungebildeten nicht Huh sagen. So @VonFernSeher@sixtus Wenn #Schubert heute lebte: „Alles als gewesen markieren“ #winterreise
  • Sie stellen den Tweet in einen Kontext, der den Erwartungen völlig zuwiderläuft und bilden dadurch erst die Pointe. So @Ohiogasimas: Hitler, er ist offen und kann auf Leute zugehen. #wettendass. Das ist übrigens meine Lieblingsfunktion bei Hashtags. Wenn ihr weitere gute Beispiele kennt, bitte mich drauf aufmerksam machen!

Hashtags dienen dazu, Leser/innen zu lenken:

  • Eine Mini-Inhaltsangabe bzw. Themenbestimmung bei Tweets, die ansonsten nur aus einem Link und vielleicht einer kurzen emotionalen Reaktion bestehen, so z.B. @textundbloghehe RT @ennomane: Wie geil! http://www.duden.de/rechtschreibung/Pirat #Duden #Piraten. Eine ähnliche Funktion haben in längeren Tweets scheinbar thematisch gruppierende Hashtags mit recht weiten, allgemeinen Themenfeldern wie #typografie oder #kurzfilm. Sie sehen zunächst ähnlich aus wie die strukturierenden Kategorien auf Wikipedia, werden aber ja nicht systematisch so verwendet, dienen also eher dazu, dem Folgefröschschen schnell zu vermitteln, ob der Link in dem Tweet es wohl interessieren wird.
  • Querverweise ermöglichen eine schnelle Suche nach Stichwörtern, die vom Kernthema des Tweets wegführen, wie z.B. #Schubert in @VonFernSeher’s Tweet@sixtus Wenn #Schubert heute lebte: „Alles als gewesen markieren“ #winterreise. Persönlich halte ich diese Verwendungsweise für zweifelhaft und eine Verwechslung von Twitter mit Wikipedia.
  • Schlagwörter werden durch das Doppelkreuz hervorgehoben. In längeren Texten dienen solche Hervorhebungen der Unterstützung des Diagonallesens, was sich bei Texten unter 141 Zeichen eher erübrigt. Das Motiv ist wohl mehr, mit aufgeladenen Begriffen der Leser/innen Aufmerksamkeit zu grabschen, wie @unreality in zwei Beispielen schön vorführt: Liebes #Google, wäre es evtl. möglich, zu erkennen, dass ich schon 1.000 mal den neuen Look bestätigt habe? In allen Anwendungen. Täglich. Und: Sagt mal, #Bushido, das war doch der mit dem kleinen Penis, oder? Es geht übrigens nicht nur um die Aufmerksamkeit derjenigen, die den Tweet eh lesen, weil sie @unreality folgen, sondern auch um die Aufmerksamkeit derer, die sich z.B. für Bushido interessieren und auf Twitter nach seinem Hashtag suchen. Zu dieser Gruppe könnte z.B. Bushido selbst gehören, @unreality umgehend aufspüren und übelst töten. In dieser Gefahrensuche liegt denn auch die Pointe des Tweets.

Hashtags dienen dazu, einen Tweet mit Metadaten auszuzeichen:

  • Tags wie #followerpower oder #korrekturtweet kennzeichnen Tweets mit spezieller Funktion. Oft wird dieser Typ Tag voran- statt hintangestellt.
  • Spezielle Tags kontrollieren das Verhalten externer Tools, z.B. lässt #fb die App Selective Tweets den Tweet nach Facebook kopieren.

Gruppierende und kommentierende Funktionen überschneiden sich, wenn ein Thema durch Schaffung eines nicht mehr ganz so neutral-deskriptiven Hashtags in den Status einen Twittermems erhoben wird, was andere Twitterinnen und Twitterer mit ähnlicher Sichtweise dazu einlädt, dieser Sichtweise verstärkt mit solcherart getaggten Tweets Ausdruck zu verleihen. So muss es bei der Schaffung des Hashtags #guttengate und anderer #-gates zugegangen sein.

Dieser Blogpost entstand im Rahmen des Versuchs, eine Antwort auf Kristin Kopfs Frage zu finden, inwiefern die oft ironische Bildung von solchen -gate-Wörtern im Zusammenhang mit ihrem Hashtagtum zu sehen ist. Hinsichtlich dieser Frage ist abgesehen von den vage in die Richtung gehenden Überlegungen im letzten Absatz nichts herausgekommen, dafür aber eine kleine Taxonomie.

