Archiv des Autors: Kilian Evang

Was bedeutet „sowie“?

Im Katalog zur Ausstellung Slave City (sehr zu empfehlen) reißt Michael Zeuske kurz die Weltgeschichte der Sklaverei ab und verwendet dazu u.a. einen bemerkenswerten Satz:

Allerdings wurden Männer sowie Frauen und Kinder strikt voneinander getrennt.

Das Weltwissen sagt einem, was gemeint ist: Frauen und Kinder wurden zusammen untergebracht, Männer getrennt davon. Allerdings stört mich etwas an der Formulierung: ⟦voneinander⟧ scheint mir ein Operator zu sein, der ein geordnetes Paar von Mengen als Argument nimmt. In diesem Fall müsste das eigentlich das Paar 〈⟦Männer⟧, ⟦Frauen⟧∪⟦Kinder⟧〉 sein. Meinem Sprachgefühl nach kann ein Paar 〈⟦a⟧, ⟦b⟧〉aber syntaktisch nicht als a sowie b realisiert werden, sondern nur als a und b. Anders gesagt, sowie kriege ich nur als ∪ interpretiert, und dagegen je nach Kontext auch als paarbildenden Operator. Danach hieße der Satz oben: Männer und Frauen wurden zusammen untergebracht, Kinder getrennt davon. Oder aber, dass alle [Sklaven] voneinander getrennt wurden. Das ist sachlich unwahrscheinlich.

Was soll ich denn machen, verteidigt sich jetzt der Autor, Männer und Frauen und Kinder ist erst recht ambig und Männer und Frauen sowie Kinder geht nicht, weil und immer stärker bindet als sowie. Dann wären wir wieder bei der nicht intendierten Lesart.

Ach ja? Wo steht das geschrieben, dass und eine höhere Operatorpräzedenz hat als sowie? Mein Sprachgefühl gibt das irgendwie nicht her. Als mein Deutschlehrer beim Diktieren eines prüfungsrelevanten Sachverhalts einmal eine abenteuerliche undsowie-Koppelung bemühte und ich aufzeigte, um Desambiguierung zu heischen, stellte dieser sonst von mir sehr verehrte Mensch mich als einen hin, der eine Ambiguität auflösende Nuance des Ausdrucks nicht erkannt hatte. Empörend, hatte ich doch als einziger alle möglichen Bedeutungsnuancen erkannt und gerade die immer noch bestehende Uneindeutigkeit, die Unzulänglichkeit aller Zeichen, die Hohlheit der Sprache… ich steiger mich da gerade in was rein. Ein linguistisch fundierter Schluß entfällt.

Ist „Milf“ etwa ein deiktischer Ausdruck?

Ist Zsá Zsá Inci Bürkles Mutter etwa eine Milf?, fragt sich Max Goldt und bemerkt:

Ich werde das Wort „Milf“, welches akronymischen Charakters ist, hier übrigens nicht genauer erläutern. Dazu bin ich mir zu fein. (…) Am besten, man hat das Wort noch nie gehört. Sagt man nämlich auf einer Party, jedenfalls auf einer soliden Party zu einer Dame: „Sie sind die tollste Milf des ganzen Viertels!“, wird man mit einer klassischen Ohrfeige (…) zu rechnen haben. (…) Übrigens könnte keine Frau, auch die mopsfidelste nicht, von sich selber behaupten, sie wäre eine Milf. Milf und Filf kann man nur in den Augen anderer sein, (…)

Das meint er wohl deswegen, weil mother I’d love to fuck ein I enthält. I (ich) ist ein sogenannter deiktischer Ausdruck. Andere deiktische Ausdrücke sind z.B. du, der da, hier, jetzt. Ihre Bedeutung hängt von der Sprechsituation ab – davon, wo, wann, mit welchen zeigenden Gesten und – in diesem Fall vor allem – von wem sie geäußert werden.

