Archiv der Kategorie: Welt

Beckers Welt

Peinliche journalistische Unsitten, Folge 983: Eine etablierte Ausdrucksweise mit auskennerischer, gönnerhafter Gebärde als Sprachmarotte einer Randgruppe belächeln und damit nur die eigene horrende Kenntnislosigkeit vorführen. So geschehen schon neulich in der Zeit und diese Woche ebenda erneut. Diesmal trifft es nicht Sprachlehrerinnen und Beamte, sondern einen Banker mit Burnout:

Er betreut dort Firmenchefs, genauer: Geschäftsführer von mittelständischen Unternehmen mit mehreren Hundert Mitarbeitern. Mithilfe der Bank wollen sie Maschinen, Lastwagen, Immobilien dauerhaft mieten, statt sie zu kaufen. Leasen heißt das in Beckers Welt.

Ja, in welcher Welt denn nicht?!

Storno

– Ja, guten Tag, Reisezentrum Tübingen, Huber. Ich habe ein Problem, und zwar möchte der Kunde ein Ticket stornieren, das System lässt mich aber nicht.

(…)

– Okay, probieren Sie mal folgendes: Haben Sie das Ticket vorliegen?
– Ja.
– Dann klemmen Sie das Ticket fest zwischen Daumen und Zeigefinger beider Hände, wobei die beiden Hände dicht nebeneinander liegen sollten, oben in der Mitte des Tickets. Haben Sie das?
– Ja.
– Gut. Dann ziehen Sie jetzt kräftig die linke Hand zurück und die rechte nach vorn. Sie sollten jetzt ein ungültiges Ticket in zwei Hälften in der Hand haben. Haben Sie das?
– Ja.
– Gut, dann kann ich das Ticket jetzt von hier aus als storniert eintragen.

Denken und sprechen

Die Zeit widmet diese Woche dem Niedergang der deutschen Sprache den Aufmacher und eine Doppelseite im Feuilleton. Ulrich Greiner erkennt zum Glück richtig, dass Anglizismen, Genitiv und Konjunktiv nichts zur Sache tun, schiebt sie nach einer halben Spalte beiseite und stürzt sich auf ein sprachphilosophisches Thema, das hierzublog schon hie und da aufgetaucht ist. Seine Thesen geben mir Gelegenheit, ein paar verstreute Frechheiten in geisteswissenschaftliche Richtung abzufeuern.

Zitiert wird aus einem Artikel von Florian Coulmas, Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokyo:

„Unter Wissenschaftlern hat sich herumgesprochen, dass es sich empfiehlt, erst zu denken und dann zu sprechen. Dennoch hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass nicht wir denken, sondern die Sprache für uns.“

Ich finde, das hat Coulmas großartig gesagt. Greiner ist anderer Meinung:

In der Literatur begebe ich mich in die Sprache hinein, und ich weiß nicht, wo ich am Ende herauskomme. Das gilt für nicht wenige Felder der Geisteswissenschaften. Die Philosophie Kants, Hegels oder Heideggers wäre anders ausgefallen, hätten sie Englisch schreiben müssen.

Ja, weniger Geschwurbel und klarer herausgearbeitete wesentliche Gedanken, behaupte ich mal frech.

Natürlich nur dann, wenn der Zwang zum Schreiben in der Fremdsprache bei den drei Herren tatsächlich den Schalter umgelegt hätte von „sich mit der Sprache treiben lassen“ auf „erst denken, dann sich verständlich ausdrücken“. Aber es gibt keinen Grund das anzunehmen; Kant, Hegel und Heidegger hätten wohl auch auf Englisch zu schwurbeln gewusst. Sie hätten dann halt anders geschwurbelt – das ist ja gerade das Problem, wenn man eine Sprache für sich denken lässt. Man sollte es daher nur tun, wenn man Kunst, nicht Erkenntnis erlangen will. Greiner sieht das anders:

Wenn es also Gebiete gibt, wo die Sprache eine erkenntnisleitende Funktion besitzt (was unbestreitbar der Fall ist), (…)