Tempus- und Aspektmysterien der philosophischen Geheimsprache

Es gibt eine philosophische Geheimsprache, an der ich mir immer wieder die Zähne ausbeiße. Peter Sloterdijk zum Beispiel hat seit gefühlten tausend Jahren keinen Absatz mehr geschrieben, der nicht in dieser Geheimsprache abgefasst wäre. Aber auch die folgenden Absätze aus dem Artikel Transparent ist nur das Tote von Byung-Chul Han sind ein gutes Beispiel. Der Karlsruher Philosoph schilt darin die „Ideologie“ der Transparenz (vgl. Post-Privacy) und außerdem die Piratenpartei dafür, dass bei ihr keine Ideologien (!) zugelassen seien, aber das nur am Rande. Einleitend schreibt Han:

(…) Die Transparenzgesellschaft ist eine Positivgesellschaft. Transparent werden die Dinge, wenn sie jede Negativität abstreifen, wenn sie geglättet und eingeebnet werden, wenn sie sich widerstandslos in glatte Ströme des Kapitals, der Kommunikation und Information einfügen. Transparent werden die Handlungen, wenn sie sich dem berechen-, steuer- und kontrollierbaren Prozess unterordnen. Transparent werden die Dinge, wenn sie ihre Singularität ablegen und sich ganz im Preis ausdrücken. Transparent werden die Bilder, wenn sie, von jeder hermeneutischen Tiefe, ja vom Sinn befreit, pornografisch werden. In ihrer Positivität ist die Transparenzgesellschaft eine Hölle des Gleichen.

Die Kommunikation erreicht dort ihre maximale Geschwindigkeit, wo das Gleiche auf das Gleiche antwortet, wo eine Kettenreaktion des Gleichen stattfindet. Die Negativität der Anders- und Fremdheit oder die Widerständigkeit des Anderen stört und verzögert die glatte Kommunikation des Gleichen. Die Transparenz stabilisiert und beschleunigt das System dadurch, dass sie das Andere oder das Abweichende eliminiert. (…)

Die Dichte von Fremdwörtern und Fachbegriffen ist sehr moderat. Ich störe mich auch nicht an vagen Begriffen wie die Dinge oder das Gleiche. Auf deren Bedeutung könnte man wohl im Prinzip aus dem Kontext schließen.

Wovor mein Verständnis aber kapituliert, das sind Tempus und Aspekt.

Die Geheimsprache kennt beinahe ausschließlich solche Verben, die die Änderung eines Zustandes ausdrücken. Das allerwichtigste Verb, wenn nicht Wort, der Geheimsprache überhaupt ist werden. Es kommt in dieser Passage sechsmal vor. Ansonsten zähle ich jeweils ein Vorkommen folgender zehn eindeutiger Zustandsänderungsverben: abstreifen, glätten, einebnen, einfügen, unterordnen, ablegen, befreien, stabilisieren, beschleuningen und eliminieren. Alles wird als Prozess ausgedrückt.

Leider ist keine der beschriebenen Zustandsänderungen auch nur ansatzweise in der Zeit verankert. Han sagt nichts darüber aus, wann Zustand A geherrscht hat, herrscht oder herrschen wird oder darüber, wann Zustand B geherrscht hat, herrscht oder herrschen wird. Es gibt keine Hinweise darauf, wann und wie oft der beschriebene Vorgang eingesetzt hat, einsetzt oder einsetzen wird, wie schnell er verlief, verläuft oder verlaufen wird und ob und wann er abgeschlossen war, ist oder sein wird. Vor allem fehlen Zeitangaben wie in den letzten zehn Jahren, zukünftig oder immer dann, wenn.

Auch das Tempus hilft nicht weiter. Die ganze Passage ist im Präsens geschrieben. Aber ich kann ums Verrecken nicht erkennen, ob das ein aktuelles, generelles, historisches, futurisches oder gar szenisches Präsens sein soll. Wird hier ein aktueller Prozess beschrieben oder eine allgemeine Aussage getroffen? Wenn Letzteres, geht es um einen lang andauernden oder einen sich immer wieder wiederholenden Prozess?