Auf wen sich mother I’d love to fuck beziehen kann, hängt daher auch davon ab, wer diesen Ausdruck benutzt. Denn es möchte ja nicht ein jeder mit denselben Müttern dem Geschlechtlichen frönen: „She’s a mother I’d love to fuck“ – „Well, she’s not a mother I’d love to fuck.“

Ein deiktisches Element – hier ein Personalpronomen – zu enthalten, ist für feststehende Wendungen, wie mother I’d love to fuck eine geworden ist, höchst ungewöhnlich. Mit der Etablierung als Wendung einher ging das häufige Auftreten als Akronym (MILF) und die Wortwerdung: Milf. Die linguistisch interessante Frage ist, inwieweit bei diesem Prozess der deiktische Charakter des Ausdrucks tatsächlich erhalten bleibt.

„She’s a milf.“ – „Well, she’s not a milf.“ In dieser Unterhaltung ist das Wort milf tatsächlich deiktisch, aber sie wirkt nicht gerade natürlich. Sie ist ein Sprachspiel. Und nach dem, was ich über Sprache weiß und intuiere, sind das alle Diskurse, in denen milf deiktisch verwendet wird. Es ist mehr ein Witz als ein Wort, ein Insider für die, die wissen, was sich Ungehöriges hinter der hübschen Silbe verbirgt. Die Schöpfung des Wortes mylf ist eine weitere Runde in diesem Spiel.

Wo milf außerhalb von Sprachspielen benutzt wird, als ganz normales Wort, hat es eine nichtdeiktische Bedeutung angenommen. Wie Max Goldt selbst schreibt, bezieht es sich schlicht auf „attraktive Frauen im Mütteralter“, unabhängig davon, wer es benutzt. So könnte sich durchaus eine Frau selbst als Milf bezeichnen, selbst dann, wenn man von autoerotischen Fantasien als Erklärung absieht.

Während in jeder lebenden Sprache täglich neue Inhaltswörter (Substantive, Verben, Adjektive, Adverbien bzw. entsprechend) geschaffen werden und manche dieser Neologismen sich bald allgemeiner Verwendung erfreuen, ist es so gut wie unmöglich, neue Funktionswörter (Konjunktionen, Präpositionen, Pronomen…) zu etablieren. Ähnliches gilt wohl auch für deiktische Wörter. Ich finde, diese Erkenntnis ist ein interessanter Ausschnitt aus dem Bild „Wie Sprache funktioniert“.

diff für Juristen

$ diff -j ThüFischG-20060628.txt ThüFischG-20080630.txt | head -n 7
1. § 4 wird wie folgt geändert:
a) In Absatz 1 werden das Wort ", Wasserbuch," durch das Wort "oder" ersetzt und
die Worte "oder Fischereikataster" gestrichen.
b) Absatz 2 Satz 3 wird aufgehoben.
2. In § 5 Abs. 2 werden das Komma nach dem Wort "Grundbuch" und die Worte
"Wasserbuch, Fischereikataster" gestrichen.

Ob es eine solche Software bereits gibt?

(Quelle, Hintergrund)

Kinder, vertragt euch!

„Kinder, vertragt euch!“ Mit diesem Gestus wendet sich Jens Jessen in der aktuellen Zeit unter der Überschrift Das Netz gehört uns an „Digital natives“, „Digital residents“ oder „Internetenthusiasten“ auf der einen sowie „Digital immigrants“, „Digital visitors“ oder „Internetkritiker“ auf der anderen Seite. Er mag dabei nicht so recht zugeben, dass es diese beiden Lager gibt. Ich denke schon, dass es sie gibt, man sieht das doch an den politischen Konflikten, die immer häufiger zwischen ihnen auftreten, bei Themen wie Netzsperren, Leistungsschutzrecht oder Jugendmedienschutz-Staatsvertrag. Jessen jedenfalls meint, beide Seiten müssten nur ein paar falsche Vorstellungen aufgeben, dann würde man sich ganz schnell wieder vertragen.