Ah. Und Belege für diese unbestreitbare Tatsache kommen dann nächste Woche als Forsetzung? Das nun folgende Jürgen-Trabant-Zitat überzeugt mich nämlich noch nicht ganz:

„Es gibt wissenschaftliche Betätigungen, die nicht sprachlos Gedachtes, Gemessenes, Gewogenes und Berechnetes als wissenschaftliche Erkenntnis erzeugen, sondern die wissenschaftliche Erkenntnis in Sprache generieren. Wissenschaftliche Arbeiten in den sogenannten Geisteswissenschaften kommen nicht so zustande, dass der Forscher sich zuerst die Ergebnisse denkt und diese dann nur noch bezeichnen und verlautbaren muss. Er schafft mit der Sprache einen völlig aus Sprache bestehenden Gegenstand.“

Man kann sich das nackte Grauen vorstellen, das es für den Leser bedeutet, zu versuchen, solchen „völlig aus Sprache bestehenden“ Gegenständen einen Erkenntniswert abzutrotzen – oder den Spaß, den es bereitet, sie zu verspotten. Bei der Gesellschaft zur Stärkung der Verben haben wir dafür einen Vorgang mit dem Titel Geschwalle.

Wie es sich in Deutschland gehört

„Das große Ereignis beginnt pünktlich, wie es sich in Deutschland gehört.“ Ich habe ja gar nichts gegen Deutschland-Bashing. „Nach eineinhalb Jahren Deutschunterricht erhalten die Frauen aus den Händen des Senators je vier Urkunden in einer Hartplastikmappe. Damit ist es amtlich, wie es sich für Deutschland gehört.“ Aber schon, wenn es so uninspiriert, klischeehaft und rührselig ist, wie Christian Schüle und Özlem Topçu es in der gerade noch aktuellen Zeit betreiben. „Jedes Mal, wenn einer der Sätze auf ihren Zetteln im Lied auftaucht, sollen sie einen Schritt in den Kreis hineingehen. Am ,Hörverständnis‘ arbeiten heißt das auf Kursdeutsch.“ Ja, Hörverständnis, so heißt das. Schon mal in einem Sprachkurs gewesen? Was soll das heißen? Dass es sich um eine weltfremde akademische Angelegenheit handelt, mit der arme Migrantinnen sinnlos behelligt werden? „Mehr als sieben Jahre lang waren sie und ihre Kinder nur geduldet, also eigentlich ,ausreisepflichtig‘, wie es im Beamtendeutsch heißt.“ Muss eine dieser bizarren deutschen Besonderheiten sein, dass in fachlichen Zusammenhängen fachsprachliche Begriffe verwendet werden. Aber es kommt noch ärger: „Das System des Deutschunterrichts für Ausländer ist, typisch deutsch, systematisch: Vor B1 liegt die Eingangsstufe A1.“ Zu Hilfe, ein systematisches System! Und A1 kommt vor B1 – nur der verkrustetste Bürospießer kann da noch die Tränen des Mitleids zurückhalten angesichts eines solchen Ausmaßes an Pickelhaubenhaftigkeit.

diff für Juristen

$ diff -j ThüFischG-20060628.txt ThüFischG-20080630.txt | head -n 7
1. § 4 wird wie folgt geändert:
a) In Absatz 1 werden das Wort ", Wasserbuch," durch das Wort "oder" ersetzt und
die Worte "oder Fischereikataster" gestrichen.
b) Absatz 2 Satz 3 wird aufgehoben.
2. In § 5 Abs. 2 werden das Komma nach dem Wort "Grundbuch" und die Worte
"Wasserbuch, Fischereikataster" gestrichen.

Ob es eine solche Software bereits gibt?

(Quelle, Hintergrund)

Kinder, vertragt euch!