Schließlich die Konjunktion wenn, ein weiterer Grundpfeiler dieser Geheimsprache. Sie bedeutet hier sicher mehr, als dass Dinge zur gleichen Zeit stattfinden. Aber was? Kausation, Korrelation, Definition? Wird Transparenz durch das Abstreifen jeder Negativität verursacht? Oder treten Transparenz und das Abstreifen jeder Negativität typischerweise gemeinsam auf? Wenn ja, auf welchen Beobachtungen, in welchem Zeitraum, in welcher Kultur, an welchem Ort, beruht diese Generalisierung? Oder will Han den Begriff Transparenz hier überhaupt erst definieren, als das Abstreifen jeder Negativität (und/oder der ganzen anderen Vorgänge, von denen er schreibt)? Es bleibt das Geheimnis Hans und derer, die seine Sprache sprechen.

Ich will mich hier nicht nur lustig machen über einen schwierigen Schreibstil. Ich verstehe aufrichtig nicht, was gemeint ist. Vielleicht verstehe ich wirklich einfach nur die philosophische Fachsprache nicht. Hat dieses Präsens, haben diese Prozessbeschreibungen, hat dieses wenn in der Philosophie eine konventionelle technische Bedeutung? Wissen Fachleute, wie sie es zu interpretieren haben? Wenn ja, bitte ich um Aufklärung. Bis dahin werde ich wohl annehmen müssen, dass es sich um eine Methode zur Verschleierung handelt. Zur Verschleierung der Tatsache, dass die eigene Positon auf vagen, selbstausgedachten Zusammenhängen beruht, die man nicht begründen, geschweige denn belegen kann. Es würde mich nicht wundern.

PS: Der überwiegende Rest von Hans Artikel ist dankenswerterweise nicht in diesem Stil geschrieben.

Herrenboutiquen

Reine Herrenboutiquen haben es schwer. So folgte der Eröffnung der ersten Macho-Filiale in Tübingen vor ein paar Jahren auf dem Fuße die Erweiterung um einen Bereich namens Chica, der mittlerweile drei von vier Schaufenstern belegt. Und MEN_AT_WORK in Groningen hat seinem Schriftzug kleinlaut ein WO_ vorangestellt.

Arabische Hangulimitate

Wir erinnern uns, dass es findigen Seouler Werbemenschen gelungen war, den koreanischen Satz 고맙습니다 („Danke“) so zu schreiben, dass es wie arabische Schrift aussieht:

Quelle: Seoul Culturenomics

Wir erinnern uns auch, dass ich zuvor aufgegeben hatte, zu entziffern, welche arabischen Buchstaben hier verwendet wurden. Es ist schwierig, weil

  1. die Buchstaben miteinander verbunden sind, so wie in tatsächlicher arabischer Schrift. Wer nicht arabisch lesen gelernt hat, kann nur raten, wo ein Buchstabe aufhört und der nächste beginnt.
  2. viele arabische Buchstaben stark unterschiedliche Formen annehmen, je nach dem, ob sie allein dastehen, nach links, nach rechts oder nach beiden Seiten verbunden sind. Man spricht von isolierten, initialen, finalen und medialen Formen. Versucht man etwas zu entziffern, muss man also nicht nur mit 28 (so viele Buchstaben hat das arabische Alphabet), sondern mit 66 Glyphen abgleichen, siehe diese Tabelle.
  3. die koreanischen Designer sich nicht überall an diese positionsabhängigen Formen gehalten haben, sonst hätte man sich bei der Suche nach einem bestimmten Segment ja jeweils auf eine Spalte der Tabelle beschränken können. Namentlich scheint mir der zweite Glyph von rechts ﻏ zu sein, die initiale Form des Ghain. Diese könnte eigentlich keine Verbindung nach rechts haben; die Verbindung wurde wohl hineingephotoshopt. Abgesehen davon ist es mir letztlich (siehe unten) gelungen, alles ohne illegale Verbindungen nach rechts oder links zu erklären, allein das linke von den beiden Zeichen unterhalb der Grundlinie, meinem Dafürhalten nach ein ج (Dschim) wurde nach oben verbunden.
  4. die koreanischen Designer sich auch sonst mehr künstlerische Freiheit genommen haben als bei den anderen beiden Plakaten: Ich habe mir für diesen Blogeintrag gerade mal so die Grundlagen der arabischen Schrift angelesen und kenne natürlich nicht übermäßig viele arabische Schriftarten, aber mir scheint, dass Teile mancher Buchstaben weggeschnitten und manche Größenverhältnisse manipuliert wurden.