Dabei stilisiert er uns Internet-„Einheimische“ zu dem uralten Klischee von unverbesserlichen Anarchisten, die wollen, dass im Netz überhaupt keine Gesetze gelten. Die das Netz zum – jetzt kommt der zum unerträglichen idiotischen Kampfausdruck verkommene Begriff – „rechtsfreien Raum“ erklären wollen. So lautet sein erster Appell:

Ein Minimum an Rechtsschutz, wie er sonst von Staaten seinen Bürgern garantiert wird, muss auch im Internet geboten werden. Wenn man sich darauf einigen könnte, und das heißt auch darauf, dass geistiges Eigentum nicht beliebigem Diebstahl ausgesetzt wird, wären viele Streitpunkte zwischen Einheimischen und Einwanderern beseitigt (die sich verständlicherweise um ihr Gepäck sorgen).

Wenn man sich darauf einigen könnte? Dass Gesetze auch im Netz gelten, darüber besteht längst Einigkeit. Dass irgendjemand ernsthaft die politische Forderung erheben würde, im Netz ungestört Kinderpornos gucken, zu Gewalttaten aufrufen, Verleumdungskampagnen durchführen und das Urheberrecht brechen zu dürfen, ist eine völlig absurde Vorstellung. Zum Beispiel das Urheberrecht wird stark respektiert in der digitalen Kultur, wie z.B. die Richtlinien der Wikipedia oder der De-Facto-Standard für ausdrückliches Erlauben, Creative Commons, zeigen.

Aber wir wehren uns, wenn neue Gesetze gefordert werden, die die internetbezogenen Probleme einzelner Lobbygruppen auf Staat, Gesellschaft und Internetprovider abwälzen (ACTA, Leistungsschutzrecht) oder für ein wenig hohle Symbolpolitik Freiheit und Demokratie empfindlich einschränken wollen (Netzsperren). So wie es Bürger/innen in einer Demokratie halt machen, wenn Dinge, die ihnen wichtig sind, zur Zielscheibe lobbyistischer oder populistischer Attacken werden.

Das sind nämlich die interessanten Konfliktlinien zwischen „Einheimischen“ und „Einwanderern“ des Netzes. Jessen lässt sie unerwähnt, deutet sie allenfalls an. Sein zweiter Appell:

Und zweitens, damit zusammenhängend, müsste akzeptiert werden, dass Informations- und Gedankenware höherer Qualität auch im Netz nicht umsonst zu haben sein kann. (…) Namentlich der Streit um die Dignität journalistischer Angebote im Netz würde erlöschen, wenn man neben dem Gratissektor ungeprüfter Qualität (…) auch einen honorarpflichtigen Sektor kontrollierter Nachrichtengüte etablieren könnte. Und wunderbarerweise (…) hinge ein solches Angebot ganz allein von der Zahlungsbereitschaft der heute noch missvergnügten Internetkritiker ab.

Dieser Schwadronade kann ich nicht folgen. Mangelnde Zahlungsbereitschaft bei den Internetkritikern ist wohl kaum das Problem, sondern die bisherige Unfähigkeit der Medien, Angebote zu schaffen, die Internetznutzer/innen Geld wert sind. Eine Frage von Angebot und Nachfrage, die erst da zum politischen Streitpunkt wird, wo Medienvertreter unverhältnismäßige politische Maßnahmen zur Sicherung ihrer Pfründe fordern (Leistungsschutzrecht).

Indem er die wesentlichen Konflikte unter den Tisch fallen lässt, schafft Jessen es, so zu tun, als gäbe es nur ein paar Dickschädel, die zur Einsicht kommen müssten, und zwar bei „Einheimischen“ wie „Einwanderern“ gleichermaßen. Ich halte dagegen: Wir „Einheimischen“ haben unsere Hausaufgaben gemacht. Wir wollen gerade keine regellose Netzparallelgesellschaft, sondern fordern die Einhaltung demokratischer Grundwerte in der digitalen wie in der analogen Welt. Es ist das Lager der „Einwanderer“, aus dem immer wieder netzbezogener Lobbyismus, Populismus und Maßlosigkeiten kommen, die, wenn man sie nicht verhindert, einzelnen kurzfristig nützen und langfristig allen schaden.