„Kinder, vertragt euch!“ Mit diesem Gestus wendet sich Jens Jessen in der aktuellen Zeit unter der Überschrift Das Netz gehört uns an „Digital natives“, „Digital residents“ oder „Internetenthusiasten“ auf der einen sowie „Digital immigrants“, „Digital visitors“ oder „Internetkritiker“ auf der anderen Seite. Er mag dabei nicht so recht zugeben, dass es diese beiden Lager gibt. Ich denke schon, dass es sie gibt, man sieht das doch an den politischen Konflikten, die immer häufiger zwischen ihnen auftreten, bei Themen wie Netzsperren, Leistungsschutzrecht oder Jugendmedienschutz-Staatsvertrag. Jessen jedenfalls meint, beide Seiten müssten nur ein paar falsche Vorstellungen aufgeben, dann würde man sich ganz schnell wieder vertragen.

Dabei stilisiert er uns Internet-„Einheimische“ zu dem uralten Klischee von unverbesserlichen Anarchisten, die wollen, dass im Netz überhaupt keine Gesetze gelten. Die das Netz zum – jetzt kommt der zum unerträglichen idiotischen Kampfausdruck verkommene Begriff – „rechtsfreien Raum“ erklären wollen. So lautet sein erster Appell:

Ein Minimum an Rechtsschutz, wie er sonst von Staaten seinen Bürgern garantiert wird, muss auch im Internet geboten werden. Wenn man sich darauf einigen könnte, und das heißt auch darauf, dass geistiges Eigentum nicht beliebigem Diebstahl ausgesetzt wird, wären viele Streitpunkte zwischen Einheimischen und Einwanderern beseitigt (die sich verständlicherweise um ihr Gepäck sorgen).

Wenn man sich darauf einigen könnte? Dass Gesetze auch im Netz gelten, darüber besteht längst Einigkeit. Dass irgendjemand ernsthaft die politische Forderung erheben würde, im Netz ungestört Kinderpornos gucken, zu Gewalttaten aufrufen, Verleumdungskampagnen durchführen und das Urheberrecht brechen zu dürfen, ist eine völlig absurde Vorstellung. Zum Beispiel das Urheberrecht wird stark respektiert in der digitalen Kultur, wie z.B. die Richtlinien der Wikipedia oder der De-Facto-Standard für ausdrückliches Erlauben, Creative Commons, zeigen.

Aber wir wehren uns, wenn neue Gesetze gefordert werden, die die internetbezogenen Probleme einzelner Lobbygruppen auf Staat, Gesellschaft und Internetprovider abwälzen (ACTA, Leistungsschutzrecht) oder für ein wenig hohle Symbolpolitik Freiheit und Demokratie empfindlich einschränken wollen (Netzsperren). So wie es Bürger/innen in einer Demokratie halt machen, wenn Dinge, die ihnen wichtig sind, zur Zielscheibe lobbyistischer oder populistischer Attacken werden.

Das sind nämlich die interessanten Konfliktlinien zwischen „Einheimischen“ und „Einwanderern“ des Netzes. Jessen lässt sie unerwähnt, deutet sie allenfalls an. Sein zweiter Appell:

Und zweitens, damit zusammenhängend, müsste akzeptiert werden, dass Informations- und Gedankenware höherer Qualität auch im Netz nicht umsonst zu haben sein kann. (…) Namentlich der Streit um die Dignität journalistischer Angebote im Netz würde erlöschen, wenn man neben dem Gratissektor ungeprüfter Qualität (…) auch einen honorarpflichtigen Sektor kontrollierter Nachrichtengüte etablieren könnte. Und wunderbarerweise (…) hinge ein solches Angebot ganz allein von der Zahlungsbereitschaft der heute noch missvergnügten Internetkritiker ab.

Dieser Schwadronade kann ich nicht folgen. Mangelnde Zahlungsbereitschaft bei den Internetkritikern ist wohl kaum das Problem, sondern die bisherige Unfähigkeit der Medien, Angebote zu schaffen, die Internetznutzer/innen Geld wert sind. Eine Frage von Angebot und Nachfrage, die erst da zum politischen Streitpunkt wird, wo Medienvertreter unverhältnismäßige politische Maßnahmen zur Sicherung ihrer Pfründe fordern (Leistungsschutzrecht).