Hier nun meine Theorie, welche Zeichen für das gelbe Plakat benutzt wurden, an welcher Stelle und mit welchen Manipulationen:

Hangul-Silbenblock Hangul-Buchstabe Fremdes Zeichen Schrift Anm.
ﺤ‎‎ (Hāh, medial) Arabisch 5
ﺰ (Zāin, final) Arabisch 6
ﻌ ‎‎‎‎‎(’Ain, medial) Arabisch
ﻟ (Lām, medial) Arabisch
ﺝ‎ (Dschīm, isoliert) Arabisch
ﻨ‎ (Nūn, medial) Arabisch
(fehlt)
ظ (Zā, isoliert) Arabisch
‏ﺴ‎ (Sīn, medial) Arabisch 7
ﻏ (Ghain, initial) Arabisch
ﻟ (Lām, initial) Arabisch 8
١ (1) Indische Ziffern

5 Klassischerweise sieht das mediale Hāh deutlich anders aus, aber in modernen Schriftarten mit strenger Geometrie tatsächlich manchmal einfach wie ein Bogen, der an der durchgezogenen Grundlinie endet. Ich habe allerdings noch nie gesehen, dass es sich unten wieder so weit nach links krümmt, wie es auf dem Plakat aussieht, daher habe ich an der Hāh-Theorie noch so meine Zweifel. Auch nicht besser gefallen mir allerdings die Möglichkeiten, der ganze erste Silbenblock könnte durch ein ذ dargestellt sein, das den Punkt in der Öffnung statt oben hat, oder durch ein ن, das nach links statt nach oben geöffnet ist.
6 Hier brauchte ich irgendeinen Buchstaben, der nur aus einer niedrigen Spitze mit Punkt drüber besteht. Das Zāin passte gut, wenn man seinen Schnörkel links wegschneidet.
7 Hier wurde m.E. der ganze Silbenblock durch ein Sīn dargestellt, dem allerdings die mittlere Spitze entfernt und die rechte möglicherweise noch etwas nach oben verlängert wurde. Dafür spricht auch der große Abstand zu dem Nūn links daneben, den man in manchen Schriftarten wiederfindet, zum Beispiel in Linotypes Neue Helvetica Arabic, aber nicht in Frutiger Arabic (fünftes Wort von rechts; Quelle). Die horizontale Linie, die diesen Abstand ausfüllt, könnte man sogar als das im Silbenblock links daneben fehlende koreanische U deuten.
8 Hier wurde in die andere Richtung vom Ein-Zeichen-pro-Hangul-Buchstabe-Prinzip abgewichen: Das ㅏ wurde durch ein initiales Lām und ein Strichelchen dargestellt, das mir von Form und kulturellem Kontext her am ehesten wie die Indische Ziffer 1 vorkommt. (Ja. Im Arabischen werden Zahlen mit – ihrer Herkunft nach so genannten – Indischen Ziffern geschrieben. Was wir Arabische Ziffern nennen, sind die abendländischen Fortentwicklungen derselben, die sich in der Form schon recht stark unterscheiden.)

Hangulimitate

Geschriebene Sprache kann auf mehr als einer Ebene Bedeutung vermitteln. Einmal zählt natürlich, was geschrieben steht. Aber auch, wie es geschrieben steht. Ich denke da besonders an die Wahl der Schrift: Comic Sans MS vermittelt andere unterschwellige Botschaften als Times New Roman. Ob ein Text mit lateinischen oder kyrillischen Botschaften geschrieben wird, kann in einigen Sprachen je nach historischem Kontext ganz schöne politische Sprengkraft haben. In ganz besonderen Fällen wird etwas in einem Schriftsystem A geschrieben, aber einzelne oder alle Zeichen werden durch ähnlich aussehende Zeichen aus einem Schriftsystem B ersetzt, zum Beispiel: HΣLLΛS oder ЯUSSLAИD. Das erweckt dann Assoziationen mit der Kultur, mit der wir die fremden Zeichen verknüpfen – und führt zu gerümpften Nasen bei Sprachsnobs, die natürlich wissen, dass man Σ nicht E, sondern S ausspricht, Λ nicht A, sondern L, Я nicht R, sondern Ya, und И nicht N, sondern I. Ich aber frage: Ist das Spiel mit den ähnlich aussehenden Zeichen verwerflich, nur weil die Lautwerte ignoriert werden? Wartet mit der Antwort, bis ihr diese koreanischen Plakate gesehen habt:

Quelle: Seoul Culturenomics

So weit ich es der Google-Übersetzung des koreanischen Blogeintrags entnehmen kann, handelt es sich um eine Imagekampagne der Stadt Seoul, die ihre Internationalität herausstreichen möchte. Eine russische Freundin und Studienkollegin, die zur Zeit zur Internationalität der Bevölkerung von Seoul beiträgt, hat die Plakatserie dort in der Metro entdeckt, auf einer Mailingliste Tübinger Computerlinguist/inn/en gepostet und für einige Diskussion gesorgt. Ich musste dieser Diskussion einige Zeit lang folgen und selbst herumrätseln, bevor ich darauf kam, was genau es mit den nicht-koreanischen Zeichen auf sich hat, die groß in der Mitte der drei Plakate prangen. Um es kurz zu machen: Das sind koreanische Sätze, nämlich 안녕하세요 (Hallo), 반갑습니다 (Schön, Sie kennenzulernen) und 고맙습니다 (Danke). (Übersetzungen von Google Translate.) Nur sind die Buchstaben des koreanischen Schriftsystems Hangul durch Zeichen aus verschiedenen anderen Schriftsystemen ersetzt. Ein Hangul-Buchstabe ist immer durch genau ein Zeichen ersetzt (zumindest auf dem roten dem blauen Plakat, bei dem gelben bin ich mir nicht sicher), und die Zeichen sind wie im Hangul zu Silbenblöcken arrangiert.

Welches Plakat welchem Kulturkreis zuzuordnen ist, ist zumindest bei dem roten und bei dem gelben klar: Das rote verwendet Zeichen aus den beiden japanischen Morenschriften Hiragana und Katakana (im Hintergrund wird das Hiragana aufgelistet) und zeigt zwei stereotype japanische Personen. Das gelbe verwendet arabische Buchstaben und zeigt drei stereotype arabische Personen. Das blaue zeigt drei stereotype westliche Personen und listet im Hintergrund das lateinische Alphabet (wobei W und V in der Reihenfolge vertauscht sind). Das „Hangul“ im Vordergrund verwendet das lateinische Alphabet jedoch möglicherweise überhaupt nicht, auch wenn alle Zeichen stark an Zeichen des lateinischen Alphabets erinnern, für Koreaner/innen vermutlich umso mehr. Die wie C, L und I aussehenden Zeichen könnten natürlich gut dem lateinischen Alphabet entstammen, ebensogut aber dem Cree-Syllabar bzw. dem Kyrillischen Alphabet, die beide ohnehin vorkommen, wie an Zeichen wie ᒣ bzw. Ы zu erkennen ist. Beides nicht unbedingt typisch „westlich“.

Hier nun die Zeichen auf den ersten beiden Plakaten nach Hangul-Silbenblock im Einzelnen:

Hangul-Silbenblock Hangul-Buchstabe Fremdes Zeichen Schrift Anmerkungen
Hiragana
Katakana
Hiragana
Hiragana
Katakana
Hiragana
Hiragana
Katakana
Katakana
Hiragana
Hiragana
Katakana
Hangul-Silbenblock Hangul-Buchstabe Fremdes Zeichen Schrift Anmerkungen
Ы Kyrillisch
Cree
Cree 1
Cree
Cree
Ы Kyrillisch
3
? 4
Ы Kyrillisch
Cree 1
І Kyrillisch 1 2
С Kyrillisch 1
Cree

1 Diese Zeichen könnten dem Aussehen nach natürlich auch dem lateinischen Alphabet entstammen, aber ich ordne sie mal so zu, dass ich möglichst wenige Alphabete/Syllabare brauche.
2 Die meisten kyrillisch geschriebenen Sprachen verwenden das Zeichen І nicht, einige aber schon, z.B. das Ukrainische.
3 Dieses umgedrehte Y wird m.W. in keinem Schriftsystem für natürliche Sprache verwendet. Der Unicode-Standard ordnet es im Block Letterlike Symbols und in der Kategorie Symbol, Math ein.
4 Das könnte natürlich auch alles Mögliche sein, ich habe mal den Halbgeviertstrich eingetragen.

Die arabischen Buchstaben kriege ich nicht ohne Hilfe identifiziert. Kompetente Zuschriften führen zu Nachtrag, Ruhm und Ehre!