Prokrastination und Gewissen

Text von 2004

Eine unangenehme Pflicht steht an, die ich nun wirklich endlich erledigen sollte. Keinste Lust und äußerstes Grausen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich diese Pflicht vor mir herschiebe. Aber es ist noch nicht so schlecht, als dass es gegen meinen inneren Schweinehund ankäme. Nur durch noch längeres Aufschieben wird mein Gewissen schlecht genug werden, um mich endlich zum Erledigen zu zwingen. Es ist daher dringend erforderlich, dass ich die Pflicht heute noch nicht erledige. Diese Erkenntnis beruhigt mein Gewissen ungemein.

Lieblingswörter (5)

Was bisher geschah: Schöne WörterLieblingswörterLieblingswörter (2)Lieblingswörter (3), Lieblingswörter (4).

Das Wort Gestaltungswille kommt mir immer in den Sinn, wenn ich so etwas sehe wie den Verkehrserziehungstruck, der vor der Tübinger Landespolizeidirektion steht. Darauf steht „GIB ACHT IM VERKEHR“. Das Wort „ACHT“ ist ohne erkennbaren Grund rot hervorgehoben und auf der Seite des Trucks durch ein Zebra ersetzt. Vorne steht der Satz etwa fünfmal in verschiedenen Farben und Größen, die Versionen überlagern sich. Das ganze Design ist ohne jegliche Harmonie und ohne jeglichen Sinn, aber eben mit viel Gestaltungswillen angegangen worden.

Weiß nicht, was ich lieber mag: Geniestreiche oder das Wort Geniestreich. Auch eins dieser Wörter, die schön sind, weil sie (für mich) eine sehr spezielle Bedeutung haben. In diesem Fall: Die Klasse der Aktionen, die mit geringem Aufwand große Verblüffung schaffen. Weil man erst mal drauf kommen muss.

Chaot ist ein schönes Wort, weil’s wie eine Berufsbezeichnung von Chaos abgeleitet ist und somit suggeriert, dass ein Chaot ein Meister und Beherrscher des Chaos ist, ein Chaostechniker, ein Chaosarbeiter. Einer, der für das Chaos zuständig und verantwortlich ist und es gewissenhaft instand hält.

Einfach lustig sind die Wörter vergraulen und ogottogottogott. Und das englische yeah. Ich meine jetzt nicht das yeah, das ja bedeutet, sondern das yeah, das unter gar keinen Umständen oder hör sofort damit auf bedeutet, wie in „Yeah, that’s not helping“, „Yeah, this is awkward“ oder „Yeah, you keep telling yourself that.“ Wo wir gerade bei Englisch sind, ich wusste bis vor Kurzem gar nicht, dass es ein Verb zu intuition gibt. Gibt es aber: intuit. „Whorf intuited that the Inuit must have many words for snow.“ Es gehört zu jener verschrobenen Klasse von Verben, deren Grundform dem Perfektpartizip des lateinischen Originals mehr ähnelt als dessen Infinitv (intueri).

Wenn man mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen ist und das englische Wort hilarious kennt, wirkt die Tatsache, dass es im Niederländischen das Wort hilarisch gibt, nun ja, wahnsinnig komisch. Es ist irgendwie nicht die Endung, die man erwartet hätte.

Zu meinem letzten Lieblingswort für heute gibt es eine Geschichte. Ich war mal Teil einer Zweier-WG in einer Kellerwohnung. Die Zimmer waren hübsch hergerichtet und hatten auch normalgroße Fenster, da das Haus in einen steilen Berg hineingebaut war. Aber die untapezierten Wände im Flur und die Rohre und das Gewölbe auf der Nachtseite der Wohnung machten doch sehr klar, dass es ein Keller war. Das war sehr cool, auch wegen des wilden Gartens und des Holzschuppens und der Katze und der Gasöfen und der großartigen Feiern, die L. und ich dort veranstalteten.