Indem er die wesentlichen Konflikte unter den Tisch fallen lässt, schafft Jessen es, so zu tun, als gäbe es nur ein paar Dickschädel, die zur Einsicht kommen müssten, und zwar bei „Einheimischen“ wie „Einwanderern“ gleichermaßen. Ich halte dagegen: Wir „Einheimischen“ haben unsere Hausaufgaben gemacht. Wir wollen gerade keine regellose Netzparallelgesellschaft, sondern fordern die Einhaltung demokratischer Grundwerte in der digitalen wie in der analogen Welt. Es ist das Lager der „Einwanderer“, aus dem immer wieder netzbezogener Lobbyismus, Populismus und Maßlosigkeiten kommen, die, wenn man sie nicht verhindert, einzelnen kurzfristig nützen und langfristig allen schaden.

Microblogging

Ein wiederkehrendes Thema in meinem Geistesleben ist die universelle Ausdrucksmächtigkeit der Sprache unabhängig von formalen Bedingungen.

Dazu zählt die von mir ziemlich stark verinnerlichte radikale Gegenthese zur Sapir-Whorf-Hypothese. Sie (also die Gegenthese) besagt, dass alle Inhalte, die in menschlicher Sprache ausgedrückt werden können, in jeder menschlichen Sprache ausgedrückt werden können, und zwar – modulo eventueller Erweiterung um das jeweilige Fachvokabular – gleich gut, gleich elegant, gleich verständlich, gleich schön etc. Eine Sprache zu entwickeln zähle zu den biologischen Eigenschaften des homo sapiens, keine Sprache sei für eine bestimmte Kultur „gemacht“, Wechselwirkungen zwischen Sprache und Kultur seien natürlich vorhanden, aber schwach, oberflächlich und von keiner Bedeutung für die Ausdrucksmächtigkeit der Sprache.

Unausgesprochene Grundannahme so einer These ist, dass sprachliche Äußerungen so etwas wie einen „Inhalt“ haben, der von der „Form“ isoliert werden könne. Diese Isolierung philosophisch oder gar formal-linguistisch präzise zu fassen ist ein hoch komplexes, odysseskes, wenn nicht sogar quijotäres Unterfangen, aber eine intuitive Vorstellung von so einer Trennung zwischen Form und Inhalt haben wohl die meisten Menschen.

Neben der Frage, ob alle natürlichen Sprachen (und Dialekte) gleich ausdrucksmächtig sind, kann man sich die Frage stellen, welche literarischen Varietäten einer Sprache für eine Autorin und ihre Leserinnen die gleichen Funktionen erfüllen können, spezifischer: unter welchen formalen Beschränkungen ein Text bestimmte Funktionen noch genau so gut erfüllen kann wie ohne sie. Formale Beschränkungen gibt es zuhauf: Textlänge, verständliches Schreiben, Schreiben in einem bestimmten Stil, Schreiben nur im Präsens, Unzulässigkeit des Anpassens von Flexionsendungen in Zitaten an den eigenen syntaktischen Kontext, Text muss genau sechs Wörter haben, Text muss in Palindromform sein, Text muss ein gültiges Perl-Programm und überdies ein Quine sein, Text darf kein E enthalten… man könnte sich hinstellen und sagen: So verrückten Beschränkungen ein Text auch unterworfen sein mag, eine gut genuge Autorin wird auf anderen Ebenen so geschickt sein, dass sie inhaltlich genau dasselbe rüberbringen kann wie ohne sie. In der Literatur als Kunstform, die vom Wechselspiel, der Untrennbarkeit von Form und Inhalt besonders stark lebt, natürlich eine verwegene Behauptung.