Herzlichen Dank an K., A., D., Z. und A., die mich durch Entdecken, Wiederentdecken, Diskutieren und Identifizieren auf die Plakate aufmerksam gemacht und viele Informationen beigesteuert haben, die in diesen Blogeintrag eingeflossen sind. Alle Fehler sind natürlich meine eigenen. Wer sie findet, muss sie abgeben (Kommentarbereich unten, E-Mail siehe Impressum).

Folien als zeitsparender Kompromiss

Ich benutze bei Vorträgen meistens digitale Folien. Nicht, weil ich das für ein tolles Medium halte. Eher aus Bequemlichkeit: Digitale Folien erfüllen mehrere Funktionen, die andere Medien zwar besser erfüllen, dafür erfüllen diese anderen Medien jeweils nur eine Funktion. Digitale Folien sind ein zeitsparender Kompromiss. Ich glaube, das ist überhaupt das Geheimnis ihres Erfolgs. Sie ersetzen (jeweils leidlich):

  1. Das Konzeptpapier. Statt sich als ersten Schritt zu überlegen, wie man den Vortrag strukturiert, kann man auch einfach drauflostippen und -klicken und nebenbei Überschriften und Abschnitte einfügen. Der Nachteil ist hier relativ harmlos, vielleicht ist man so beim Strukturieren schon von dem Erstellen einzelner Folien abgelenkt, oder man hat vor einer ersten Fertigstellung der Gliederung schon so viel Material eingegeben, dass man die Überschriften nicht mehr auf einen Blick auf einer Bildschirmseite sieht.
  2. Das Manuskript/die Stichwortzettel. Damit ein Vortrag lebendig und gut zu folgen wird, ist es sehr wichtig, dass man frei spricht und alles, was man sagen will, im Wesentlichen im Kopf hat. Natürlich kann es Hänger geben – für solche Fälle hat man immer noch die Folien, um sich daran zu erinnern, was man als nächstes sagen wollte. Folien haben gegenüber Zettelchen in der Hand den deutlichen Nachteil, dass man in der Regel nicht die Möglichkeit hat, vorauszuschauen, was als Nächstes kommt, sondern man muss die nächste Folie für das Publikum sichtbar aufrufen, bevor man sie als Gedächtnisstütze nutzen kann. Dadurch kriegt das Publikum Hänger deutlicher mit, man macht sich ggf. Überleitungen kaputt und schlimmstenfalls rauscht man voller Elan in ein neues Thema, nur um beim Weiterschalten der Folie festzustellen, dass man mit dem vorigen noch nicht fertig ist und sich unterbrechen muss.
  3. Das Tafelbild. Gute Tafelbilder entstehen während des Vortrags, idealerweise im Austausch mit dem Publikum. Indem sie Schritt für Schritt entstehen, sind sie leichter zu verstehen. Fertige Schaubilder auf Folien lassen sich mit einiger Mühe zwar auch so vorbereiten, dass sie Schritt für Schritt aufgedeckt werden, aber das ist immer weniger flexibel und bietet kaum die Möglichkeit für spontane Ergänzungen. Dafür kann man in der Vorbereitung sicherstellen, dass, egal, was man im Vortrag für Blackouts erleidet, am Ende das richtige Tafelbild vorne prangt. Außerdem kann man sich einreden, ein fertiges Bild spare Zeit – aber wenn man es schneller präsentiert, als man es hätte malen können, geht es fürs Publikum wahrscheinlich zu schnell.
  4. Das Handout. Wenn man so viel Information auf den Folien hat, dass man sie auch ohne Vortrag lesen und grob verstehen kann, ist das zunächst einmal ungemein praktisch – man muss kein separates Handout erstellen und hat trotzdem etwas, das man zum allgemeinen Nutzen und Frommen ins Internet stellen kann. Leider ist zu viel Information auf Folien tödlich für den Vortrag; zumindest mir geht es so, dass ich Textmassen auf Folien nicht vernünftig lesen kann, wenn währenddessen jemand spricht, und niemandem vernünftig zuhören kann, während vorne Buchstaben meine Aufmerksamkeit heischen. Die absolute Todsünde ist es natürlich, von Folien abzulesen, und dazu verleiten allzu vollständige Folien leider, oder schlimmer: Sie verleiten dazu, sich an ihnen zu orientieren, aber dabei ungelenk die Formulierungen zu variieren, um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, man lese ab. Die Strategie, die ich mir über die Jahre angewöhnt habe, ist tatsächlich der Balanceakt, also so wenig Text, wie gerade noch geht, damit auch Nichtzuhörer/innen noch was mit den Folien anfangen können.