M., mein rumänischer Mitbewohner, war eines Tages ausgezogen, und L. zog ein, zufällig auch Rumänin. Bei der Übergabe des Zimmers redete M. fünf Minuten lang sehr heiter auf Rumänisch auf L. ein und gebrauchte dabei ungefähr fünftausendmal akzentuiert das Wort pivniţa. Als ich fragte, was das Wort  bedeute, und die Antwort Keller war, wusste ich sofort, welche Geschichte M. gerade erzählt hatte, denn ich hatte sie schon einmal auf Deutsch gehört. Ein Mann von den Stadtwerken o.Ä. hatte mal zu ihm gewollt und erst den Eingang nicht gefunden, dann überrascht gesagt: „Ach so, Sie wohnen im Keller!“ Das hatte M. völlig entgeistert, dass jemand auf die absurde Idee kommen konnte, unsere Kellerwohnung wäre im Keller. Also bitte, wir wohnten doch nicht im Keller! Die Wohnung hatte damit ihren Namen weg, und er ist mir in den schönen acht Monaten, die ich noch in der Pivniţa verbringen durfte, denn auch sehr ans Herz gewachsen.

Microblogging

Ein wiederkehrendes Thema in meinem Geistesleben ist die universelle Ausdrucksmächtigkeit der Sprache unabhängig von formalen Bedingungen.

Dazu zählt die von mir ziemlich stark verinnerlichte radikale Gegenthese zur Sapir-Whorf-Hypothese. Sie (also die Gegenthese) besagt, dass alle Inhalte, die in menschlicher Sprache ausgedrückt werden können, in jeder menschlichen Sprache ausgedrückt werden können, und zwar – modulo eventueller Erweiterung um das jeweilige Fachvokabular – gleich gut, gleich elegant, gleich verständlich, gleich schön etc. Eine Sprache zu entwickeln zähle zu den biologischen Eigenschaften des homo sapiens, keine Sprache sei für eine bestimmte Kultur „gemacht“, Wechselwirkungen zwischen Sprache und Kultur seien natürlich vorhanden, aber schwach, oberflächlich und von keiner Bedeutung für die Ausdrucksmächtigkeit der Sprache.

Unausgesprochene Grundannahme so einer These ist, dass sprachliche Äußerungen so etwas wie einen „Inhalt“ haben, der von der „Form“ isoliert werden könne. Diese Isolierung philosophisch oder gar formal-linguistisch präzise zu fassen ist ein hoch komplexes, odysseskes, wenn nicht sogar quijotäres Unterfangen, aber eine intuitive Vorstellung von so einer Trennung zwischen Form und Inhalt haben wohl die meisten Menschen.

Neben der Frage, ob alle natürlichen Sprachen (und Dialekte) gleich ausdrucksmächtig sind, kann man sich die Frage stellen, welche literarischen Varietäten einer Sprache für eine Autorin und ihre Leserinnen die gleichen Funktionen erfüllen können, spezifischer: unter welchen formalen Beschränkungen ein Text bestimmte Funktionen noch genau so gut erfüllen kann wie ohne sie. Formale Beschränkungen gibt es zuhauf: Textlänge, verständliches Schreiben, Schreiben in einem bestimmten Stil, Schreiben nur im Präsens, Unzulässigkeit des Anpassens von Flexionsendungen in Zitaten an den eigenen syntaktischen Kontext, Text muss genau sechs Wörter haben, Text muss in Palindromform sein, Text muss ein gültiges Perl-Programm und überdies ein Quine sein, Text darf kein E enthalten… man könnte sich hinstellen und sagen: So verrückten Beschränkungen ein Text auch unterworfen sein mag, eine gut genuge Autorin wird auf anderen Ebenen so geschickt sein, dass sie inhaltlich genau dasselbe rüberbringen kann wie ohne sie. In der Literatur als Kunstform, die vom Wechselspiel, der Untrennbarkeit von Form und Inhalt besonders stark lebt, natürlich eine verwegene Behauptung.