Aber Leute haben es ausprobiert, haben experimentiert, haben Literatenzirkel zum Erfinden neuer formaler Beschränkungen und Verfassen von Literatur darunter gegründet (Oulipo). Georges Perec hat auf Französisch einen Mystery-Roman ohne ein einziges E geschrieben. Dass dessen Hauptperson nicht Grégoire Clément heißt, kann man sich denken. Abgesehen von solchen Oberflächlichkeiten fragt sich die Leserin: Wie viel von der Handlung, von der Ausgestaltung ist ein Zugeständnis an die E-Beschränkung? Hätte Perec in groben Zügen denselben Roman geschrieben ohne die Beschränkung?

Abgesehen von metaliterarischen Wonnen haben formale Beschränkungen den Vorteil, dass der Autorin Entscheidungen abgenommen werden und sie sich auf das Wesentliche konzentrieren kann. Auf den Inhalt. Auf die Originalität. Auf die Schönheit. Im Korsett einer formalen Beschränkung kommen Autorin und Leserin dem Gefühl viel leichter viel näher, dass alles Menschenmögliche getan wurde, um einen Text so gut wie möglich zu machen.

Wie zum Beispiel die berühmteste formale Beschränkung des letzten Jahres: Nur 140 Zeichen pro Text. Der Text wird dann Tweet genannt, das Verfassen und Veröffentlichen solcher Texte im Internet twittern oder microbloggen. Die Website Twitter macht so gut wie nichts anderes, als ihren Benutzerinnen das Veröffentlichen von bis zu 140 Zeichen langen Texten zu ermöglichen und miteinander in ein gerichtetes soziales Netzwerk einzutreten, das bestimmt, wem wessen Tweets gezeigt werden. Mit diesem ultrasimplen System ist das Microbloggen in kurzer Zeit waaahnsinnig beliebt geworden.

Ich kann das mittlerweile gut verstehen. Freilich, eine klassischer Bloggerin darf beim Schreiben ganz frei entscheiden, wann sie aufhört. Aber sie muss es eben auch. Sie muss inhaltlichen Umfang, Textdichte und ihren Wunsch, eine bestimmte Anzahl von Leserinnen bis zum Ende durchhalten zu lassen, austarieren. Bei Twitter dagegen gibt es einen Zeichenzähler, der eine realistische Normleserinaufmerksamkeitsspanne simuliert. Wenn er rot und negativ wird, ist das eine klare Ansage: Jetzt ist Kürzen angesagt und ggf. Auslagerung des nächsten Gedankens in einen eigenen Tweet.

Es ist auch eine große Wohltat, dass Twitter technisch minimalistisch ist und einen nicht mit allen möglichen Zusatzfunktionen zuballert wie ein klassisches Blogsystem. Wer Zusatzfunktionen will, muss ein ganz klein wenig zur Programmiererin werden. Die Twittergemeinde schafft sich ihre Werkzeuge selbst, hier kann man Kulturevolution im Fruchtfliegentempo beobachten. Tweets kategorisieren? #Raute vor ein Wort im Text. Benutzerin verlinken? @ vor den Namen. Lange Sätze posten? Abk. verw., notf. exz. Link mit langem URL posten? Bemühe einen Adresskürzdienst. Die Adresskürzdienste, deren einzige Daseinsberechtigung ursprünglich so weit ich weiß in den Unzulänglichkeiten bestimmter E-Mail-Programme bestand, haben durch Twitter eine Blütezeit sondergleichen erfahren. Jede bessere Website rollt ihren eigenen, ich persönlich mag aber u.nu am liebsten, weil der die URLs wirklich so kurz wie technisch möglich macht, das auf wunderbar bogus-informationstheoretische Weise erklärt und einmal klanglich sehr gut zu einem meiner Tweets passte. Natürlich wandern auch andere technische Krücken sofort in das literarische Gerätearsenal, so werden Hashtags längst nicht mehr nur zur Kategorisierung verwendet, sondern auch, um nachgeschickte Einwortkommentare formal dem Genre entsprechen zu lassen, es vielleicht zu parodieren.