Aber Leute haben es ausprobiert, haben experimentiert, haben Literatenzirkel zum Erfinden neuer formaler Beschränkungen und Verfassen von Literatur darunter gegründet (Oulipo). Georges Perec hat auf Französisch einen Mystery-Roman ohne ein einziges E geschrieben. Dass dessen Hauptperson nicht Grégoire Clément heißt, kann man sich denken. Abgesehen von solchen Oberflächlichkeiten fragt sich die Leserin: Wie viel von der Handlung, von der Ausgestaltung ist ein Zugeständnis an die E-Beschränkung? Hätte Perec in groben Zügen denselben Roman geschrieben ohne die Beschränkung?

Abgesehen von metaliterarischen Wonnen haben formale Beschränkungen den Vorteil, dass der Autorin Entscheidungen abgenommen werden und sie sich auf das Wesentliche konzentrieren kann. Auf den Inhalt. Auf die Originalität. Auf die Schönheit. Im Korsett einer formalen Beschränkung kommen Autorin und Leserin dem Gefühl viel leichter viel näher, dass alles Menschenmögliche getan wurde, um einen Text so gut wie möglich zu machen.

Wie zum Beispiel die berühmteste formale Beschränkung des letzten Jahres: Nur 140 Zeichen pro Text. Der Text wird dann Tweet genannt, das Verfassen und Veröffentlichen solcher Texte im Internet twittern oder microbloggen. Die Website Twitter macht so gut wie nichts anderes, als ihren Benutzerinnen das Veröffentlichen von bis zu 140 Zeichen langen Texten zu ermöglichen und miteinander in ein gerichtetes soziales Netzwerk einzutreten, das bestimmt, wem wessen Tweets gezeigt werden. Mit diesem ultrasimplen System ist das Microbloggen in kurzer Zeit waaahnsinnig beliebt geworden.

Ich kann das mittlerweile gut verstehen. Freilich, eine klassischer Bloggerin darf beim Schreiben ganz frei entscheiden, wann sie aufhört. Aber sie muss es eben auch. Sie muss inhaltlichen Umfang, Textdichte und ihren Wunsch, eine bestimmte Anzahl von Leserinnen bis zum Ende durchhalten zu lassen, austarieren. Bei Twitter dagegen gibt es einen Zeichenzähler, der eine realistische Normleserinaufmerksamkeitsspanne simuliert. Wenn er rot und negativ wird, ist das eine klare Ansage: Jetzt ist Kürzen angesagt und ggf. Auslagerung des nächsten Gedankens in einen eigenen Tweet.

Es ist auch eine große Wohltat, dass Twitter technisch minimalistisch ist und einen nicht mit allen möglichen Zusatzfunktionen zuballert wie ein klassisches Blogsystem. Wer Zusatzfunktionen will, muss ein ganz klein wenig zur Programmiererin werden. Die Twittergemeinde schafft sich ihre Werkzeuge selbst, hier kann man Kulturevolution im Fruchtfliegentempo beobachten. Tweets kategorisieren? #Raute vor ein Wort im Text. Benutzerin verlinken? @ vor den Namen. Lange Sätze posten? Abk. verw., notf. exz. Link mit langem URL posten? Bemühe einen Adresskürzdienst. Die Adresskürzdienste, deren einzige Daseinsberechtigung ursprünglich so weit ich weiß in den Unzulänglichkeiten bestimmter E-Mail-Programme bestand, haben durch Twitter eine Blütezeit sondergleichen erfahren. Jede bessere Website rollt ihren eigenen, ich persönlich mag aber u.nu am liebsten, weil der die URLs wirklich so kurz wie technisch möglich macht, das auf wunderbar bogus-informationstheoretische Weise erklärt und einmal klanglich sehr gut zu einem meiner Tweets passte. Natürlich wandern auch andere technische Krücken sofort in das literarische Gerätearsenal, so werden Hashtags längst nicht mehr nur zur Kategorisierung verwendet, sondern auch, um nachgeschickte Einwortkommentare formal dem Genre entsprechen zu lassen, es vielleicht zu parodieren.

Gelegentlich weiß ich auch das Opulente zu schätzen, aber insgesamt bin ich ein großer Freund der reduzierten Form, das heißt in der Literatur der kurzen Form. Zugespitzt: Ja zu Gedichten, Szenen, Kurzgeschichten und Aphorismen, nein zu Gesängen, Dramen, Romanen und Essays. Dieser Appeal des Kurzen hat auch seine problematischen Seiten. Es liegt in meinem Wesen, alles zergliedern zu wollen, die Dinge einzeln abzuspeichern wie Schmetterlinge hinter Glas, zu atomisieren. Mit dem Erkennen und Spannen großer Bögen tu ich mich schwer.

Twitteratur kommt meinen so hübschen wie zweifelhaften Vorlieben daher entgegen. Gab es das eigentlich vor Twitter, dass etwas unter 141 Zeichen als eigenständiger literarischer Text gelten konnte? Es wurde versucht, aber meines Wissens nie die perfekte Form dafür gefunden. So etwas wie einen Aphorismus, ein Wortspiel (in Form eines Minimalbeispielsatzes) oder ein Ultrakurzgedicht auf eine Buchseite zu packen und sie ansonsten weiß zu lassen, wirkt prätenziös. Aphorismensammlungen wirken staubig und stickig. Listen finde ich okay, aber erst ab einer gewissen Länge, die Sofortveröffentlichung jeder neuen Schöpfung ausschließt. Blogeinträge leiden darunter, eine Überschrift haben zu wollen, die dann in den meisten Blogdesigns mehr Bildschirmfläche bedeckt als der Text – und überhaupt, bei Kurztexten wirken Überschriften eher störend, sie müssen unter Verrenkungen dazuerfunden werden.

Twitter hat das Layoutproblem gut gelöst; der jeweils neueste Tweet auf einer Mitgliedsseite erscheint in großer Serifenschrift, der Rest in normalgroßer serifenlosen. Entscheidend finde ich, wie Twitter als Literaturplattform das Prätenziositätsproblem löst: dadurch, dass es nicht nur eine Literaturplattform ist, sondern vor allem eine Kommunikations- (banale Statusmeldungen) und Nachrichtenverteilungsplattform (Schlagzeile + Link). Die Grenze zwischen banalen Tweets und denen, denen ich literarischen Wert würde zusprechen wollen, ist fließend. Die Technik macht auch da keinen Unterschied: Jeder Tweet kriegt seinen URL und seine Zeitleistenposition. Die ideale Mischung aus Normalität und Präsentierteller. Die Perlen glitzern zwischen den Kieselsteinen und das Glitzern liegt im Auge des Betrachters.

Sick of Sickbashing

Dass Sprachblogger Anatol Stefanowitsch in seinem neuesten Beitrag mehrere Aussagen von Bastian Sick zitiert und ihnen ohne jede Kritik zustimmt, Sick aber trotzdem in eine Reihe mit den Sprachnörglern vom „Verein Deutsche Sprache“ stellt und ihn sogar als „Chefnörgler“ bezeichnet, als wäre das eine allgemein ausgemachte Tatsache, bringt bei mir ein Fass zum Überlaufen. Ich habe Sicks Kolumnen zur deutschen Sprache oft als langweilig, gekünstelt und uninformiert empfunden, jedoch nie als wertend oder gar präskriptiv. Meine Geduld mit der immer aufs Neue wiederholten und nie begründeten Abstempelung Sicks als Nörgler, Pedant, Schulmeister, Sprachbremse (Tippfehler bemerkt und stehengelassen) und Feind kreativen Sprachgebrauchs geht daher allmählich zu Ende.