Gelegentlich weiß ich auch das Opulente zu schätzen, aber insgesamt bin ich ein großer Freund der reduzierten Form, das heißt in der Literatur der kurzen Form. Zugespitzt: Ja zu Gedichten, Szenen, Kurzgeschichten und Aphorismen, nein zu Gesängen, Dramen, Romanen und Essays. Dieser Appeal des Kurzen hat auch seine problematischen Seiten. Es liegt in meinem Wesen, alles zergliedern zu wollen, die Dinge einzeln abzuspeichern wie Schmetterlinge hinter Glas, zu atomisieren. Mit dem Erkennen und Spannen großer Bögen tu ich mich schwer.

Twitteratur kommt meinen so hübschen wie zweifelhaften Vorlieben daher entgegen. Gab es das eigentlich vor Twitter, dass etwas unter 141 Zeichen als eigenständiger literarischer Text gelten konnte? Es wurde versucht, aber meines Wissens nie die perfekte Form dafür gefunden. So etwas wie einen Aphorismus, ein Wortspiel (in Form eines Minimalbeispielsatzes) oder ein Ultrakurzgedicht auf eine Buchseite zu packen und sie ansonsten weiß zu lassen, wirkt prätenziös. Aphorismensammlungen wirken staubig und stickig. Listen finde ich okay, aber erst ab einer gewissen Länge, die Sofortveröffentlichung jeder neuen Schöpfung ausschließt. Blogeinträge leiden darunter, eine Überschrift haben zu wollen, die dann in den meisten Blogdesigns mehr Bildschirmfläche bedeckt als der Text – und überhaupt, bei Kurztexten wirken Überschriften eher störend, sie müssen unter Verrenkungen dazuerfunden werden.

Twitter hat das Layoutproblem gut gelöst; der jeweils neueste Tweet auf einer Mitgliedsseite erscheint in großer Serifenschrift, der Rest in normalgroßer serifenlosen. Entscheidend finde ich, wie Twitter als Literaturplattform das Prätenziositätsproblem löst: dadurch, dass es nicht nur eine Literaturplattform ist, sondern vor allem eine Kommunikations- (banale Statusmeldungen) und Nachrichtenverteilungsplattform (Schlagzeile + Link). Die Grenze zwischen banalen Tweets und denen, denen ich literarischen Wert würde zusprechen wollen, ist fließend. Die Technik macht auch da keinen Unterschied: Jeder Tweet kriegt seinen URL und seine Zeitleistenposition. Die ideale Mischung aus Normalität und Präsentierteller. Die Perlen glitzern zwischen den Kieselsteinen und das Glitzern liegt im Auge des Betrachters.

Sick of Sickbashing

Dass Sprachblogger Anatol Stefanowitsch in seinem neuesten Beitrag mehrere Aussagen von Bastian Sick zitiert und ihnen ohne jede Kritik zustimmt, Sick aber trotzdem in eine Reihe mit den Sprachnörglern vom „Verein Deutsche Sprache“ stellt und ihn sogar als „Chefnörgler“ bezeichnet, als wäre das eine allgemein ausgemachte Tatsache, bringt bei mir ein Fass zum Überlaufen. Ich habe Sicks Kolumnen zur deutschen Sprache oft als langweilig, gekünstelt und uninformiert empfunden, jedoch nie als wertend oder gar präskriptiv. Meine Geduld mit der immer aufs Neue wiederholten und nie begründeten Abstempelung Sicks als Nörgler, Pedant, Schulmeister, Sprachbremse (Tippfehler bemerkt und stehengelassen) und Feind kreativen Sprachgebrauchs geht daher allmählich zu Ende.