Das Sick’sche Frühwerk ging aus seiner Tätigkeit als Korrektor bei Spiegel Online hervor. Gewisse Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler sowie sprachliche und stilistische Unsauberkeiten kamen bei den Redakteuren dort wohl häufiger vor, sodass Sick begann, Memos zu solchen Fehlerquellen zu verschicken. Niemand wird bestreiten wollen, dass es für ein Presseerzeugnis normal und zu begrüßen ist, dass eine „kontrollierte Sprache“ gepflegt wird, die leicht zu verstehen ist, mit Innovation geizt und sich ganz bestimmten stilistischen und grammatischen Konventionen unterwirft. Sicks Unterfangen war also dankenswert und seine Memos glänzten wohl durch zwei besondere Qualitäten: Erstens stellte er vorhandene sprachliche Normen und sprachgeschichtliche Zusammenhänge leicht verständlich dar, zweitens tat er das auf humorvolle, kreative, formenreiche Weise. Auf diese Weise ließen sich die Spiegel-Online-Mitarbeiter wohl so gern korrigieren, dass die Memos in Form der Kolumne Zwiebelfisch irgendwann das Licht der Öffentlichkeit erblickten.

Als Zwiebelfisch-Leser früher Stunden und mittlerweile studierter Linguist verstehe ich überhaupt nicht, wie Stefanowitsch und viele andere Stimmen, die ich so höre, zu der Einschätzung kommen, Sick sei ein Pedant und Verfechter unbedingt regelkonformen Sprachgebrauchs. Er verfasst ja keine Regelwerke wie Wolf Schneider oder erzürnte Pressemitteilungen wie der VDS, sondern Kolumnen, humorvolle und oft vor Ironie strotzende Kurztexte, die sich Fragen des Sprachgebrauchs von verschiedenen Seiten annehmen. Er klamüsert Zweifelsfälle auseinander, erklärt, was verwirrt und was Sprachkritiker stört und gibt sicherlich pointierte, aber selten unqualifiziert schulmeisterliche Empfehlungen ab. Wenn wirklich einmal abgehobene und alltagsuntaugliche Klugscheißerei den Inhalt einer Kolumne bestreiten soll, übernimmt die Figur „mein Freund Henry“, der in mehreren Kolumnen auftritt, diesen Part. Der Zwiebelfisch ist keine Doktrin, er ist Infotainment.

Dessen Qualität im Laufe der Jahre deutlich abgenommen hat, das muss man natürlich sagen. Dass Sick es nicht geschafft hat, den Witz und die thematische Relevanz seiner frühen Memos in einer regelmäßigen Kolumne zu bewahren, ist keine Schande. Schon etwas schändlicher ist es, dass er trotzdem nicht aufgehört hat und seinen ursprünglich unerwarteten kommerziellen Erfolg wohl auf Teufel komm raus möglichst vollständig ausschlachten will. So entstanden Privatfernsehmonstrositäten wie die „größte Deutschstunde der Welt“, Bühnenauftritte ohne Bühnentalent, Buchveröffentlichungen mit stetig nachlassender Qualität, gekünstelte Witzigkeit und verstohlener Ideenklau. Man vergleiche z.B. zwei Zwiebelfische zum Thema starke und schwache Verben, Die Sauna ist angeschalten von 2005 und Heute schon gekrischen? von 2008. Dasselbe Thema, in beiden Fällen zahlreiche gestorkene Verben von der Website der Gesellschaft zur Stärkung der Verben übernommen, nur in dem einen Fall mit Quellenangabe und in dem anderen Fall ohne, worüber wir uns erbosten. Zusätzlich ist der frühe Artikel informativ und man lernt was, im späten wird nur rumgeclownt und hingerotzt.

Sick ist also ein Fall für den freundschaftlichen Rat, es gut sein zu lassen, den Setzkasten zuzuklappen und sich journalistisch oder literarisch verdienstvolleren Tätigkeiten zuzuwenden als dem Fortschreiben einer überlebten Kolumne. Wer indes für einen vernunftgeleiteten Diskurs über Sprache in der Öffentlichkeit eintreten will, hat wenig Grund, ausgerechnet Sick zu bashen. Für die böse Fratze des Sprachnörglers bzw. den Heiligenschein des Sprachretters ist er lediglich Projektionsfläche.