Das Sick’sche Frühwerk ging aus seiner Tätigkeit als Korrektor bei Spiegel Online hervor. Gewisse Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler sowie sprachliche und stilistische Unsauberkeiten kamen bei den Redakteuren dort wohl häufiger vor, sodass Sick begann, Memos zu solchen Fehlerquellen zu verschicken. Niemand wird bestreiten wollen, dass es für ein Presseerzeugnis normal und zu begrüßen ist, dass eine „kontrollierte Sprache“ gepflegt wird, die leicht zu verstehen ist, mit Innovation geizt und sich ganz bestimmten stilistischen und grammatischen Konventionen unterwirft. Sicks Unterfangen war also dankenswert und seine Memos glänzten wohl durch zwei besondere Qualitäten: Erstens stellte er vorhandene sprachliche Normen und sprachgeschichtliche Zusammenhänge leicht verständlich dar, zweitens tat er das auf humorvolle, kreative, formenreiche Weise. Auf diese Weise ließen sich die Spiegel-Online-Mitarbeiter wohl so gern korrigieren, dass die Memos in Form der Kolumne Zwiebelfisch irgendwann das Licht der Öffentlichkeit erblickten.

Als Zwiebelfisch-Leser früher Stunden und mittlerweile studierter Linguist verstehe ich überhaupt nicht, wie Stefanowitsch und viele andere Stimmen, die ich so höre, zu der Einschätzung kommen, Sick sei ein Pedant und Verfechter unbedingt regelkonformen Sprachgebrauchs. Er verfasst ja keine Regelwerke wie Wolf Schneider oder erzürnte Pressemitteilungen wie der VDS, sondern Kolumnen, humorvolle und oft vor Ironie strotzende Kurztexte, die sich Fragen des Sprachgebrauchs von verschiedenen Seiten annehmen. Er klamüsert Zweifelsfälle auseinander, erklärt, was verwirrt und was Sprachkritiker stört und gibt sicherlich pointierte, aber selten unqualifiziert schulmeisterliche Empfehlungen ab. Wenn wirklich einmal abgehobene und alltagsuntaugliche Klugscheißerei den Inhalt einer Kolumne bestreiten soll, übernimmt die Figur „mein Freund Henry“, der in mehreren Kolumnen auftritt, diesen Part. Der Zwiebelfisch ist keine Doktrin, er ist Infotainment.

Dessen Qualität im Laufe der Jahre deutlich abgenommen hat, das muss man natürlich sagen. Dass Sick es nicht geschafft hat, den Witz und die thematische Relevanz seiner frühen Memos in einer regelmäßigen Kolumne zu bewahren, ist keine Schande. Schon etwas schändlicher ist es, dass er trotzdem nicht aufgehört hat und seinen ursprünglich unerwarteten kommerziellen Erfolg wohl auf Teufel komm raus möglichst vollständig ausschlachten will. So entstanden Privatfernsehmonstrositäten wie die „größte Deutschstunde der Welt“, Bühnenauftritte ohne Bühnentalent, Buchveröffentlichungen mit stetig nachlassender Qualität, gekünstelte Witzigkeit und verstohlener Ideenklau. Man vergleiche z.B. zwei Zwiebelfische zum Thema starke und schwache Verben, Die Sauna ist angeschalten von 2005 und Heute schon gekrischen? von 2008. Dasselbe Thema, in beiden Fällen zahlreiche gestorkene Verben von der Website der Gesellschaft zur Stärkung der Verben übernommen, nur in dem einen Fall mit Quellenangabe und in dem anderen Fall ohne, worüber wir uns erbosten. Zusätzlich ist der frühe Artikel informativ und man lernt was, im späten wird nur rumgeclownt und hingerotzt.

Sick ist also ein Fall für den freundschaftlichen Rat, es gut sein zu lassen, den Setzkasten zuzuklappen und sich journalistisch oder literarisch verdienstvolleren Tätigkeiten zuzuwenden als dem Fortschreiben einer überlebten Kolumne. Wer indes für einen vernunftgeleiteten Diskurs über Sprache in der Öffentlichkeit eintreten will, hat wenig Grund, ausgerechnet Sick zu bashen. Für die böse Fratze des Sprachnörglers bzw. den Heiligenschein des Sprachretters ist er lediglich Projektionsfläche.